In Bern hat «1968» 1955 begonnen

Seit den frühen fünfziger Jahren treffen sich am Stammtisch des «Wilden Manns» (heute Ryfflihof) hochgesinnte Erforscher der «Volkskultur», aus der allein, wie ihnen scheint, der modernen Gesellschaft Rettung aus Vermassung und industriellem Fortschrittswahn erwachsen könne. Mehrere von ihnen sind Anhänger des 1930 in Muri gestorbenen österreichischen Kulturpsychologen Rudolf Maria Holzapfel. Weil dessen Hauptwerk «Panideal» heisst, nennen sie sich Panidealisten. 

Einer von ihnen ist Fritz Jean Begert, ein Reformpädagoge, der den Panidealismus seit vielen Jahren mit dem bernischen Schulsystem zu versöhnen versucht. Wenn er im «Wilden Mann» beim Rotwein das Wort ergreift, ist er unwiderstehlich. Anfang 1955 schlägt er seinen Kollegen vor, ihren Stammtischtreffen einen formelleren Rahmen zu geben, Programme festzulegen und in breiterem Kreis schriftlich einzuladen. Die Kollegen sind begeistert. Für den 16. März 1955 wird eine erste Einladung verschickt: Begert liest aus seinen Manuskripten.

Kerzenkreis: Hohe Ideale

Der entstehende Zirkel nennt sich «Kerzenkreis». In Vorträgen und Lesungen vor ein, zwei, manchmal drei Dutzend Hörern und Hörerinnen stellt man sich von nun an jeden Mittwochabend in den Dienst hoher Ideale; die einen mit eigenen literarischen Arbeiten, die zweiten durch vielfältige Exegese der panidealistischen Lehre, die dritten durch Darstellung der Ergebnisse ihrer «Volkskultur»-Forschungen.

Um Begert schart sich schnell eine Gruppe von begeisterungsfähigen Jugendlichen. Der junge Kaufmann Walter Zürcher geht ihm bei den administrativen Arbeiten zur Hand; andere erproben sich als Referenten über Gott und Welt. Der eifrigste von ihnen ist ein Mitarbeiter der Stadtbibliothek, der sich intensiv mit «Volkskultur» und Zivilisationskritik beschäftigt: Sergius Golowin.

Als Begert 1956 eine Lehrerstelle im Berner Oberland annimmt, wird Walter Zürcher sein Nachfolger und führt den Kreis in Begerts Sinn bis 1966 mit unermüdlichem Eifer weiter. Bis dahin finden ungefähr 450 Veranstaltungen statt: Lesungen, Vorträge, Rezitationen, Ausflüge, Ausstellungs- und Theaterbesuche.

Tägelleist: Der dritte Weg

1957/58 spaltet sich der Kerzenkreis nach einem monatelangen Streit, der sich zwar an Begerts Person entzündet, aber vor allem auch ein Männerhahnenkampf um den Führungsanspruch im Kreis ist. Anfang 1958 kommt es zum Bruch. Eine Gruppe um Golowin und den Kulturjournalisten René Neuenschwander gründet einen neuen Zirkel: Aus «Kerze» wird «Tägel» (eine Öllampe), aus «Kreis» wird «Leist».

Der Tägelleist verwirft die durchgeistigte panidealistische Weltsicht, in der der Kerzenkreis befangen bleibt, und begibt sich auf die Suche nach dem «dritten Weg zwischen konformistisch-spiessigem Konservativismus und absurd-abstrakter Neuerungssucht», wie Niklaus von Steiger, Tägelleistler und Bankbeamter, 1959 schreibt. Die hauptsächlichen Betätigungsfelder der Gruppe werden die Reformpädagogik – das Privatschulprojekt des Ernährungsreformers Rudolf Müller im Schloss Vallamand am Murtensee wird nach Kräften unterstützt – und die Literatur.

Im Sommer 1958 gründet der Tägelleist eine eigene, vierteljährlich erscheinende Zeitschrift, den «SINWEL», der später in «Botti» und schliesslich in «Berner Versuche» umgetauft wird. Inhaltlich soll der SINWEL «geistiges Kampfblatt», aber trotzdem «völlig unpolitisch» sein (von Steiger, 1959). Bis zum Frühling 1963 erscheinen insgesamt 21 Hefte. Obschon es im Tägelleist fast gleich viele Frauen wie Männer gibt, ist die Meinungsäusserung im SINWEL Männersache. Frauen sind im Zirkel willkommen als beifallspendendes Publikum und rhetorisch verehrt als «Huldinnen».

Im Frühjahr 1959 lancieren Golowin und von Steiger den «Sinwel»-Verlag, der nun kontinuierlich Tägelleist-Lyrik und -Prosa zu veröffentlichen beginnt. Der Verlag wird kurz darauf vom Tägelleistler und Buchhändler Maurus Klopfenstein übernommen. 1960 konstituiert sich die literarische Fraktion des Tägelleists als «Arena FIERTAS», ein «Diskussionspodium für neue Dichtung», das sich auch «Neue Mitte» nennt. Die Arena steht gleichermassen gegen «jeglichen Fortschritt ‘à tout prix’» und die «festeingesessenen Literaturbonzen» wie für «jenes Ewige, das hinter den Dingen erahnbar wird» (Golowin, 1962).

Junkere 37: Literarisches Laboratorium

1963 übernimmt der Tägelleist den Keller an der Junkerngasse 37. Den Mietvertrag unterschreiben der Kunstmaler Franz Gertsch, Golowin, von Steiger und und der Lehrer Zeno Zürcher. Nach Gertschs baldigem Rückzug wird zusätzlich Heidi Ramseier wichtige Mitorganisatorin. Der erste, im «Anzeiger» öffentlich angezeigte Abend der «Junkere 37» findet am 5. Februar 1964 statt. Golowin schreibt in der Einladung: «Wir brauchen ein «Literarisches Laboratorium», wo man sich unverbindlich begegnet und voneinander lernen kann. Eine Kultur entsteht schliesslich aus dem Zusammenspiel aller schöpferischen Möglichkeiten, nicht aus der Abkapselung, Inzucht von ästhetischen Zirkeln».

In der ersten Zeit setzt man sich an den Junkere-Diskussionsabenden vor allem mit literarischen Fragen auseinander. Einander gegenüber stehen dabei immer wieder ein traditionalistisches und ein experimentelles Literaturverständnis: Landigeist gegen Avantgarde. Ein solches Streitgespräch wird in den Münsinger «Tages-Nachrichten» so kommentiert: «Bald gilt nur noch das verkrüppelte Wort dessen, der die Welt als stinkendes Bschüttloch und die Menschheit als im Morast dahinsiechende Mistviehherde schildert.» Solche Argumentationen gegen die Literatur der jungen Modernen weisen unübersehbar voraus auf den «Zürcher Literaturstreit» (ab Dezember 1966), der in die Literaturgeschichte eingeht.

Dieser Streit um Literaturbegriffe setzt sich im Politischen als ideologischer fort zwischen jenen, die mit «geistiger Landesverteidigung» den Kampf an der Heimatfront im herrschenden Kalten Krieg führen und jenen, die sich emanzipieren wollen von staatlich verordneten Dogmen und Tabus. 1964/65 beginnt sich auf politischer Ebene eine Opposition zu artikulieren, die zunehmend Goldene Kälber der Innenpolitik zur Diskussion stellt. Diese Opposition wird vor allem von Lehrern, Pfarrern und Journalisten repräsentiert, die meisten Feierabendschriftsteller, in aller Regel Männer. Sie stellen – vorab in der Monatszeitschrift «neutralität» – Landesverteidigung und Militärverweigerung, Strafvollzug und Schulsystem, Kirchen und Parteienfilz in Frage. Sie heissen Peter Bichsel, Roman Brodmann, Alfred Rasser, Arthur Villard oder Paul Ignaz Vogel. In der Öffentlichkeit nennt man sie «Nonkonformisten». Für die offizielle Schweiz sind sie negativistische Nestbeschmutzer, für den Kommunisten Franz Keller «Intellektuelle mit einem Linksdrall, die sich politisch enragieren, aber in keiner Partei engagieren», wie er in der Junkere-Einladung zu seiner «Typologie des Nonkonformismus» schreibt (September 1966).

Notorischer Kommunismusverdacht

In Bern, wo sowohl die sozialdemokratische «Tagwacht» wie der freisinnige «Bund» gegen den Nonkonformismus wettern, wird die Junkere 37 ab 1964 zu seiner einzigen öffentlichen Stimme. Schnell wird der Diskussionskeller deshalb zum politisch unbequemen Forum: Am 7. Mai 1965 hält zum Beispiel der führende PdAler Konrad Farner als Kunsthistoriker einen Vortrag über «Das Management der Kunst». Eine Woche später eröffnet die Bundesanwaltschaft die Junkere 37-Fiche. Im Herbst 1965 bekämpfen die Junkere-Leute das kantonale «Asozialengesetz». Drei Wochen nach der Abstimmung, Mitte Oktober 1965, versucht die kantonale Polizeidirektion dem Zürcher Schriftsteller und Nonkonformisten Walter M. Diggelmann einen Junkere-Auftritt zu verbieten, weil er kein Hausiererpatent habe etc.

«Die Ideologie der Junkere besteht darin, dass ihr alle Ideologien recht sind» («National-Zeitung», August 1966). Das heisst auch, dass im damaligen Bern der Versuch, eine Öffentlichkeit im bürgerlich-liberalen Sinn herzustellen (allen Ideologien zum Meinungsstreit überhaupt Raum zu geben), nur im «Untergrund» eines nonkonformistischen Diskussionskellers Platz hat. In der Öffentlichkeit gibt es damals nur eine Weltanschauung und die belegt noch den zahmsten Reformvorschlag mit notorischem Kommunismusverdacht und macht ihn so zur staatsbedrohenden Aktion. 

In der Junkere 37 haben nicht nur alle Ideologien, sondern auch die Menschen, die sie vertreten, Platz. Hier wird eine offene Gesprächskultur gepflegt, an der sich auch Leute ohne akademische Bildung, Rocker, Gammler und Hippies, Jenische, Militärverweigerer und Bergbauern aktiv beteiligen. Hier geht es gleichermassen um APO, Okkultismus und antiautoritäre Erziehung, um sexuelle Revolution, Drogenerfahrungen und Heidenhäuser im Emmental. Seit 1967 publiziert der Junkere-Kreis überdies das «politerarische Aperiodikum APERO» (gedruckt vom ehemaligen Kerzenkreis-Leiter Walter Zürcher), das mit «Polit-Lyrik», «Modern mundart» und «Agitprop-Dichtung» über Bern hinaus die geistig Wohlstandsverfetteten schreckt. Der Diskussionskeller wird auf Ende April 1970 gekündigt. Bis dahin haben knapp 300 Junkere-Veranstaltungen stattgefunden.

Im September 1970 öffnet an der Münstergasse 14 eine zweite «Junkere 37». Hier werden noch einmal über 200 Veranstaltungen durchgeführt. Allerdings verliert der Diskussionskeller an Bedeutung: Der Nonkonformismus ist von den 68er Ereignissen hinweggefegt worden, seine reformerische Diskussionsbereitschaft ist durch die dekretierende revolutionäre Rhetorik der Neuen Linken ersetzt worden. Die neue Junkere hebt nach und nach ab in die Esoterik, wird zum Insider-Clübchen und stirbt 1975 einen stillen Tod.

Begert in der Reitschule

Und was hat dies alles mit «1968» zu tun? «1968» steht nicht nur für den Aufstand einer politisch radikalen Avantgarde gegen die ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnisse (der hierzulande weitgehend Theorie und folgenlos geblieben ist). «1968» steht auch für den Bruch mit gesellschaftlichen Normen (Ehe, Kleinfamilie, Karriere) und für den Versuch, auszusteigen und alternative Lebensformen zu leben. Diese beiden Seiten von «1968» trafen in verschiedenen Ländern und Städten auf ganz verschiedene lokale kulturelle und politische Voraussetzungen. In Bern haben zu diesen Voraussetzungen der Nonkonformismus und die seit 1955 gepflegte Diskussionskultur in den Altstadtkellern gehört.

Für die legitimen Kinder von «1968» (von denen später viele den langen Weg gehen über die Karriereleitern der Institutionen), sind dies freilich illegitime Wurzeln ihrer eigenen Geschichte, die sie deshalb mit dem Bannspruch des «Reformismus» belegt und ignoriert haben. Trotzdem sind es in Bern Kerzenkreis und Tägelleist gewesen, die der Berner Subkultur die ersten öffentlichen Räume erkämpft haben. Sie haben sich als basisdemokratische Non-Profit-Strukturen unabhängig zu organisieren und den «herrschaftsfreien Diskurs» einzuüben versucht, lange bevor dieser dann vom Philosophen Jürgen Habermas für die Neue Linke erfunden wurde. Diese Bemühungen der Berner Diskussionszirkel sind nach 1968 zentrale Anliegen der Alternativkultur und der Selbstverwaltungsbewegung geworden.

Wäre Begert heute in Bern, sässe er wohl häufig in der Reitschulbeiz «Sous le pont» beim «Boxer»-Bier, und wenn er erzählen würde, wären die Freaks und Kids und Punks von ihm und seinen hochfliegenden Plänen begeistert. Aber Begert ist tot. Er starb Ende 1984 im Armenhaus von Romainmôtier (VD).

Im «Bund» trug der Text den Titel: «In Bern hat ‘1968’ am 16. März 1955 begonnen». – Eine von Michèle Freiburghaus hergestellte und von mir autorisierte Fassung dieses Textes erschien im Bärn!Magazin Nr. 4/2017 unter meinem ursprünglichen Titel «In Bern hat ‘1968’ 1955 begonnen».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5