Gutes Leben oder gerechte Gesellschaft?

«Die kapitalistisch-geldorientiert-bürokratisch-imperialistisch-mittelklassenbestimmt-langweilig-ausbeuterisch-militaristische Weltstruktur zerbröckelt», hat im Februar 1968 in New York «The East Village Other» geschrieben.[1] Die Zeitung der Rebellierenden schien recht zu bekommen: Studentenaufstände in den USA, in Frankreich, Westdeutschland, Japan, Italien, England, Holland, Dänemark. Als in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai in Frankreich die grosse Revolte beginnt, ist der Berner Arzt und Schriftsteller Walter Vogt in Paris. Er schreibt: «Sicher ist (für mich), dass in Paris etwas völlig Neues entstanden ist: eine ganze numerisch nicht einmal unbedeutende (wenn auch kaum abschätzbare) Gruppe vorwiegend junger Menschen, die sich gegen nichts mehr und nichts weniger wendet als gegen die Société de Consommation.»[2] Am 31. Mai spielt Jimi Hendrix im Zürcher Hallenstadion. Im Anschluss an sein Konzert kommt es zu Ausschreitungen der Ordnungshüter des Establishments gegen die jugendlichen KonzertbesucherInnen; in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni ist Zürich dann Schauplatz des grossen Krawalls um das autonome Jugendzentrum im Globus-Provisorium.

1968 ist nicht aus dem Nichts entstanden. «Was heurig machtvoll auftrat, hatte sich in Wahrheit seit mehr als 15 Jahren mit dem Auftreten der Beats, Gammler, Provos und Hippies gründlich vorbereitet», schreibt Walter Hollstein.[3] Und auch der studentische Protest gärte über Jahre und artikulierte sich in den USA und in Europa immer wieder in drei Hauptpunkten: erstens am amerikanischen Vietnam-Engagement, zweitens an den unterdrückten Reformen der überalterten Universitätsstrukturen und drittens am Fehlen einer nennenswerten gesellschaftlichen Opposition: In Frankreich herrschte der Gaullismus, in Westdeutschland eine grosse Koalition von SPD und CDU, in den USA unterschied sich die Programmatik von Demokraten und Republikanern nicht wesentlich[4] – und in der Schweiz regierten die unheimlichen Patrioten mit der Zauberformel.

Träume von verschiedenen Revolutionen

Damals hat der in der Länggasse aufgewachsene Schriftsteller Paul Nizon in einem Aufsatz beschrieben, wogegen in der Schweiz der Kampf zu führen wäre: gegen «den Druck eines nachgerade erdrückend engen Wertsystems», gegen «die Macht der ‘Vergottung unseres schweizerischen Lebenswegs’» und gegen «das Malaise der Zukunftslosigkeit». Er diagnostizierte die «Mauer einer Gesinnung, die jede Veränderung ablehnt, die den Status quo (also 1848) als Ewigkeitswert deklariert, die Vergangenheit aufsockelt; die es als Wert ansieht, sich aus der Geschichte herauszuhalten und auszuklammern, stolz ist auf Unveränderlichkeit; Mauern, in welchen Dünkel und Intoleranz wachsen – nebst den Allüren und Charakteristika eines Herrenvolkes.» Aus Hunger «nach Welt und Historizität» bleibe dem Intellektuellen nichts als auszuwandern oder sich zu engagieren «für eine Ideologie im Weltmassstab (da er zu verzwergen fürchtet, jedenfalls seine Überflüssigkeit leid ist)».[5]

Nicht auszuwandern gedachte dagegen Sergius Golowin, damals «spiritus rector» der «Junkere 37», wie auf der Staatsschutzfiche des nonkonformistischen Diskussionskellers an der Junkerngasse nachzulesen ist. Wenn es heute «im Bernbiet wie anderswo» jugendliche Proteste gebe gegen «landesübliche Kleidertrachten und Haarlängen, altväterischen Partei-, Vorstand- und Stammtischbetrieb», schrieb er, so müsse das interpretiert werden als «immer folgerichtigere, bewusstere Ablehnung erstarrter Schlacken und Zwecklügen aus der Vergangenheit», mit denen man Barrikaden errichte gegen jede neue Bestrebung – Barrikaden allerdings, «hinter denen langsam das Gespenst einer längst fälligen Kulturrevolution aufsteigt».[6]

Auch in Bern wurde also damals von Revolution geredet, allerdings verstand man Unterschiedliches darunter: Während Golowin – in Bern der wichtigste Vermittler von sagenhafter Volks- und internationaler Hippiekultur – von einer Revolutionierung des Überbaus, der Werte und Normen, der Einstellungen zu Kultur und Geschichte; Arbeit, Natur und Sexualität sprach, diskutierten andere anhand des dialektischen Materialismus die Revolutionierung der politisch-ökonomischen Basis der Gesellschaft. Die einen wollten mit Tabubrüchen einen gesellschaftlichen Wertewandel provozieren (damals gab es kein Frauenstimmrecht, ein Schüler mit schulterlangen Haaren riskierte den Schulausschluss und ein kinderwagenschiebender Mann galt als lächerlich); die anderen wälzten Theorien und stiegen von der Uni in die Stadt hinunter auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt, das bloss noch zum Bewusstsein seiner objektiven, welthistorischen Mission zu bringen wäre. An der Universität plante man so die Revolutionierung des Systems, im Umfeld der «Junkere 37» die Revolutionierung der Lebenswelt – und gegenseitig hielt man voneinander nicht eben viel.

Nonkonformistische Aufklärung

Zum Beispiel am 23. April 1968 hätte es sich gelohnt, in den «Junkere»-Keller hinunterzusteigen. Zur Diskussion stand die «Lage der Administrativ-Versorgten im Bernbiet» im allgemeinen und das eben erschienene «Sachbuch in Romanform»[7] von Ernst P. Gerber mit dem Titel «Geranien für St. Jean». Gerber hatte zuvor zwei Jahre lang als Verwaltungsbeamter in St. Johannsen gearbeitet und kritisierte nun die übliche Administrativversorgung von sogenannten Asozialen, Müssiggängern, Liederlichen, Vaganten und Landstreichern.[8] An der Diskussion teilnehmen sollten neben Gerber und seinem Verleger Egon Ammann vom (1972 eingegangenen) «kandelaber»-Verlag der kantonale Polizeidirektor Robert Bauder (FdP) und die Gemeinderäte Klaus Schädelin (Junges Bern), Kurt Schweizer (SP) und Hans Martin Sutermeister (LdU).

Eingeleitet wurde dieser Abend jedoch durch eine Demonstration: Der Junkere-Aktivist Hans «Yeti» Stamm, den die «National-Zeitung» bei anderer Gelegenheit als «Berns Hippie-Papst» bezeichnet hat[9], hatte eine Demobewilligung eingeholt, um zusammen mit Gleichgesinnten von der Kleinen Schanze bis in die Junkerngasse hinunter auf den Missstand der Administrativjustiz hinweisen zu können. Die Demo wurde bewilligt, allerdings mit der Auflage, es sei «geschlossen in Zweierkolonne rechts zu marschieren».[10] Und selbstverständlich war ein Spitzel anwesend, der zuhanden der «Junkere»-Staatschutzfiche rapportierte: «Als die ca. 35-40 ‘langhaarigen’ Demonstranten nach einem Protestzug durch die Stadt beim Diskussionskeller eintrafen, war der Keller schon von Zuhörern überfüllt und bot ihnen keinen Platz mehr. Es folgten einige Radauszenen.»[11] In der Tat stand das Publikum nicht nur im Raum und auf der Treppe, auch oben in der Gasse versuchte man, um den Einstieg versammelt, noch etwas mitzukriegen.

In der Sache hat die berichterstattende bürgerliche Presse natürlich den Regierungsvertretern recht gegeben.[12] Trotzdem: Der «Bund» schrieb damals, zwar sei der Abend nicht sehr ergiebig gewesen, aber Gerbers Roman sei als «erschütternde Anklage gegen Berns Anstaltselend» zu bezeichnen. Er klage eine Gesellschaft an, «die nicht fähig scheint, den Aussenseiter zu ertragen und schon gar nicht, ihn zu integrieren». Dieser Nebensatz wurde genau drei Wochen nach der Ermordung des schwarzen Geistlichen und Bürgerrechtsaktivisten Martin Luther King (4. April) und vierzehn Tage nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke, den prominentesten Sprecher der deutschen Studentenbewegung (11. April) publiziert.

Am 26. April referierte der Schriftsteller Walther Kauer in der «Junkere» über die «Revolution in der pluralistischen Gesellschaft oder Das Wollen der ausserparlamentarischen Opposition. Versuch einer Analyse». Am 3. Mai stellte Zeno Zürcher die Frage: «Wie betreibe ich journalistische Schindludereien?» und analysierte die Meinungsmanipulation am Beispiel der Zeitungsberichterstattung über den Administrativjustiz-Abend. Am 17. Mai fragte der marxistische Psychologe Franz Keller: «Progressiv oder pubertär? Zur Psychologie der revolutionären Jugend»; am 24. Mai sprach Golowin über «Die Heimatlosen in der Schweiz»; am 31. Mai der jugendliche Aktivist Martin Schwander über die progressiven Mittelschüler, die er selber mitbegründet hatte; am 7. Juni sprach Paul Ignaz Vogel, Redaktor der wichigsten nonkonformistischen Zeitschrift, «neutralität», über den «Kanton Jura» und eine Woche später Peter Bichsel zum «Thema Schweiz». An diesem Abend sagte Bichsel: «Ich habe Angst davor, dass die Schweiz jenes Land werden könnte, das mit dem Soldaten zu vergleichen ist, der plötzlich feststellt, dass er als einziger noch im Schritt marschiert.»[13]

Vietcong-Fahne auf dem Münster

Während die «Junkere 37»-Szene Treffpunkt für gesellschaftlich Randständige und ein Podium des schweizerischen Nonkonformismus war, der mit leisem bildungsbürgerlichem Dünkel Aufklärung betrieb, ging es an der Universität um den Versuch, im engeren Sinn politisch Einfluss zu nehmen. Bereits im Sommer 1965 wurde die «Vereinigung progressive Hochschule» gegründet und als Zweck der Gründung die «innere und äussere Demokratisierung der Universität» postuliert.[14]  Am 18. November 1966 folgte die Gründung des «forum politicum», das sich einen bedeutend weiter gefassten Zweckartikel gab: Das «forum» bestehe «aus Studenten der Universität Bern, die im Sinne einer fortschrittlichen und aufgeschlossenen Weltanschauung Lösungen zu politischen Fragen aus allen Bereichen suchen wollen.» Erster Präsident wird Martin Rothenbühler, erster Sekretär der gegenwärtige Nationalratspräsident Ernst Leuenberger (SP).

Der erste öffentliche Auftritt des «forums» schafft es gleich auf die Titelseite des «Blick». Am Samstag, den 26. November 1966, folgen Studenten, junge Sozialdemokraten und einige PdA’ler seinem Aufruf und versammeln sich mit brennenden Fackeln auf dem Münsterplatz, um unter dem Motto «USA, get out of Vietnam!» zu demonstrieren. In einer kurzen Ansprache weist SP-Grossrat Marcel Schwander auf die US-amerikanischen Verbrechen in Vietnam hin und stellt klar: «Es stimmt nicht, dass in Vietnam die westliche ‘Freiheit’ verteidigt wird.»[15] Erst als auf dem Münsterplatz ungefähr vierzig farbentragende Studenten – Helveter, Burgunder und Rhenaner[16] – auftauchen und für ihre Gegenkundgebung das Wort verlangen, wird den «forum»-Leuten klar, dass ihre erste öffentliche Aktion, am «Dies academicus» durchgeführt, als Provokation verstanden wurde. Der «Blick»-Reporter schrieb: «Nach weiteren couleurstudentischen Störmanövern trat einer der bemützten Rädelsführer vor seine Anhänger und schrie: ‘Den Grossrat Schwander sollte man erschiessen!’»[17] Es kam zu Tätlichkeiten. Als die Polizei schliesslich zögerlich eingriff, zogen die Verbindungsstudenten mit dem Cantus «Burschen heraus!» ab, «leider wieder von deplacierten Schmähungen seitens gewisser Demonstranten verfolgt», wie ein bemerkenswert parteiischer «Bund»-Journalist stänkerte.[18]

In der Folge profilierte sich das «forum politicum» mit Demonstrationen, Veranstaltungen und mit autonomen Seminaren: «Ein wichtiges Thema war zum Beispiel die autoritäre Persönlichkeit, wie sie Adorno und Horkheimer beschrieben haben, da ist uns eine Welt aufgegangen: die Person, die gegen unten tritt, weil sie gegen oben autoritär fixiert ist», erinnert sich Martin Rothenbühler.[19]

Eine der spektakulärsten Aktionen die das «forum» mitorganisierte, war das Teach-in, Walk-in und Sit-in zum Vietnamtag vom 22. Juni 1968. Zuerst wurde am Freitagabend in der Aula der Universität ein Teach-in abgehalten, das mit Referaten, Diskussionen und Filmen die aktuelle Situation in Indochina thematisierte. In der Nacht zum Samstag sorgte Marc Rudin und ein Alpinistenkollege für die wohl spektakulärste Tat, die das Jahr 1968 in Bern aufzuweisen hat: In verwegener Kletterei, die von der Polizei gar als «alpinistische Meisterleistung» bezeichnet wurde, befestigten die beiden an der Turmspitze des Münsters die blau-rote Fahne mit den goldenen Sternen der «Nationalen Befreiungsfront Südvietnams».[20] Am Samstagnachmittag folgte dann als Walk-in die Demonstration, an der, wie das «Berner Tagblatt» festhielt, «neben den oppositionellen Studenten […] – schätzungsweise zu gleichen Teilen – auch farbenprächtige Beatniks, Jungsozialisten, aktive Mitglieder der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA), Italiener und wohl auch zahlreiche ‘Berufsjugendliche’» teilgenommen haben sollen. Auf der Hirschengrabenkreuzung (vor den damaligen Redaktionsräumen des «Bund») und vor dem Radiostudio Bern kam es schliesslich zu zwei Sit-ins, mit denen gegen die einseitig pro-amerikanische Medienberichterstattung protestiert wurde.

Linke Grüppchenmetamorphosen

1969 wird für die AktivistInnen an der Universität ein grosses Jahr: Die Demonstration gegen die Diktatur des faschistischen Obristenregimes in Griechenland (19. April), die Demo gegen militärische und polizeiliche Unterdrückung (31. Mai) und jene gegen den Schweizbesuch des US-amerikanischen Generals William Westmoreland (13. September) sind Ereignisse, die weit über Bern hinaus wahrgenommen werden. Das «forum politicum» wird im April 1969 zur «Dachorganisation der Berner Linken» erhoben, Peter Vollmer wird neuer Präsident. 1970 sind (zumindest) folgende Gruppen unter dem Dach des Forums versammelt: Die Arbeitsgruppe Jugenddelinquenz, die Basisgruppe Universität, die Berner antiautoritären Militanten, die Gruppe 3. Welt, die Gruppe sozialistische Politik, die Pazifistische Linke, die Progressiven Mittelschüler, die Sozialdemokratische Hochschulgruppe und die Revolutionäre Sozialistische Bewegung, durch deren Engagement im Bereich der Lehrlingspolitik die Gründung von Gruppierungen wie «Schinagu», «Hydra» oder «Octopus» befördert wird. Die Zeit ist schnellebig: Der Begriff «forum politicum» gerät ausser Gebrauch, die Gruppen verselbständigen sich, gehen ein, formieren sich neu. Es entstehen die «Sozialistischen Studenten Bern», Anfang 1973 die Unigruppe der POCH, der Progressiven Organisationen der Schweiz, im Herbst des gleichen Jahrs jene der Revolutionären Marxistischen Liga (RML), der späteren Schweizerischen Arbeiterpartei (SAP), die schliesslich mit Teilen der POCH und Parteilosen im «Grünen Bündnis» aufgegangen ist. In Abgrenzung zu POCH. RML und PdA, die sich Mitte der siebziger Jahre für einige Zeit zur «Berner Konferenz» formieren, ensteht als überregionaler Zusammenschluss von maoistischen, anarchosyndikalistischen und Spontigruppierungen die «Bümplizer Konferenz». Die Abgrenzungskämpfe zwischen den Gruppen und Grüppchen wurden zwischendurch wichtiger als der Klassenkampf.

Das Ende der Junkere 37

Am 30. April 1970 hat der 295. und letzte Abend an der Junkerngasse 37 stattgefunden: Der Besitzer hat Eigenbedarf angemeldet und den Kellerraum gekündigt. Dieser letzte Abend wird als «Junkere»-Kehraus und «Hexensabbat» unter dem Motto «Hippie-End» angesagt. Der Filmemacher und BZ-Feuilletonchef Bernhard Giger, damals regelmässiger «Junkere»-Gänger, schwärmte noch Jahre später: «Diese Nacht wurde zur Legende […]: beinahe jeder, der sein Herz einmal in der ‘Junkere’ liegengelassen hatte, war gekommen; wie sie aber alle dort unten Platz fanden, das ist schon ein Rätsel. […] In jener Nacht waren alle beseelt von einem Glauben an eine andere, schönere Welt, ein verrückter utopischer Gedanke löste den anderen ab, die Welt wurde zu einem unbeschriebenen Blatt, das nach wunderbaren Zeichen verlangte…»[21]

Im August 1970 können die Aktivisten den Keller an der Münstergasse 14 mieten. Dort aufersteht am 18. September 1970 die «Junkere» mit der 296. Veranstaltung neu. Das launige Motto des Abends lautet: «Braucht Bern die Junkere 37 – braucht die Junkere 37 Bern?» An diesem Abend diskutiert ein Aktivist mit, der damals zusammen mit Golowin den «linken Landesring in Bern»[22] bildet und später Kopf der «Demokratischen Alternative» und noch später der «Grünen Partei» der Stadt Bern wird: Luzius Theiler.

In der Folgezeit wird die neue «Junkere» Treffpunkt der «Bärg- und Stärnelütli» einer tiefgrünen AussteigerInnenszene mit esoterischer Neugierde. Als das «Junkere»-Podium 1975 endgültig geschlossen wird, ist es längst nicht mehr im Brennpunkt des gesellschaftspolitischen Interesses. Immerhin erhält es im «Friiblettli» einen Nachruf: «Das, worüber man, wenn es in Moskau oder Kalifornien stattfindet, Schlagzeilen macht, fand hier täglich statt. Junge Dichter trugen dem Volke der Altstadt, Handwerkern, Jenischen ihre Werke vor und vernahmen von ihnen dafür alte Geschichten über Erfahrungen der Vergangenheit. […] In der Umklammerung wachsender Büropaläste durften wir damit das zeitlose Geheimnis einer vedischen menschlichen Gemeinschaft miterleben. Heute sind die meisten der tätigen Junkere-Leute, 110 von ca. 140, aus der Stadt weggezogen. Sie alle leben aber in Landkommunen, Künstlergruppen, Siedlungen, in alten Bauernhäusern und Berghütten oder Zigeunerwagen den gemeinsamen Geist der Junkere, also auch Berns, d. h. einer Gemeinschaft, die es in allen Sorgen des Alltags nie vergisst, nach dem geistigen Mittelpunkt zu suchen.»[23]

Aber was ist mit der Revolution?

«Die ganze damalige Subkultur» hat Peter Vollmer rückblickend gesagt, sei zwar «ebenfalls eine Form der Rebellion» gewesen: «Aber leider politisch unwirksam.»[24] Man kann sich gut vorstellen, dass ein ehemaliger «Junkere»-Gänger genau das gleiche gesagt hätte über die damals etwas elitären und etwas vorlauten Schulbuben von der Uni. Die Forderung nach der gerechten Gesellschaftsordnung und jene nach dem guten Leben fanden keine gemeinsame politische Praxis.

Vielleicht auch ein bisschen darum ist 1968 weder die sozialistisch gerechte Gesellschaft von der Grossen Schanze herab durchgesetzt worden, noch ist eine «‘counter-society’, eine demokratisch-sozialistische Gegengesellschaft innerhalb der bestehenden kapitalistischen Sozietät»[25] aus dem «Junkere»-Keller heraufgewachsen. Weder die Revolutionierung der Lebenswelt noch des Systems hat stattgefunden. Das gute Leben und die gerechte Gesellschaft sind, auch für die Nachgeborenen, Forderung geblieben. Aber viele sind damals aufgebrochen und einige tragen bis heute ihre Utopie weiter. Auch in Bern.

[1] Nach: Walter Hollstein: Der Untergrund, Neuwied/Berlin (Luchterhand) 19702, 8.

[2] Walter Vogt: Tourist in Paris, in: neutralität, 6/1968.

[3] Hollstein, a.a.O., 8.

[4] Argumentation nach: SUB/GKEW [Hrsg]: Universität Bern. Festschrift aus Unbehagen. Von der sauberen zur gesäuberten Uni, Bern 1976, 20.

[5] Paul Nizon: Der Schriftsteller und die Macht, neutralität, 2/1968, 40 ff. – Nizon hat seine Kritik 1970, bezogen auf die in der Schweiz arbeitenden schweizerischen Künstler, im grossen Essay «Diskurs in der Enge» breit ausgeführt. 1977 ist er nach Paris ausgewandert.

[6] Sergius Golowin: Beispiel Bern, «neutralität,» 6/1968, 35 ff.

[7] Tages-Anzeiger, 25.5.1968.

[8] Seit dem 1. Januar 1966 war das kantonale «Gesetz über Erziehungs- und Versorgungsmassnahmen» (GEV) in Kraft, das unter anderem die Einweisung in «Erziehungs- oder Arbeitsanstalten» für jene arbeitsfähigen Personen vorsah, die «sich oder ihre Angehörigen fortgesetzt durch Müssiggang, Arbeitsscheu, Liederlichkeit, unsittlichen Lebenswandel, Alkohol- oder Rauschgiftmissbrauch sittlich, gesundheitlich oder ökonomisch ernstlich gefährden oder dadurch öffentlich Ärgernis erregen» (GEV Art. 21). Im Abstimmungskampf hatten öffentlich einzig die Aktivisten der Junkere 37 gegen das Gesetz Stellung genommen. Es war am 3. Oktober 1965 mit knapp 33 800 zu 16 000 Stimmen angenommen worden.

[9] National-Zeitung, 3.2.1969.

[10] Apero. Politerarisches Aperiodikum Nr. 4 (Juli 1968), 4.

[11] Fiche der «Junkere 37», 6.

[12] Bund, 24. + 25.4.1868; Neue Berner Zeitung, 26.4.1968.

[13] Tages-Nachrichten, 18.6.1968.

[14] SUB/GKEW [Hrsg.] a.a.O., 20.

[15] Tagwacht, 28.11.1966.

[16] SUB/GKEW [Hrsg.] a.a.O., 22.

[17] Blick, 28.11.1966.

[18] Bund, 28.11.1966.

[19] Martin Rothenbühler, mündlich, 23.3.1998.

[20] Berner Tagblatt, 24.6.1968.

[21] Urs Dickerhof/Bernhard Giger: Tatort Bern, Bern (Zytglogge) 1976, 176.

[22] Luzius Theiler: Linker Landesring in Bern, in: neutralität 2/1970.

[23] Friiblettli, 15/1975.

[24] Peter Vollmer, in: Patrick Feuz: «1968 glaubten wir, die Wahrheit zu kennen», Bund, 15.5.1993.

[25] Walter Hollstein: Die Gegengesellschaft, Bonn (Verlag Neue Gesellschaft), 1979, 65.

Dieser Aufsatz ist in einer gekürzten Version ohne Fussnoten nachgedruckt worden in: Berner Zeitung, 20.5.1998. Dort trug er den Titel: «Die Fahnen der Revolte über Bern».

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