Das Paradox der Erziehung

Es gibt ein Märchen der Gebrüder Grimm, das baut in vier Sätzen eine pädagogische Welt: «Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und liess es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und Erde über es hingedeckt war, kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da musste die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.»

Von der Disziplinierung der fahrenden Schüler zu Beginn der Neuzeit über August Hermann Franckes Dressur zu «christlicher Lindigkeit und Liebe» durch Zucht, Strafe und Gottesfurcht, von Jean-Jacques Rousseaus Postulierung der Manipulation als Erziehung («Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, die den Schein der Freiheit wahrt.») über den weiterherum gescheiterten Heinrich Pestalozzi, dessen Pädagogik so chaotisch war wie seine Lebensführung, bis zur Paukschule von Johann Friedrich Herbart oder zur Folterapparatepädagogik von Daniel Gottlob Schreber: Die Kinderunterdrückung der letzten fünfhundert Jahre ist geprägt worden von Heroen einer schwarzen Pädagogik. Als Wissenschaft war sie personalistisch, wertkonservativ, jederzeit ordnungskonform und verstand sich als unabhängig von allen politisch-sozialen Bezügen. Treffend definierte Fritz Mauthner in seinem «Wörterbuch der Philosophie» 1910 das Stichwort «Schule»: «Alle Reformatoren der Pädagogik glaubten, die Kinder lieb zu haben; aber alle waren sie ruchlose Weltverbesserer, ruchlose Optimisten, welche die Kinder irgend einer Zucht unterwarfen, die Schule zum Zuchthaus machten, um der Zukunft willen, um einer Utopie willen, um der Kinder Land nach ihrer eigenen Phantasie zu gestalten.»

Wer sich gegen diese Art der Erziehung als «pädagogischer Verschwörung» stellt, deren Zweck die Produktion des «Untertans Kind» ist (Carl-Heinz Mallet, in: Klemm 1992, 71ff), hat zwei Wege offen: Entweder Kinder anders oder aber gar nicht zu «erziehen». Der erste Weg ist seit hundertfünfzig Jahren immer wieder begangen worden, der zweite seit 1975 unter dem Stichwort «Antipädagogik». Wer Kinder anders erziehen will, hat wiederum zu entscheiden, ob das Kind, grob gesagt, zuallererst zum autonomen oder zum Kollektivsubjekt erzogen werden soll. Entsprechend ergibt sich eine «Pädagogik vom Kinde aus» oder eine «Pädagogik von der Klasse aus».

Pädagogiken «vom Kinde aus» sind die bürgerliche Reformpädagogik (Ende des 19. Jahrhunderts bis in die dreissiger Jahre) und die aus den anarchistischen Theorien des letzten Jahrhunderts schöpfende «libertäre Pädagogik». Beiden gemeinsam sind zwei Axiome: «Das Bild vom autonomen und selbstverantwortlichen Menschen sowie das menschliche Streben nach Gemeinschaft, Solidarität und ‘gegenseitiger Hilfe’» (Klemm, 1995, 118). Während jedoch für die Reformpädagogik die damalige Kulturkritik zentral ist (die Wandervogelbewegung so gut wie Ellen Keys Buch «Das Jahrhundert des Kindes» [1900]) und für sie, vor allem in Deutschland, nationale, völkische und antidemokratische Motive wichtig werden, ist die libertäre Pädagogik radikaldemokratisch, antiklerikal und antietatistisch. Neben Leo Tolstoi und Michael Bakunin hat vor allem der spanische Anarchist Francisco Ferrer mit seiner «Escuela Moderna» und dem darin praktizierten «rationalen Schulkonzept» die Grundsätze libertärer Bildung und Erziehung formuliert (Klemm 1995, 94ff).

Von diesen Pädagogikansätzen, die «vom Kinde aus» denken, klar zu unterscheiden sind jene, die die gesellschaftliche Identität, die Klassenzugehörigkeit des Zöglings ins Zentrum stellen: Hierzu gehören die verschiedenen Richtungen der sozialistischen Pädagogik. Während es frühsozialistische Theoretiker (z. B. Charles Fourier mit seiner «éducation industrielle») noch für möglich hielten, eine Veränderung der Gesellschaft über Bildung und Erziehung herbeizuführen, postulierte Edwin Hoernle, kommunistischer Theoretiker der sozialistischen Pädagogik in der Weimarer Republik: «Keine Schulrevolution ohne die politische und wirtschaftliche Revolution, aber umgekehrt auch: Die politische und ökonomische Revolution wird unendlich erschwert und verzögert werden, wenn das Proletariat nicht begreift, dass die Schule ein wichtiges Machtmittel ist in der Hand der herrschenden Klasse.» Neben diesem sozialistischen Schulkampf, der als Teil des Klassenkampfs verstanden worden ist, verfolgte die bis 1933 in die Regierung eingebundene Sozialdemokratische Partei mit dem «Bund entschiedener Schulreformer» um Paul Oestreich die Verbesserung der Schulen innerhalb der bestehenden Republik: «Sozialisieren ohne sozialen Geist, ohne soziale Ethik, ohne sozialen Glutwillen ist ein Schlagwort für eine dürre Mechanisierung, für ein Sichselbstüberschlagen kapitalistischer Methoden. Der soziale Mensch ist das Thema der Erziehung» (nach Klemm 1995, 132).

Genau in der Mitte zwischen den Pädagogiken «vom Kinde aus» und jenen «von der Klasse aus» situiert sich die «Antiautoritäre Erziehung», die, aufs Engste mit der theoretischen Konzeption Studentenbewegung jener Jahre verbunden, ihre Blütezeit zwischen 1967 und 1971 hatte. Der antiautoritären Erziehung liberaler Prägung, für die Alexander S. Neills Arbeit über seine 1921 in Summerhill gegründete Schule unter dem Titel «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung» (mit einem Vorwort von Erich Fromm) ab 1969 zum Kultbuch wurde, geht es zentral um individuelle Befreiung. Neill: «Ich sehe meine Aufgabe nicht in erster Linie in der Änderung der Gesellschaft, sondern darin, wenigstens einige Kinder glücklich zu machen.» Anders die sozialistische Variante der antiautoritären Erziehung. Ihr ging es darum, den «bürgerlichen Individualismus durch Kollektiverziehung [zu] überwinden», wie 1971 der Zentralrat der sozialistischen Kinderläden in West-Berlin formulierte (vgl. «Kinderläden. Revolution der Erziehung oder Erziehung zur Revolution?» rororo aktuell, 1971; Lutz von Werder: «Von der antiautoritären zur proletarischen Erziehung. Frankfurt a. M., 1972).

Ob antiautoritäre, libertäre oder Reformpädagogik «vom Kinde aus» oder aber antiautoritäre, sozialdemokratisch-reformerische oder sozialistische Pädagogik «von der Klasse aus» – alle Ansätze fussen auf dem gleichen Paradox. Allen geht es – auch wenn über Ziel und Weg heftig gestritten wurde – zwar um die Emanzipation des Kindes von inneren und äusseren Zwängen. Aber eben: Entweder ist ein Erziehungsprozess emanzipativ, dann kann seine Offenheit nicht durch pädagogisch vorgegebene Ziele eingegrenzt werden; oder aber er setzt sich Autonomie oder die revolutionierte Gesellschaft als Ziel, und dann ist der Erziehungsprozess in letzter Konsequenz nicht mehr offen. Eine «konsequente Emanzipation der Jugend», so bringt der Sozialpädagoge Heinrich Kupffer dieses Paradox auf den Begriff, überhole jede «bewusste und geplante Erziehung zur Emanzipation» (in: Klemm 1992, 85ff).

Mit seiner Streitschrift «Antipädagogik» griff Ekkehard von Braunmühl 1975 das tabuisierte Macht- und Herrschaftsverhältnis, das jeglicher erzieherischer Interaktion zugrunde liegt, frontal an: «Ob man Menschen, kurz gesagt, zum Gehorsam oder zum Ungehorsam manipuliert, macht unter dem Gesichtspunkt der ernstgenommenen Selbstbestimmung nicht den geringsten Unterschied.» Beide Male werde faktisch eine «Erziehungsdiktatur» errichtet, die davon ausgehe, «dass man der nächsten Generation verbindliche Ziele setzen dürfe und müsse». Jede Erziehung sei ihrem Wesen nach intolerant, misstrauisch, totalitär und ziele auf die «Entselbstung» des Zöglings.

Deshalb lehnt von Braunmühl jedes System der Erziehung grundsätzlich ab, und zwar nicht nur im Bereich der Schulen, sondern auch im Elternhaus. Er fordert die Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen und eine neue Beziehungsethik, deren Grundlage die realisierten Menschenrechte für Kinder sein sollen. Statt das Erziehungsobjekt Säugling allmählich zu einem irgendwie erzogenen Subjekt manipulieren zu wollen, sei davon auszugehen, dass bereits ein Säugling Wahrnehmungs- und Kommunikationskompetenz besitze und von Anfang an zur Selbstbestimmung fähig sei. Es gehe einzig darum, dem Kind dazu die Möglichkeit zu geben: «In dem Masse aber, in dem das Kind auf diese Weise lernt, kann die Mutter und die übrige Umgebung ihren Gehorsam relativieren, kann zunehmend trotzig werden, zunehmend mitbestimmen, und sich defensiv, nach dem Notwehrprinzip (statt aggressiv-pädagogisch) verweigern und gegen Übergriffe verteidigen, sodass das Kind natürlich auch Widerstände erlebt und ein realistisches Selbstwertgefühl entwickelt» (von Braunmühl, in: Klemm 1992, 90ff).

Neben von Braunmühl hat vor allem Hubertus von Schoenebeck die Diskussion um die Antipädagogik vorangetrieben. 1978 trat er in Münster mit seinem Förderkreis «Freundschaft mit Kindern» an die Öffentlichkeit, die theoretische Postulate der Antipädagogik mit den politischen Forderungen der Kinderrechtsbewegung und psychodynamischen Erkenntnissen zusammenführen wollte. Daraus erst könne eine antipädagogische Lebensphilosophie konzipiert werden, die einen «erziehungsfreien Alltag» mit «postpädagogischer Qualität» ermögliche: «Dies bedeutet insbesondere eine klare Absage an jegliches Expertentum über die zwischenmenschliche Beziehung:  Niemand kann den anderen zu Recht sagen, wie sie sich verhalten sollen, jeder spricht für sich.»

Zwar impliziert eine solche Antipädagogik eine radikale Institutionenkritik – und überschneidet sich hier mit Postulaten des Anarchismus und der Antipsychiatrie – vor allem der antiinstitutionellen Psychiatrie Franco Basaglias –, aber weil sie nicht zuletzt die zu Ende gedachte «Pädagogik vom Kinde aus» ist, spielt für sie die politische Orientierung eine untergeordnete Rolle. Deshalb ist in den letzten Jahren in Deutschland versucht worden, neben der «etablierten» die Theorie einer «libertären Antipädagogik» zu formulieren: Ausgehend von Ekkehard von Braunmühls Postulat, jede Erziehung sei staatserhaltend, wird Antipädagogik mit seiner Erziehungs-, Ideologie- und Institutionenkritik als Ansatz zur Konstruktion einer neuen libertären Bildungskonzeption gesehen.

Seit Ende der siebziger Jahre haben sich in Westdeutschland zwei Diskussionslinien entwickelt, die konsquent aus der Antipädagogik folgen: jene um die Kinderrechte im allgemeinen und jene um die Schulverweigerung im speziellen. Aus beiden Diskussionen heraus sind sich politische Aktivitäten entstanden: Einerseits versuchte die Kinderrechtsbewegung mit dem «Deutschen Kindermanifest» (1981) und dem «Kinder-Doppelbeschluss» (1984), über den demokratisch-parlamentarischen Rechtsweg die Rechte auf Gleichheit, freie Entfaltung, rechtliche Verantwortung und rechtliches Gehör für Kinder in die öffentliche Diskussion zu bringen; andererseits kam es 1989 zu einem bemerkenswerten Urteil vor einem bayrischen Amtsgericht: Ein wegen Verletzung der Schulpflicht ihres Kindes angeklagtes Ehepaar wurde mit der Begründung freigesprochen, bei der Abwägung habe die verfassungsmässige Normierung der allgemeinen Schulpflicht hinter jene der verschiedenen Elternpflichten zurückzutreten. Dieser Entscheid ist aber bis heute der einzige Erfolg geblieben; die öffentliche Diskussion um die Kinderrechte ist heute weitgehend eingeschlafen. Ulrich Klemm resümiert: «Die Geschichte des Engagements um die Rechte der Kinder ist die Geschichte einer Niederlage.» (in: Stern 1995, 44)

Pädagogik ist ein unverzichtbares Instrument der Aufklärung gewesen, «linke» Pädagogik spielte deshalb seither in allen emanzipativen Bewegungen eine bedeutende Rolle. Ihre Geschichte ist Teil der Geschichte der Linken. Wenn ihre Experimente und Modelle, ihre Varianten und Tendenzen, die Erfahrungen des Scheiterns und Gelingens nicht verdrängt, vergessen und «akademisiert» werden sollen, muss sie gründlicher aufgearbeitet und neu bereitgestellt werden: Dieses Wissen wird noch gebraucht werden.

Ulrich Klemm: Libertäre Pädagogik. Die pädagogische Rezeption des modernen Anarchismus und das Problem der Freiheit. Hamburg (Verlag A. Schöppe) 1995.

Ulrich Klemm [Hrsg.]: Quellen und Dokumente der Antipädagogik. Frankfurt am Main (dipa-Verlag) 1992.

Bertrand Stern [Hrsg.]: Kinderrechte. Zwischen Resignation und Vision. Zweite und erweiterte Aufl., Ulm und Münster (Verlag Klemm & Oelschläger) 1995.

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