Zeit, den Journalismus neu zu erfinden

Das Interesse war gross: Rund hundert Leute strömten am Nachmittag des 30. November ins Museum für Kommunikation in Bern. Bei ihrer Begrüssung bezeichnete die Direktorin Jacqueline Strauss als Gastgeberin nicht nur ihre Institution, die sich im Umbau befindet, sondern auch den Journalismus als «Baustelle». Wer die anschliessenden Referate mitverfolgte, musste zugeben: Allerdings.

Inputs kamen von Diego Yanez, dem Direktor der Schweizer Journalistenschule MAZ; von Hansi Voigt, dem Ex-Chefredaktor von 20 Minuten online und watson.ch; von Romano Strebel, Gründer von Ron Orp und von Otfried Jarren, Professor für Medien & Politik in Zürich sowie Präsident der Eidgenössischen Medienkommission. Am anschliessenden Podiumsgespräch nahmen neben Yanez und Voigt Bettina Nyffeler, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bundesamts für Kommunikation und Sandra Manca, Bereichsleiterin SRF News Online teil. Moderiert wurde das Symposium von Brian Ruchti (Newsroom Communication).

Kutschenbauer erfinden keine Autos

Die Ausgangsfrage – nämlich ob Online-Journalismus Fast-Food oder Journalismus 2.0 sei – wurde von niemandem explizit beantwortet. Aber fasst man die verschiedenen Hinweise in den Statements zusammen, lautet die Antwort: Sowohl als auch. Aber – zumindest im jetzigen Übergangszeitalter der «Digital Converts» – braucht es noch sehr viel Fast-Food, um ab und zu Journalismus 2.0 zu ermöglichen.

Im Zentrum der Ausführungen standen medienpolitische und ökonomische Fragen. Einig war man sich, dass das Geschäftsmodell der gedruckten Medien vor dem Kollaps steht. Einig war man sich deshalb auch, dass gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit in Zukunft nicht mehr auf Papier, sondern auf der Basis von Online-Medien hergestellt werden wird. Wie genau, weiss niemand, weil auch im Online-Journalismus das Geschäftsmodell noch nicht erfunden ist, das Leute mit Geld aus pekuniären Gründen dazu verleiten könnte, in diese Branche zu investieren.

Ein Begriff, der an diesem Nachmittag verschiedentlich fiel: «Mediendisruption». Was heute abgeht, ist keine Entwicklung, kein schneller Wandel, es ist eine mediale Revolution. Voigt erinnerte lakonisch daran, dass seinerzeit keiner der grossen Kutschenbauer den Sprung zum Automobilhersteller geschafft habe. Was er damit insinuierte: Voraussichtlich wird keiner der heutigen Zeitungsverlage für die Online-Öffentlichkeit der «Digital Natives» noch eine Rolle spielen.

Journalismus: Fremdblick oder Geschäft?

Wenn  man an diesem Nachmittag genauer hinhörte, gab es dann doch immer wieder Hinweise, was diese disruptive Zeit für den Journalismus bedeutet. Dabei gab es zwei Stimmen, die an den Journalismus des 20. Jahrhunderts erinnerten und zwei, die daran erinnerten, dass das 20. Jahrhundert vorbei ist.

Diego Yanez fand eine einfache Formel, indem er sagte, guter Online-Journalismus sei in erster Linie guter Journalismus: kompetent, relevant, kritisch, fair und attraktiv. In der Diskussion fügte er fast entschuldigend bei, dass sich insbesondere ältere JournalistInnen heute halt schon noch oft sehr «inhaltsorientiert bewegen» würden: «Es gibt viele, die möglichst wenig mit Medienökonomie, Wissenmodellen oder disruptiven Entwicklungen zu tun haben wollen.» Ottfried Jarren führte aus, dass mit dem Aufkommen des Handys Mensch und Maschine eine immer engere Beziehung zueinander entwickelt hätten. Das Handy werde nicht mehr als etwas Fremdes, sondern als Teil des Eigenen betrachtet. Dagegen stehe Journalismus «für die Fremdperspektive». Für «Digital Natives» stelle sich die Frage: «Journalismus warnt und kritisiert – möchte ich das haben? Das stört meinen Alltag, mein Lebensgefühl.» Deshalb werde Journalismus abgelehnt und sicher nicht noch bezahlt.

Radikal praxisorientiert argumentierten die beiden Macher unter den Referenten: Hansi Voigt postulierte die Postpublisher-Ära. Heute gehe es um «Content» und «Community», es gehe darum, «Inhalte zum Interesse» zu bringen. Das grösste Problem sei die Entlöhnung der Inhalte. Geld werde über Klicks erwirtschaftet. Ein Artikel, der zwei, drei Tage Arbeit erfordert habe, generiere aber nicht mehr Klicks als zum Beispiel eine Katzen-Diashow. Deshalb liege es nahe, dass man solche Shows veröffentliche, um journalistische Beiträge quersubventionieren zu können: «Wir haben bei watson jeden Scheiss gemacht, der Klicks brachte – gerade im Katzencontent-Bereich.» Noch einen Schritt weiter ging Romano Strebel, als er die Ertragsmodelle von Ron Orp vorstellte. Es gehe darum, mit der eigenen Kompetenz externe Blogs und «Corporate Media-Systeme» aufzubauen und so Geld zu verdienen, damit der eigene Kanal unabhängig arbeiten könne: «Journalisten, Leute, die sich mit Content beschäftigen, müssen heute eine völlig freie, offene, nicht irgendwie Weltbild-zementierte Haltung an den Tag legen, um auch Dinge möglich zu machen, die vielleicht nicht nur journalistisch, ethisch, moralisch vertretbar sind, sondern auch fürs Geschäft gut sein können.»

Was ich gelernt habe

Für mich als altgedienten Print-Journalisten, der sich nun für Journal B engagiert, war das Symposium sehr lehrreich. Zwei Fragenkomplexe haben sich für mich herauskristallisiert, die mich in nächster Zeit beschäftigen werden:

• Journal B ist ein kleines Pflänzchen, das seit fünf Jahren aus einer Bruchlinie dieses disruptiven Medienzeitalters spriesst. Wie andere Online-Medienportale krankt es daran, dass es nicht die Kapazität hat, kontinuierlich kreativ an dem mitzuarbeiten, was der Online-Journalismus der Zukunft werden könnte. Zurzeit ist Journal B eine der vielen Plattformen, die massgeblich von alternden Print-JournalistInnen getragen werden, die wissen, wo’s lang geht, aber den Weg ohne Rüstzeug gehen. Voigt sagt: «Das Spielenlassen ist das Wichtigste. Da kommst du zur Frage: Wie vermittelst du Inhalte? Das Faulste und Phantasieloseste ist es, etwas zu tippen.» Hier steht Journal B erst am Anfang, und auch dieser Beitrag ist kein Schritt nach vorne.

• Innert weniger Wochen ist nun in Bern zum zweiten Mal öffentlich festgestellt worden, dass das Geschäftsmodell der Printmedien vor dem Kollaps steht (siehe: «Sind Bund und BZ in fünf Jahren am Ende?»). Dass Zeitungsverlage keine Wohltätigkeitsvereine sind, ist bekannt. Dass sie sich aus einem Geschäftsfeld zurückziehen werden, das sie als unrettbar defizitär analysiert haben, ist deshalb aus ihrer Sicht nur vernünftig. (Die Rede von der vierten Gewalt war stets Schurni-Schwurbel, nicht Aktionärsnutzen-Diskurs.) Darum kann die «disruptive» Medienentwicklung auch auf dem Platz Bern plötzliche, massive Verwerfungen bringen.

Ganz egal, wie die Online-Plattform heisst und wer sie betreibt, die danach die Öffentlichkeit und damit die Selbstverständigung des fortschrittlichen politischen Bern garantiert – geben muss es sie. Wenn Journal B hierzu einen Beitrag leisten würde, wäre das schön.

Ich danke Sara Kurtovic für Kritik und Unterstützung.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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