Warum das «Galgenfeld» verschwunden ist

Zum Journal-B-Originalbeitrag.

2009 begannen die Bauarbeiten für das Schönberg Ost-Quartier, das heutzutage von mehr als tausend eher hablichen Leuten bewohnt wird. Auf dem Areal, das damals noch «Galgenfeld» hiess, arbeiteten eine Zeitlang auch Angestellte des Archäologischen Diensts des Kantons Bern. In einer Notgrabung legten sie die Richtstätte «untenaus» frei (es gab auch eine «obenaus»). Gefunden wurden neben Einzelgräbern zwei Gruben mit jeweils mehreren Skeletten von Hingerichteten. Das Alter der Knochen wurde mit der C14-Methode bestimmt: Sie stammen aus der Zeit zwischen 1160 und 1660. Im Dienst der aristokratischen Ruhe und Ordnung wurde hier also mindestens 500 Jahre lang gehängt und geköpft und ab und zu auch gevierteilt. Die jüngsten ausgegrabenen Knochen könnten von Bauernkriegern stammen, die 1653 hier hingerichtet worden sind.

Selten war auf dem Richtplatz auf dem Galgenfeld mehr Betrieb als im Spätsommer 1653. Fünf Jahre vorher ging der «Dreissigjährige Krieg» zu Ende, der den Stadtbernern Reichtum und den Leuten auf dem Land doch auch ein wenig Wohlstand gebracht hatte. Als das Geschäftsmodell «Neutral geschäften im Krieg» nicht mehr funktionierte, kam es zu Krise, Preiszerfall und Inflation. Am 2. Dezember 1652 wertete die Berner Obrigkeit die Kupferbatzen um fünfzig Prozent ab, ausser man tauschte sie innert dreier Tage in Gold- oder Silbermünzen um. Der grösste Teil der Landbevölkerung kriegte das nicht einmal mit und verlor die Hälfte des Vermögens. Es kam zu Protesten, später zum Krieg. Die Bauernarmee griff überraschend die Stadt an, liess sich aber auf Verhandlungen ein. Der Murifeldvertrag war das Papier nicht wert, auf dem er stand. Militärisch hatten die Bauern danach keine Chance. Ihre bernischen Anführer starben zum grossen Teil im Spätsommer 1653 «untenaus». 

Von Gunten-Strasse? Ich lese hier «Leuenberger-Strasse / Niklaus Leuenberger, 1615-1653, Bundesobmann». Leuenberger war Bauer in Rüderswil im Emmental. Am 23. April 1653 wurde er an einer Landsgemeinde in Sumiswald zum Bundesobmann der wachsenden Protestbewegung ernannt. Im Mai führte er die Berner Bauernarmee aufs Murifeld vor die Stadt. Anfang Juni kämpfte er mit ihr an der Reuss gegen die Zürcher, die die Aristokraten in Bern und Luzern unterstützen wollten. Leuenbergers Armee musste sich zurückziehen und wurde bei Herzogenbuchsee von anrückenden Berner Truppen zerschlagen. Kaum zuhause wurde Leuenberger von einem Nachbarn verraten, nach Bern geführt, zum Tod verurteilt und am 27. August «untenaus» geköpft und gevierteilt. Sein Kopf wurde samt dem Bundesbrief der Bauern an den Galgen genagelt, die vier Teile des Körpers an den vier Hauptstrassen aufgehängt, die in die Stadt führten.

Brechbühlerstrasse? Ich lese hier «Galli-Strasse / Ueli Galli, 1589-1653, Bauernführer». Galli war Bauer auf dem Giebel ob Eggiwil und begrüsste an der Landsgemeinde in Sumiswald zusammen mit Leuenberger die weit über tausend Anwesenden. Er bleib in den nächsten Wochen einer der wichtigsten Köpfe der Bauern. Ende September wurde er in der Nähe seines Hofes verhaftet und als «Erzrebell und erster Ursächer» nach Bern geführt. Um von dem 65jährigen ein vollständiges Geständnis zu erhalten, setzte man ihn fachmännisch der «nothwendigen Marter» aus: Er wurde «an seinen auf dem Rücken zusammengebundenen Handgelenken ‘läär ufziechen’».  Am 25. Oktober verurteilte ihn aus dem Richtstuhl bei der Kreuzgasse der Grossweibel – irgendein von Wattenwyl – zum Tod: Er sei auf den Richtplatz untenaus zu führen, wo man ihn «mit dem Strang vom Leben zu todt hinrichten sölle.» 

Das habliche Schönberg-Ost-Quartier weist weitere Strassennamen von ganz gewiss verdienstvollen Architekten auf, die im Dienst ihres Verdiensts auch der Stadt Bern gedient haben, wenn diese branchenüblich bezahlte. Aber klar ist: 

• Statt Salvisberg-Strasse lese ich «Brenner-Strasse / Hans Konrad Brenner, Unbekannt-1653, Bundesschreiber und Notar». Brenner wurde am 25. Oktober 1653 untenaus geköpft.

• Statt Weissweg lese ich «Glanzmann-Weg / Lienhart Glanzmann, Unbekannt-1653, Wirt in Ranflüh und Hauptmann der Bauernarmee». Glanzmann wurde am 28. Juni 1653 untenaus geköpft.

• Statt Rüfenachtweg lese ich «Spring-Weg / Bendicht Spring, Unbekannt-1653, Meyer von Schüpfen». Spring wurde am 27. August 1653 untenaus geköpft.

• Statt Beyelerweg lese ich «Küpfer-Weg / Daniel Küpfer, Unbekannt-1653, Schmied und Ammann von Höchstetten.» Küpfer wurde am 28. Juni 1653 untenaus geköpft.

• Statt Hostettlerweg lese ich «Wynistorf-Weg / Christen Wynistorf, Unbekannt-1653, Ammann von Oberburg.» Wynistorf wurde am 28. Juni 1653 untenaus geköpft.

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Klar, wenn man sich erlaubt zu lesen, was nicht opportun war, geschrieben zu werden, gefällt das nicht allen Leuten. Wer wird den gleich öffentlich an den Richtplatz erinnern wollen, wenn er doch nun den Namen der Alibifrau im ausgewählten Benennungskonzept – Lux Guyer – trägt und heutzutage gleich nebenan eine Kindertagesstätte beheimatet ist? Übrigens trägt diese Kita den wirklich schönen Namen «bitzius»: Albert Bitzius war Bernburger und 1829/30 Vikar an der Heiliggeistkirche. Für die Stelle des zurücktretenden Pfarrers bewarb er sich, wurde aber nicht gewählt. Vielleicht auch deshalb, weil er ein politischer Agitator des Liberalismus war und sich zum Korporal der antiaristokratischen Bürgerwache hatte machen lassen. So erinnert man sich dieses Mannes heute in aller Regel unter dessen Pseudonym Jeremias Gotthelf, von dem als gesichert gelten darf, dass er immer weniger ein Revoluzzer gewesen ist.

In Kindertagesstätten verbringen übrigens Kinder ihre Tage. Kinder sind Menschen, die noch nicht wissen, was ein Geschichtsbild ist. Und wenn sie es dann später wissen, wissen sie nicht, wer oder was das ihrige geprägt hat. Sie sind sich bloss sicher: Ihre Kita lag am Guyerplatz, nicht am Richtplatz, und das wird sicher seine Richtigkeit haben.

Urs Hostettler: Der Rebell vom Eggiwil. Aufstand der Emmentaler 1653. Eine Reportage. Bern (Zytglogge) 1991 (zu den Prozessen und Hinrichtungen der Erwähnten siehe S. 622f., 651ff. und 676ff.).

Karl Fehr: Jeremias Gotthelf. Zürich (Büchergilde Gutenberg), 1954, S. 118ff.

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