Sollen Neuroleptika verboten werden?

Die Diskussion über die Neuroleptika als «umstrittenste Klasse der psychopharmakologischen Medikamente» hat in ihrer neusten Ausgabe auch die Zeitschrift der «Pro Mente Sana», «PMS aktuell» 3/1988, eröffnet. Darin abgedruckt ist ein umfangreicher Aufsatz des schwedischen Arztes und Wissenschaftlers Lars Martensson mit dem Titel: «Sollen Neuroleptika verboten werden?» Dieser Aufsatz ist in der schwedischen Öffentlichkeit auf grosses Echo gestossen; die psychiatrische Fachwelt hat geschwiegen. Psychiatriekritische Organisationen in den USA, in den übrigen skandinavischen Ländern, in der BRD und in der Westschweiz haben ihn mittlerweile übersetzt und weiterverbreitet.

Für Martensson ist das nun seit 1952 andauernde «Neuroleptika-Regime» eine «beispiellose Katastrophe der Psychiatriegeschichte»: «Die Nazis ermordeten ihre nutzlosen Leute. Wir lassen die Körper leben, während wir die Seelen töten», lautet die Schlussfolgerung seiner Ausführungen.

Neuroleptika (‘neuron’ / Nerv; ‘leptos’ / dünn, niedrig, abgeschwächt) bewirken ungefähr das, was der hirnchirurgische Eingriff der «Lobotomie» mittels Durchtrennung von Hirnteilen erreicht: Sie verhindern die Übertragung der Nervensignale von einer Hirnzelle zur nächsten. Dadurch wird das «limbische System» gedämpft, jener Hirnteil, der Gefühle, Wahrnehmungen, Funktionen im Körperinnern, die Sexualität, aber auch Willen, Intellekt und vorstellungsgelenktes Verhalten steuert. Als Nebenwirkungen der Neuroleptika nennt Peter Lehmann in seinem Buch «Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen» (1986): «90 Prozent aller Behandelten leiden unter atrophischen, d.h. eine Schrumpfung des Gehirns beinhaltenden Zuständen; 90 Prozent Bewegungsstörungen; 30 Prozent Fieberanfälle; bis zu 100 Prozent krankhafte EKG-Veränderungen; 50 Prozent Zahnfleischentzündungen, oft mit Zahnausfall verbunden; bei fortdauernder Behandlung 80 Prozent Lebererkrankungen; 40 Prozent Diabetes; 43 Prozent Fettleibigkeit; Sterilität, Ausbleiben der Menstruation, Impotenz; Farbstoffablagerungen im Auge und im Herzmuskel, signifikant erhöhte Anzahl von Chromosomenbrüchen und -rissen, die zu Mutationen führen; Einbusse der intellektuellen Fähigkeiten; seelische Abstumpfung, Willenlosigkeit, Verzweiflung, Verwirrtheit und Delir.» Dazu kommen erhöhte Risiken bei Krebs, Missgeburten und Selbstmord.

Neuroleptika bringen zwar kurzfristig die beängstigenden «psychotischen Symptome» bei den «Behandelten» zum Verschwinden, der Preis dafür aber ist verheerend: «Neuroleptika rauben – gleichgültig, wie medizinisch effektiv sie auf Symptome wirken – eine notwendige Bedingung für menschliches Wachsen und kreative Entfaltung.» Martensson fordert deshalb «ein gesetzliches Recht auf Psychopharmaka-freie Hilfe», «gesetzlichen Schutz untergebrachter Menschen gegen Angriffe auf das Gehirn» und «ein gesetzliches Verbot von Neuroleptika».

Neuroleptika werden aber nicht verboten:

1. Neuroleptika sind ein Geschäft. Alle grossen Pharmaproduzenten haben solche Produkte auf dem Markt, z. B. Melleril (Sandoz), Haldol (Janssen), Leponex und Entumin (Wander), Trilafon (Schering USA), Taractan (Roche), Serpasil (Ciba).

2. Neuroleptika sind ein wesentlicher Teil der Macht der Psychiatrie: «Zweifellos wird der Widerstand der Psychiatrie gegen die benötigte Veränderung masslos sein. Die Psychiatrie würde ihr wichtigstes Management- und Kontrollsystem verlieren.» (Martensson)

3. Ohne Neuroleptika wäre das Pflegepersonal, das dieses Gift in Kliniken oder ambulant verabreicht, unter den heutigen Bedingungen hoffnungslos überfordert. Im Editorial des erwähnten «PMS aktuell» schreibt Redaktor Urs Ruckstuhl: «Kritik wird glaubwürdig nur durch Menschen vermittelt, die bereit sind, unter den gegebenen Umständen ohne Medikamente mit Schizophrenen zu arbeiten, und die sind an einer Hand abzuzählen. Ich bin allerdings überzeugt: Würde man die Rahmen- und Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter radikal verbessern, es fänden sich mehr Menschen, die das Wagnis eingingen.»

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