Lutz greift ein

Vermutlich ist Benedikt Fontana ein ganz normaler Psychiater. Sein Pech ist, dass zwei seiner Fehler, die er als Arzt gemacht hat, nachweisbar und für die Diskussion um den versuchten Völkermord am fahrenden Volk in diesem Land relevant sind:

– Fontana hat nachweislich rufmörderisches Aktenmaterial über die Sippe Xenos in seine Dissertation verwurstet (vgl.WoZ 43/1988).

– Fontana hat als Hindelbanker Anstaltspsychiater durch die telefonische Verordnung eines Medikamenten-Coctails nachweislich und fahrlässig zum Tod der jordanischen Fahrenden Rasmieh Hussein beigetragen (vgl.WoZ 49/1988).

Leute wie Fontana sind gerade deshalb ein Thema, weil die Geschichte der Fahrenden in diesem Land offensichtlich mit einigen diskreten Bundesalmosen und dem ideologischen Totschlägerbegriff «Zeitgeist» erledigt werden soll. Das Schicksal der Schweizer Jenischen hat aber «Namen, Anschrift und Gesicht» (Brecht[1]), zum Beispiel Doktor Benedikt Fontana, Klinik Waldhaus, Chur.

a. o. Chefredaktor Fontana

Nachdem die «Bündner Zeitung» (BZ) unter dem Titel «Tod einer Zigeunerin durch ‘Cocktail’ von Churer Chefarzt» am 9. Dezember die Geschichte von Rasmieh Hussein übernommen hatte, kam Fontana unter öffentlichen Druck (WoZ 51-52/1988). Aus diesem Grund sprachen Walter Lutz und Adrian Leutenegger, Präsident und Vizepräsident des Bündner Ärztevereins, am 19. Dezember bei Hanspeter Lebrument vor, dem Direktor der Gasser AG (der Herausgeberin der BZ). Bei diesem «grundsätzlichen Gespräch» sagte der Direktor den beiden Doktoren die «Einstellung des Themas» zu, wie Präsident Lutz am 29. Dezember 1988 in einem Rundschreiben seinen «sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen» vermelden konnte. Darüberhinaus resultierte an diesem Gipfeltreffen «die von Dr. Benedikt Fontana genehmigte Klarstellung vom 31.12.1988 auf der Titelseite der BZ». Diese, vom ausserordentlichen Chefredaktor Fontana abgesegnete, mit «(bz)» für «Bündner Zeitung» gezeichnete «Klarstellung» hält fest, der Titel «Tod einer Zigeunerin durch ‘Cocktail’ von Churer Chefarzt» könne «zur falschen Schlussfolgerung führen, wonach es als erwiesen gelte, dass der Tod der Frau durch den Cocktail erfolgt sei». Fontana bestreitet demzufolge nicht, den Cocktail verordnet zu haben, er möchte lediglich festhalten, «dass die seinerzeitige Untersuchung des Todesfalles keine Schuldzuweisung gegenüber Dr. Fontana ergeben hat». Dummerweise stützte sich diese seinerzeitige Untersuchung auf ein medizinisch kaum haltbares Gutachten von Werner Straub.

In seinem Rundbrief kommentierte Lutz die «Klarstellung» wie folgt: «Damit schien uns viel mehr erreicht als mit einer öffentlichen Stellungnahme unsererseits im Leserbriefteil.» Nach diesem blauäugigen Bekenntnis zum Etikettenschwindel gibt Lutz zur weiteren Manipulation der Bündner Öffentlichkeit folgende Direktive: «In der jetzigen Situation erscheint uns eines wichtig: Es soll und muss wieder Ruhe einkehren! Die Presse ist nicht der Ort, medizinische Sachverhalte zu diskutieren und interkollegiale Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Nach allem, was gesagt und geschrieben worden ist, möchte ich Ihnen im Namen des Vorstands und in Absprache mit Dr. B. Fontana vorschlagen, in dieser Angelegenheit der Presse keine weitere Stellungnahmen, Entgegnungen und dergleichen zukommen zu lassen, um die Diskussion nicht ins Uferlose auszudehnen.»

Verschwörung im Bernbiet?

Wer die Verantwortung für die Fontana-Affäre trägt, ist für den Verschwörungstheoretiker Lutz klar: «Die Gruppierung um Frau Mariella Mehr, Frau Dr. med. /cand. iur. R. Morgenthaler-Jörin und Dr. med. Günter, Nationalrat, Interlaken.» Ruth Morgenthaler-Jörin, die in ihrer Kunstfehler-Dissertation die Vorfälle um den Tod von Rasmieh Hussein aufgearbeitet hat, hatte am 19. Dezember in einem Leserinbrief in der BZ gefordert: «Angesichts der nicht unerheblichen Vorwürfe gegenüber Dr. Fontana ist eine umfassende Untersuchung durch die Aufsichtsbehörde der Klinik dringlich und unumgänglich.» Vermutlich wegen dieser Forderung prüft der Ärzteverein nun, ob gegen sie «rechtliche Schritte einzuleiten sind».

Auch Paul Günter hat sich nach seiner Stellungnahme in der WoZ 49/1988 in der BZ noch einmal zu Wort gemeldet. In Bezug auf die Behandlung von Frau Hussein hält er am 27. Dezember daran fest, «dass es klinisch falsch ist, einen Asthmatiker mit Barbiturtaten zu behandeln»; an die Adresse des damaligen Gutachters Straub bemerkt er: «Und Gefälligkeitsgutachten soll es bei Medizinern auch schon gegeben haben.» Wegen dieser respektlosen Wahrheiten klärt der Ärzteverein nun ab, ob Günter wegen «seiner offensichtlichen Diskreditierung von Kollegen nicht vor den Ehrenrat der FMH [der nationalen Standesorganisation der Ärzteschaft, fl.] zu ziehen sei.»

Die «Einstellung des Themas» in der BZ erwies sich für den Ärzteverein als «nicht eingehaltenes Versprechen». Bereits am 27. Dezember war die Klinik Waldhaus wieder in den Schlagzeilen: Am Vortag waren in Chur 2000 von der Schriftstellerin Mariella Mehr unterzeichnete Flugblätter verteilt worden, auf dem 250 Bündner Familiennamen aufgeführt sind mit der Aufforderung, Leute mit diesen Namen sollten beim Kantonalen Sanitätsdepartement die ihre Familien betreffenden Akten aus dem erbbiologischen Archiv der Klinik Waldhaus herausfordern. Dieses Archiv war im letzten Sommer ins Bündner Staatsarchiv überführt und dort vom Kantonsarzt Mario Pajarola daraufhin gesichtet worden, ob durch dieses Material die Jenischen ein weiteres Mal diskriminiert würden. Pajarola fand heraus, dass dem nicht so sei: Die Stammbäume und anderen Belege beträfen vielmehr sehr viele Bündner Familien, unter denen die jenischen nur «eine wichtige Minderheit» seien.

Dem Sekretär des Sanitätsdepartements, Claudio Candinas, ist bis jetzt lediglich eine schriftliche Eingabe im Zusammenhang mit diesem Flugblatt bekannt. Sie werde, wie alle noch folgenden, vom Departement beantwortet werden, versichert er. Das Waldhauser Archiv sei übrigens aus dem Staatsarchiv wieder in die Klinik zurückgeführt worden, wo Doktor Fontana natürlich weiterhin Zugang habe (was diesen vorab in Bezug auf Aktenstücke, die seine umstrittene Dissertation betreffen, freuen wird). Der Bündner Sanitätsdirektor Luzi Bärtsch hat in einem Schreiben an Mariella Mehr bereits am 21. Dezember wie folgt beruhigt: «Ich werde Dr. med. Benedikt Fontana, obschon keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er dies beabsichtigt, ausdrücklich anweisen, keine Akten der Sippe Mehr zu beseitigen. Das von Ihnen verlangte Verbot gegenüber Dr. med. Fontana, Einsicht in Akten der Sippe Mehr zu nehmen, lässt sich hingegen mit der ihm übertragenen Aufgabe der ärztlichen Leitung der Psychiatrischen Klinik Waldhaus nicht vereinbaren.»

 [1] Das Zitat stammt aus Bertold Brechts «Kriegsfibel», in der der Autor Pressefotografien mit Vierzeilern kommentiert hat. Zu einer Fotografie, die von oben einen Berliner Innenhof nach einem alliierten Bombenangriff zeigt und eine schwarz gekleidete Frau, die im Schutt nach etwas zu suchen scheint, notiert Brecht: «Such nicht mehr, Frau: du wirst sie nicht mehr finden! / Doch auch das Schicksal, Frau, beschuldige nicht! / Die dunklen Mächte, Frau, die dich hier schinden / Sie haben Name, Anschrift und Gesicht.»

 

[Kasten]

Neue Untersuchung?

 

In einem Communiqué fordert die «Linke Alternative Chur» von der Bündner Regierung die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission mit ausserkantonalen Experten für den Tod der Rasmieh Hussein. Ausgeschlossen wären Experten aus dem Kanton Bern, weil dort 1977 die erste, ins Zwielicht geratene Untersuchung gemacht worden ist. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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