Zum Journal B-Originalbeitrag.
Über seinen Bericht zur Schlussveranstaltung der UEK am 2. September 2019 hat Journal B keck getitelt: «Ein Haus der anderen Schweiz? Ja, in Bümpliz!» Der Titel war ein Schuss ins Blaue, aber inspiriert von einer Empfehlung der Expertenkommission, die seit 2014 insbesondere die administrativen Versorgungen in der Schweiz zwischen 1930 und 1981 erforscht und in diesem Jahr ihre Ergebnisse im Zürcher Chronos Verlag in zehn Bänden vorgelegt hat.
Ein Ergebnis dieser Forschungen: In mindestens 648 «Einrichtungen» – von Zwangserziehungsanstalten über psychiatrische Kliniken bis zu Gefängnissen – sind im 20. Jahrhundert «mindestens 60'000» Personen ohne Gerichtsurteil, also administrativ, versorgt worden. Dazu ist zu sagen: Administrative Versorgungen waren nur eine der angewendeten «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen». Würde man Verding- und Heimkinder, Zwangsadoptierte und Zwangssterilisierte etc. dazurechnen, wäre die Zahl der Betroffenen sechsstellig.
Im nun vorliegenden «Schlussbericht» wird die UEK deutlich: In der repressiven Sozialpolitik spiegle sich der Wille der damaligen «politischen und gesellschaftlichen Eliten der Schweiz», «Massenarmut» im Griff zu halten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hätten sich deshalb die administrativen Versorgungen «zu einem vielseitig nutzbaren gesellschaftlichen Kontrollinstrument» entwickelt. Mit einem «Recht zweiter Klasse» habe man «Instrumente» geschaffen, «mit denen sich Konflikte bequem und oft kostengünstiger lösen liessen» (S.276). Es ist die Leistung der UEK, eine dunkle Seite der Geranienschweiz endlich offiziell auf den Punkt geschrieben zu haben.
Die Empfehlungen der ExpertInnen
Die UEK lässt es nicht mit den Forschungsergebnissen bewenden, sondern formuliert im Schlussabschnitt zuhanden von Politik und Öffentlichkeit «Empfehlungen» zur sozialen Rehabilitierung der betroffenen Personen und zur materiellen Wiedergutmachung des an ihnen begangenen Unrechts.
Unter anderem empfiehlt die UEK das «Projekt für ein Haus der anderen Schweiz». Es zielt darauf ab, «Erinnerung und Geschichte», Angebote für «staatsbürgerliches Engagement» sowie «Forschung, Bildung und kulturelle Aktivitäten» unter einem Dach «nachhaltig umzusetzen». Rechtsform: Ein Verein, eine Stiftung oder eine Genossenschaft, geleitet von «einem unabhängigen Kollegium, das sich grossmehrheitlich aus von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffenen Personen zusammensetzt».
Zum Standort des Hauses schreibt die UEK: «Das Haus der anderen Schweiz befindet sich in Bern. Dies hängt mit der gesamtschweizerischen Bedeutung der Bundesstadt, der Nähe zu den politischen Institutionen und zur Bundesverwaltung sowie mit der geografischen Lage von Bern zusammen.» (S. 383ff.)
Eine Motion im Berner Stadtrat
Auf diese UEK-Empfehlung am schnellsten reagiert haben Katharina Altas, Johannes Wartenweiler und Timur Akçasayar von der stadträtlichen SP-Fraktion. Am 17. Oktober reichten sie eine Motion für ein «Haus der anderen Schweiz» ein: «Es soll ein Kompetenzzentrum entstehen, in dem Ausstellungen, Vorträge, Podiumsdiskussionen stattfinden und Debatten ausgelöst werden über die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft des Rechts- und Sozialstaats ohne Ausgrenzung der Betroffenen.» Die Motion fordert den Gemeinderat auf, «eine geeignete Liegenschaft» zu finden, «eine Trägerschaft aufzubauen» und «ein Betriebskonzept auszuarbeiten».
Auch darauf, dass ein solches Haus in Bümpliz stehen könnte, verweist die Motion, indem sie es «C. A. Loosli Haus» nennt. Tatsächlich lebte der Schriftsteller Loosli, der mit seiner Kampfschrift «Administrativjustiz und Schweizerische Konzentrationslager» das Problem 1939 kompromisslos auf den Punkt gebracht hat, über fünfzig Jahre lang in Bümpliz. Dazu kommt, dass kein anderer Stadtteil sozial durchmischter ist und deshalb auch von Menschen bewohnt wird, die die repressiven Seiten des Sozialstaates erlebt haben oder heute erfahren. Zudem befindet sich auf Bümplizer Boden der Standplatz Buech für Jenische und Sinti: Gegen die Minderheit der Jenischen ging das Pro Juventute-«Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» im Auftrag des Staates ab 1926 aus eugenischen Gründen mit systematischen Kindswegnahmen und der ganzen Palette fürsorgerischer Zwangsmassnahmen vor, um das «minderwertige» Leben von schweizerischen Fahrenden auszumerzen.
Die UEK sieht das Haus also in Bern. Die SP-Motion sieht es in Bümpliz. Wo sonst?
Vorstösse auf kantonaler und nationaler Ebene
Unterdessen ist das Gespräch innerhalb der Sozialdemokratischen Partei weitergegangen:
• Zurzeit klärt die Grossrätin Béatrice Stucki auf der Basis der stadträtlichen Motion ab, ob auf kantonaler Ebene ein Vorstoss mit den gleichen oder mit modifizierten Forderungen eingereicht werden soll.
• Und die Nationalrätin Flavia Wasserfallen sagt: «Die Idee der Einrichtung eines nationalen Kompetenzzentrums in Bern unterstütze ich sehr, weil damit ein erlebbarer Ort des Austausches, für die Forschung und des Gedenkens errichtet werden kann.» Am 15. November findet die nächste Sitzung der nationalrätlichen Rechtskommission statt, traktandiert ist auch der Abschlussbericht der UEK. Als Mitglied dieser Kommission verspricht Wasserfallen: «Ich werde die Haltung und Bereitschaft des Bundes, ein solches Projekt zu unterstützen, ansprechen.»