Zum Journal B-Originalbeitrag.
Am 15. Juni 1938 hat der Schriftsteller C. A. Loosli im «Schweizerischen Beobachter» einen Artikel veröffentlicht mit dem Titel «Schweizerische Konzentrationslager und ‘Administrativjustiz’». Darin schrieb er: «Was unter solchen Voraussetzungen alles möglich ist, grenzt ans Unerhörte. Es gehört zum Empörendsten, das man sich überhaupt vorzustellen vermag. Ein Staat, der eine derartige ‘Administrativjustiz’ gutheisst und pflegt, setzt damit sein Ansehen als Rechtsstaat gröblich aufs Spiel.»
Eine Knastzelle mit zwei Türen
Wer in diesen Tagen (noch bis zum 17. März) in Bern zum Casinoplatz kommt, steht vor einem kleinen Ausstellungspavillon. Ein bisschen sieht er aus wie ein Knastzelle, jedoch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Statt einer Tür zum Abschliessen gibt es hier zwei zum Hinein- und wieder Hinausgehen. Im Innenraum sind grossformatige Bilder, Texte und Illustrationen zu sehen – und plötzlich steht man eben auch vor diesem Loosli-Zitat – eines von vielen, mit denen sich dieser Schriftsteller damals um Kopf und Kragen geredet hat.
Und nun das: Die vom Staat bestellte «Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen» (UEK) stellt einen Ausstellungspavillon auf den Casinoplatz mit dem Anspruch, «dass sich die Öffentlichkeit mit der Thematik der administrativen Versorgungen vor 1981 und den Schicksalen der betroffenen Personen» auseinandersetzen soll. Und was tut sie? Sie zitiert ausgerechnet Loosli. Hatte er damals am Ende Recht? Und was ist dann mit dem Satz, der im Beobachter-Text direkt nachfolgt (aber nicht zitiert wird), nämlich dass «Administrativjustiz» dazu da sei, «jeglicher Willkür unterstellte, jeglichen Rechtes […] beraubte Staatssklaven» zu produzieren?
Ein Moment von Symbolkraft
Am frühen Nachmittag des 11. März ist im grossen Vortragssaal des Schweizerischen Bundesarchivs eine dreifache Vernissage angesagt. Der Saal ist übervoll. Alle Stühle sind besetzt und entlang der Wand stehen die Leute dicht an dicht. Mag sein, drei Viertel der Anwesenden sind Ehemalige, also direkt Betroffene. Endlich, nach Jahrzehnten, begegnen sie hier, im offiziellsten Archiv des Landes, auf gleicher Augenhöhe jenen, die den Staat repräsentieren. Ein Moment von Symbolkraft. Die Definitionsmacht an Geschichte steht zur Diskussion. Von nun an reden die Betroffenen mit, wenn von den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen die Rede ist, die in diesem Land zum Zweck des Ausgrenzens, Wegsperrens, Zurichtens und Zum-Schweigen-Bringens bis 1981 zum sozialpolitischen Courant normal gehört haben. Daran erinnert während der Vernissage Ursula Müller-Biondi mit ihrer Rede eindringlich.
Das Buch
Dreifache Vernissage heisst an diesem Nachmittag zuerst einmal: Der erste Band der UEK-Veröffentlichungen liegt vor (angesagt sind vor dem abschliessenden «Synthesebericht» im September acht weitere Bände). «Gesichter der administrativen Versorgung. Porträts von Betroffenen» ist eine Sammlung von hervorragenden Schwarzweiss-Porträtfotogafien (Jos Schmid) und Textporträts von einem guten Dutzend AutorInnen – insgesamt begegnet man fünfzig Betroffenen. Das Buch besticht auch durch das, was es nicht beinhaltet: Hier produziert eine staatlich installierte «Expertenkommission» nicht fussnotenimprägnierten geisteswissenschaftlichen Schwurbel, sondern stellt sich demonstrativ in den Dienst jener, die Objekt ihrer Expertise sind. Wenn dies ein Signal ist auch für die Arbeitsweise in den weiteren UEK-Veröffentlichungen, darf man gespannt sein.
Das Lehrmittel
Als eine Rednerin an der Vernissage erwähnt, immer wieder seien die Forschenden mit der Forderung konfrontiert worden: «Das Thema muss in die Schulbücher», geht ein lautstarkes Murmeln durch die Reihen. Tatsächlich, das ist ein Anliegen: Dass die Nachgeborenen als Warnung und Weckruf im obligatorischen Schulunterricht erfahren, wie man in diesem Land vor noch nicht sehr langer Zeit mit Leuten umgegangen ist. In Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Bern erarbeitet die UEK deshalb ein «Ideenset ‘Ausgegrenzt und weggesperrt’» für den Schulunterricht. Das Work in Progress kann hier besichtigt werden. Ab sofort ist man nur noch zwei, drei Mausklicks von Informationen entfernt wie dieser: «Über 640 Institutionen wurden von einer Vielzahl von kantonalen, kommunalen oder privaten Entscheidungsträgern zwischen 1930 und 1980 für die administrative Einweisung von Personen eingesetzt.» (siehe hier)
Die Ausstellung
Als drittes feiert man an diesem Nachmittag den mobilen Infopavillon, der nach Bern in elf weiteren Schweizer Städtenzu sehen sein wird. Er wird wechselndes Quellenmaterial präsentieren, damit immer wieder neu regionale Bezüge geschaffen werden können. Auf dem Casinoplatz zum Beispiel wird an das «Gesetz über Erziehungs- und Versorgungsmassnahmen» erinnert, das am 3. Oktober 1965 im Kanton Bern mit 33797 Ja- zu 15968 Nein-Stimmen angenommen worden ist. In der Grossratsdebatte hat der Polizeidirektor Robert Bauder damals von einem notwendigen «Instrument zur zwangsweisen Hilfe» gesprochen. «Asoziale» hat er so definiert: «Unter Asozialen sind Menschen verstanden, die im Zusammenhang versagen, die sich einer Ordnung nicht fügen können oder wollen und nicht fähig sind, eine Gemeinschaft zu bilden.» Worauf er nicht hinwies: In den Kommentaren zur nationalsozialistischen Rassengesetzgebung hatte es 1936 geheissen: «Als Asozialer gilt, wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will.»
Jetzt hinschauen!
Klar, diese beiden Zitate stehen nicht im kleinen Infopavillon auf dem Casinoplatz. Aber man kann vieles finden, wenn man zu suchen beginnt. Abgesehen davon genügt, was im Pavillon steht, um ins Nachdenken zu kommen und auf weitere Fragen zu stossen. Einfacher als im nächsten halben Jahr wird es nie mehr sein, Antworten zu finden und insbesondere, um einigen der vermutlich mehr als 50'000 damals Weggesperrten und Ausgegrenzten auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.