3,5 Mio. für «Organ der Behörden»?

Der Bund will den Betroffenen des ehemaligen Pro-Juventute-«Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» «für erlittenen Unbill» 3,5 Millionen Franken zukommen lassen. Das Geld gedenkt er an den «Wiedergutmachungsfonds« der Stiftung «Naschet Jenische» zu überweisen. An einem informellen Treffen von Fahrenden und eidgenössischen ParlamentarierInnen in Bern stand deshalb vor allem der Leistungsausweis der Stiftung zur Diskussion.

Eingeladene, Uneingeladene und Abwesende

Wenn es um das ehemalige «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» geht, wird die Zusammensetzung der Gesprächsrunden immer undurchschaubarer. Diesmal hatte die Schweizer Sektion der «Gesellschaft für bedrohte Völker» eingeladen. Im Parlamentarierfoyer des Berner Nobelrestaurants «Du Théâtre» trafen sich dann am 28. September VertreterInnen der Radgenossenschaft (RG), des Vereins «Kinder der Landstrasse», des Fahrenden Kulturzentrums, der Zigeunermission sowie die Einzelkämpferin Mariella Mehr mit zehn NationalrätInnen, darunter dem Appenzeller Unabhängigen Herbert Maeder, seines Zeichens Stiftungsratsmitglied der Stiftung «Naschet Jenische» (NJ), die zur Zeit vom Bund als offizielle Ansprechpartnerin in Sachen «Kinder der Landstrasse» angesehen wird. Die Stiftung selber hatte es abgelehnt, an diesem Treffen teilzunehmen, laut ihrem Sekretär Stephan Frischknecht nach einstimmigem Stiftungsratsbeschluss: Mit Thomas Huonker, der am Treffen eine kurze historische Übersicht gab, wolle die NJ nicht mehr zusammenarbeiten. Gründe? Keine für die Presse bestimmten. Trotzdem waren neben Maeder drei weitere – jenische – NJ-Stiftungsräte anwesend, teils in anderer Funktion, teils «rein privat».

Uneingeladen aus dem Bundeshaus herüber kamen Fürsprecher Bernhard Hahnloser, stellvertretener Generalsekretär des Eidgenössischen Departements des Innern, auf dessen Schreibtisch heute alle Fäden in Sachen «Kinder der Landstrasse» zusammenlaufen, und Marianne Wallimann-Bornatico, persönliche Beraterin von Hahnlosers Chef, Bundesrat Flavio Cotti. Warum sie gekommen sei? «Aus persönlichem Interesse» und weil sie, wie Hahnloser, von Nationalrat Maeder darum gebeten worden sei. Das Gespräch leitete Monika Stocker (GPS, ZH).

Der magere Leistungsausweis der NJ

Die Stiftung NJ, die die Millionen erhalten soll, ist Ende 1986 von den Fahrenden zur Entlastung der Radgenossenschaft gegründet worden. Seither ist, wie Mariella Mehr ausführte, «der Wille zur transparenten, demokratischen Arbeitsweise von den Stiftungsorganen durch mangelhafte Information und intrigante Machenschaften unterlaufen und ausgehöhlt worden. Alle von der Stiftung NJ selbst bezeichneten Vertrauensleute wurden wegen ihren berechtigten Interventionen gegen dieses Vorgehen im Verlaufe des letzten Jahres diskreditiert, isoliert und von den wichtigsten Informationen abgeschnitten.»

In der Sache selbst hat NJ nicht viel erreicht.

• Aktenfrage: Hier lautete der Auftrag an die Stiftung, sie solle mit Bund, Kantonen und Pro Juventute Verhandlungen führen für die Übernahme der «Hilfswerk»-Akten, die zu jenem Zeitpunkt noch versiegelt im Pro-Juventute-Archiv lagen. Danach sollte sie diese Akten treuhänderisch verwalten und sie den Betroffenen aufgrund eines auszuarbeitenden Reglements nach Wunsch aushändigen oder bei deren Einsicht und Aufarbeitung behilflich sein.

Der aktuelle Stand: die Akten liegen heute versiegelt im Bundesarchiv. Zugriff haben soll eine Aktenkommission, die zu den Akteneinsichtsgesuchen Empfehlungen ausarbeitet. Der Entscheid, ob Einsicht gewährt wird, liegt bei den jeweiligen kantonalen Vormundschaftsbehörden. Die mittlerweile ernannte Aktenkommission besteht aus Remigius Kaufmann (Präsident), Carmen Hotz und Franca Trechsel (Vertreterinnen der Fahrenden), Giacomo Roncoroni (Bund) und Anton J. Mattmann (Kantonsvertreter). Mattmann und sein Stellvertreter Michael Gwelessiani sind von Bundesrat Cotti bestätigt worden, obschon die beiden von den Fahrenden wegen Befangenheit einhellig abgelehnt worden waren. Seit dem 1. Mai arbeitet der Sekretär dieser Aktenkommission, Dominik Brunner, mit den versiegelten Akten, «ohne sie zu öffnen», wie Hahnloser versichert.

• Historische Aufarbeitung: In den Statuten der NJ wird im Zweckartikel die «Förderung der wissenschaftlichen Forschung» und die «Führung einer Dokumentations- und Informationsstelle» genannt. Der aktuelle Stand: Eine vom Historiker Thomas Huonker im Auftrag des Bundesamts für Kulturpflege zusammengestellte historisch-wissenschaftliche Vorstudie wurde vom Auftraggeber schubladisiert (vgl. WoZ 24/1987). Seither sei, so Mariella Mehr, «von einer Verantwortlichkeitsstudie und der historischen Aufarbeitung der Machenschaften des PJ-‘Hilfswerks’ durch Fachleute, die das Vertrauen der Jenischen geniessen», kaum mehr die Rede. Nach Stephan Frischknecht sind auf verschiedenen Ebenen Vorarbeiten im Gang. Allerdings kann er weder Namen noch Inhalte nennen.

In wessen interesse handelt die Stiftung?

Ihre Kritik fasste Mehr am Treffen mit den Worten zusammen: «Die von den Betroffenen gegründete Stiftung NJ entwickelte sich mehr und mehr zum Organ der Behörden, welches es sich zur Aufgabe macht, die von Bund und Kantonen geschaffenen Sachzwänge den Betroffenen als die bestmögliche Lösung einzureden.» Auf die Frage der Nationalrätin Rosmarie Bär (GPS, BE), wer denn eigentlich der richtige Adressat für die 3,5 Bundes-Millionen sei, plädierte Mehr für die Radgenossenschaft als breit abgestützter und traditionsreichster Fahrenden-Organisation. Sie fügte bei, wenn das Parlament schon über Geld für die Betroffenen rede, solle es dem Betrag gleich noch eine Null anhängen, die 3,5 Millionen seien «nicht mehr als ein Almosen».

Von St. Gallen her bestätigte der NJ-Sekretär Frischknecht, dass die Informationsveranstaltung in Bern die NationalrätInnen für einen Augenblick habe verunsichern können. Aber von der Stiftung her habe man danach – offenbar in einer Art Einzelabreibung – mit den RätInnen geredet und sie mit Unterlagen versorgt. Unterdessen sei alles wieder eingerenkt.

So einfach sieht es Robert Huber allerdings nicht, der als Mitglied des NJ-Stiftungsrats und Präsident der RG sagt: «Ich bin zwar Mitbegründer der NJ, aber ich kann nicht mehr zu allem ‘ja’ sagen.» Gerade die Wahl von Mattmann in die Aktenkommission, die vom Gesamtstiftungsrat und der jenischen Wahlkommission einstimmig abgelehnt worden sei, habe viele Sippen und Familien «unheimlich verunsichert». Die NJ habe diese Wahl ohne Protest geschluckt: «Vieles läuft selbstherrlich.»

Davon, dass der NJ-Stiftungsrat die Teilnahme am Berner Treffen einstimmig abgelehnt habe, weiss Huber nichts. Anfang Woche hat nun die RG einen geharnischten Brief an die NJ geschrieben und die Einberufung einer Vollversammlung der Jenischen verlangt, um einerseits Bilanz zu ziehen und andererseits das weitere Vorgehen gemeinsam zu bereden. Huber: «Es ist bitter nötig, die Sache z’Bode zu reden. Vieles läuft mysteriös. Wir sehen nicht mehr durch.»

Zur besseren Gliederung des Textes ist er hier mit Zwischentiteln versehen worden.

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