IV

 

Ich war kaum sechs, als ich meinen Engel traf.

Genauer: Er traf mich, denn ich sah ihn nicht.

Wie oft auch hier: Das Undenkbare

Gräbt sich ins Hirn und bleibt unvergesslich. –

 

Was ich noch weiss: ein Herbstabend, trocken, mild,

Verschattet. Nachbarkinder, Versteckenspiel.

Gemüsegärten, junge Bäume:

Neubaugebiet der Textilfabrikherrn.

 

Wer suchen muss, verdeckt seine Augen, zählt

Bis zehn, ruft dann: «I chume!» und stösst sich von

Der Rückwand der Garage, späht und

Lauscht nach den blitzschnell Davongestobnen.

 

Im Erdschutz eines unkrautverwachsnen Walls

Verharr ich liegend jenseits der Strasse still,

Den Bauch voll sommerwarmen Bodens.

Andere schleichen entlang der Hecken

 

Und Gartenzäune vorwärts zum Anschlagplatz.

Entdeckte scheiden aus, stehen scherzend auf.

Ich warte kauernd, sprungbereit. Dann

Schiess ich empor, renne los – das Auto:

 

Ein Kleinbus vor mir, hinter mir durch mich durch.

Ich fliege, werde schützend geflogen aus

Gefahr und lande wohlbehütet

Jenseits der Strasse. Erst jetzt die Bremsen,

 

Das grelle Quietschen. Und aus dem Auto brüllt

Der Chauffeur sich den Schreck aus dem Leib. Ich bin

Entdeckt und aus dem Spiel: Die Kinder

Sehen mich kommen und starren staunend,

 

Als wär ich totgesagt und ein Fremder nun,

Als wäre ich vor allen dazu bestimmt,

– Ein Knirps und erdverschmiert –, zu leben.

Mehr weiss ich nicht mehr. Die Abendsonne?

 

Der Heimweg? Essenszeit wohl und müd vom Tag.

Den Vorfall hab ich später vergessen. Längst

Leb ich in engellosen Sprachen.

Manchmal der Schrecken: Ich lebe gerne.

 

[9.-12.9.1996]

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