Ein Schweigen war um Grossvaters Herkunft stets.
Man sagte mir: Er war ein verdingtes Kind
Und elternlos, soweit man wisse.
Missgeschick spurlos verschwundner Armut.
Geboren dreiundneunzig. Ein Meister hat
Das fremde Kind zum Melker gemacht. Soldat
Im Ersten Weltkrieg. Neunzehnneunzehn
Heirat und eigene Wohnung. Dann die
Geburt der beiden Söhne und Arbeit in
Der Ziegelei. Sein Haus lässt er mitten in
Der Krise bauen. Später freundlich,
Stets aber wortkarg, das herbe Wissen
Um früherzwungne Knechtschaft stirbt ungesagt
Mit ihm: Die Herkunft bleibt ihm verschwiegne Scham.
Und doch gab’s Eltern: Witwe Wiedmer,
Anna Maria, geborne Ryser,
Als Wäscherin geschwängert von Friedrich Lerch,
Dem Melker, auf Holzmühle bei Hindelbank;
Für sie ein unerwünschtes viertes
Kind, und der Vater ist vierundvierzig.
Zur Armenhochzeit fährt man rasch in die Stadt,
Im Februar. Des Buben Geburt im Mai
Hat keine Schand’ gebracht. Man müht sich
Dann bis zum plötzlichen Tod der Mutter
Im Jahre fünf, Familie zu sein. Allein
Schafft’s Vater nicht, zu klein der Verdienst, zu streng
Die Arbeit; dass man seinen Buben
Deshalb verdingte, erschien vernünftig.
Ansonsten weder Akten noch Zeugen, nichts.
Der Melker starb in Bern im Spital, allein,
Im Sommer neunzehnhundertdreizehn.
Wie dann ein Pferdegespann den Sarg durch
Die weiten, abgeernteten Felder nach
Holzmühle brachte; wie der gerufne Sohn
Am Wegrand stumm das Fuhrwerk kommen
Sah; wie er tränenleer nun zum weitern
Mal Waise wurde; wie ihm die Meisterin
Des Vaters einen Imbiss vors Haus gebracht –
Dies hat er seiner Frau erzählt, der
Grossmutter, die es mir weitersagte.
Doch meine Fragen weckten ihr Misstraun bald.
Was mich das intressiere? Sie sagte: «Bub,
Schreib über reicher Leute Leben,
Unsre Geschichte soll niemand kennen.»
[14.8.-4.9.1995; 13.2.2023]