Gelähmte Gliedmassen

Erst war Kurt Aebli der namenlose, sprachskeptische Wortjongleur des Zürcher Rauhreif-Verlags (WoZ Nrn 33/1984, 32/1988). Sein Auftritt an den Solothurner Literaturtagen 1988 hat jedoch aufhorchen lassen. Dort hat er rotzig-trotzig behauptet, dass seine Spracharbeit die Radikalität der eben vorgelesenen Erzählung «Der Geldgeber» im Durchschnitt noch bei weitem übertreffe (WoZ 20/1988). Prompt gibt Aebli nun sein grossdeutsches Debüt im Suhrkamp-Verlag und «Der Geldgeber» bildet in dem Prosabändchen, das anfangs September erschienen ist, das Hauptstück.

Mit «Küss mich einmal ordentlich» hat sich Aebli punkto Verkäuflichkeit des Buchtitels klar gesteigert gegenüber dem moralinverdächtigen «Der perfekte Passagier» (Selbstverlag, 1983), dem pathetischen «Die Flucht aus den Wörtern» (Rauhreif, 1983) und dem allzu diskreten «Die Vitrine» (Rauhreif, 1988). Der neue Prosaband besteht aus 53 kurzen und kürzesten Geschichten, einer Etüdensammlung aus ersten Sätzen, die jeweils einen männlichen Helden exponieren, der danach auf durchschnittlich zwei Seiten kaputtgeschrieben und abserviert wird. Der eine stürzt zwischen beliebigem Sprachschutt, einer Art helvetisch schwerfälliger «écriture automatique», zu Tode, der zweite wird mittels Kalauer und Klamauk aus seiner Geschichte katapultiert, der dritte verschwindet im salopp-kafkaesken Nichts eines zerfransenden Einfalls, der vierte verspritzt als  Männerphantasie.

Schon in «Die Vitrine» war aus Aeblis «Flucht aus den Wörtern» eine Flucht in und hinter die Wörter geworden. Diese Flucht war aber nicht nur – wie die bemühenden Wortwitzeleien in einigen der neuen Texte – Ausdruck des Jungmännerproblems, sich hinter seiner öffentlichen Produktion verstecken zu müssen. in seinen sprachreflexiven Passagen war Aeblis Erzählen gleichzeitig ein Nachdenken über die Grenzen der Sprache als Medium des Erzählens. Neuerdings schliesst Aebli kurz: Er erzählt in einer Sprache, die sich aus dem Gefängnis des Sinns in eine sinnlose Freiheit befreit hat. «Die Sprache beschwor vergitterte Fenster herauf», heisst es in der Titelgeschichte. Aeblis Sprachradikalität ist nicht radikal für oder gegen etwas ausserhalb der Sprache, sie lehnt sich gegen die Sprache selbst auf und beweist: Vor, in und erst recht hinter den Wörtern ist nichts. Damit löst auch sie sich in Sinnlosigkeit auf. Denn indem Radikalität selbstzerstörerisch das Medium Sprache kaputtdenkt, macht sie es vom Mittel zum Zweck. Welchen Sinn aber hat Sprache, die sich weigert, Kommunikationsmittel zu sein? «Derwick versuchte, sich während des Gehens an die Geschichte mit den Telefonapparaten zu erinnern. Es gab viele Tausende von Telefonapparaten in der Geschichte. Derwick hatte vergessen, was Telefonapparate waren.» (89) «Telefonapparate» sind 15 Buchstaben; dahinter gibt’s nichts mehr, weder Welt, noch Bild, noch Wahrheit.

Die Welt hat sich für Aebli in den letzten sieben Jahren zur Sprachwelt verengt und diese zerfällt ihm, zwischen Riffen trotzigen Klamauks, zusehens zu gleichförmigem Rauschen, zum nicht-konnotierten akustischen Ereignis, zur aleatorischen Spielerei: «Silberkeulenschwingender Ketschua des Polterabends war Hell höchstpersönlich, der sich zum Zweck vorbereitender Askese von einer Horde Thermosaffen niedertrampeln liess.» (74) Das Gebälk der Grammatik steht entsinnt, ins Rauschen verwoben sind versprengte Signale, die «Geschichte» meinen. Was bleibt: «Erzählen ist lautgeben, wie ein Hund lautgibt.» (Peter Bichsel)

Soviel zum radikalen Spracharbeiter Aebli, dessen Inkonsequenz es ist, dass er zwischendurch doch Allzuverständliches erzählen will, zum Beispiel, wenn es um eine Vergewaltigung bis zum Tod geht (78) oder um einen Frauenkauf (95) oder um die Selbstverstümmelung der «verwundbarsten Ausstülpung seines Körpers» (91f). In Aeblis angehäuftem Wörterwust verstecken sich Kloaken von ganz gewöhnlichem narzisstischem Männerhirnwix. «Die gelähmten Gliedmassen meines Bekenntnisdranges sind eine ungültige Ehe mit den Stimmbändern irgendeines meiner Urahnen eingegangen.» (84) So ist das zur Zeit mit dem Autor Kurt Aebli. Stilistisch, formal und inhaltlich. Aber Sorgen zu machen braucht man sich nicht um diesen hoffnungsvollen Jungautor: «Weit davon entfernt, die Flinte, die ihm nicht zur Verfügung stand, in ein Kornfeld zu werfen, von dem weit und breit nichts zu sehen war, trat Wurzel näher und flüsterte ihr ins Ohr: Beleidige mich bitte, es erregt mich, es erregt mich so sehr.»

Kurt Aebli: Küss mich einmal ordentlich. Prosa, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1990.

Die WoZ titelte damals: «Die Leere vor, in und hinter den Wörtern»; «Gelähmte Gliedmassen» war mein damaliger Titelvorschlag.

 

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