«Administrativjustiz»: Es war «organisierte Willkür» 

Bierhübeli, Bern, 2. September 2019: Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung nimmt die Bundesrätin Karin Keller-Sutter den Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen (UEK) entgegen. Ihre Dankesrede beginnt sie mit den Worten: «In unserem Land ist Zehntausenden von Frauen und Männern Unrecht angetan und Leid zugefügt worden. Man hat ihnen ohne Gerichtsbeschluss die Freiheit entzogen.»

Eine dunkle Seite der Geranienschweiz

Die am 5. November 2014 vom Bundesrat eingesetzte UEK hat sich bei ihrer Forschungsarbeit auf die administrativen Versorgungen konzentriert. Andere fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – etwa das Verdingkinder- und das Heimkinderwesen oder Zwangsadoption und Zwangssterilisation – hat sie von Fall zu Fall erwähnt, aber nicht erforscht. Trotzdem waren zur Präsentation der Forschungsergebnisse zehn zum Teil umfangreiche Bücher nötig. Sie sind im Laufe des Jahres 2019 im Chronos Verlag erschienen. 

Die Infrastruktur für diese Internierungen ohne Gerichtsurteil bildete das, was die UEK in ihrem Schlussbericht als «schweizerische Anstaltslandschaft» bezeichnet. Für den fokussierten Zeitraum von 1930 bis 1981 ermittelte sie schweizweit 648 Institutionen – von Zwangsarbeitsanstalten über Arbeiterkolonien, Erziehungsheime, Trinkerheilanstalten, Strafanstalten, Heil- und Pflegeanstalten bis zu Armenhäusern und Mutter-Kind-Heimen. Die Institutionen waren spezialisiert nach den Hauptfunktionen «Erziehen», «Sichern» und «Therapieren/Heilen».

Es war der UEK nicht möglich, alle noch bestehenden Archive dieser Institutionen systematisch auszuwerten. Auf der Basis von «Sondierbohrungen» in den Aktenbeständen entwickelten die Forschenden für die Bestimmung der mutmasslichen Zahl von Betroffenen ein «Schätzungsband»: «Konkret bewegen sich die Werte im Bereich von rund 39'000 (Untergrenze) und rund 200'000 Einweisungen (Obergrenze)». Über das ganze 20. Jahrhundert seien «mindestens 50’000 bis 60’000 Personen» betroffen gewesen.

Weitere Erkenntnisse: Am meisten administrativ versorgt wurde während der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre. Männer versorgte man deutlich häufiger als Frauen (80 zu 20 Prozent) – erstere wurden dabei mit Vorliebe als «arbeitsscheu», letztere als «liederlich» stigmatisiert. Juristisch möglich gemacht wurde die Praxis durch «ein unübersichtliches Flickwerk von Gesetzen», das es auch kommunalen Laienbehörden ermöglichte, «ausserhalb des ordentlichen Rechtsrahmens […] auf moralischen Bewertungen» basierend Leute mit einem «Recht zweiter Klasse» zu versorgen. 

Zusammenfassend charakterisiert die UEK die «patriarchale Mittelstandsschweiz», die bis 1981 auch mit administrativen Versorgungen Sozialpolitik betrieben hat, durch «eine direktdemokratische, jedoch wenig grundrechtssensible Rechtskultur, Abwehrreflexe gegen internationale Normensetzungen, eine kleinräumige Sozialkontrolle mit hohem Konformitätsdruck, eine hierarchisierte Geschlechterordnung, die anhaltende Ausgrenzung von Armut als Kehrseite einer starken Arbeits- und Leistungsideologie, sowie schwach ausgebaute und lange unterfinanzierte soziale Sicherungssysteme».

Die Verbeugung der UEK vor Loosli

80 Jahre, bevor Bundesrätin Keller-Sutter im Namen der offiziellen Schweiz die Geschichte der administrativen Versorgungen als Unrecht und als Leid verursachend anerkannt hat, veröffentlichte C. A. Loosli am Ende der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre sein Buch «‘Administrativjustiz’ und Schweizerische Konzentrationslager». Für Loosli bedeutete der Begriff «Administrativjustiz» dabei zweierlei: einerseits ein Teil der «Verwaltungsrechtspflege», andererseits die «Willkür des Staates, der Gemeinden und der Gesellschaft, die sich anmassen, den einzelnen Staatsbürger seinem natürlichen Richter zu entziehen, ihn der ihm ebenfalls verfassungsmässig zustehenden Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze und dem Rechte zu berauben, über seine Person, sein Eigentum willkürlich, unter Ausschluss jeglichen öffentlichen Verfahrens, unter Vergewaltigung und Verneinung seiner Menschen- und Bürgerrechte, zu verfügen». Diese «‘Administrativjustiz’ in Gänsefüsschen», wie Loosli sie nannte, war sein Thema und entspricht den «administrativen Versorgungen», die die UEK nun erforscht hat.

1939 stand Loosli weder ein 26köpfiges Forschungsteam noch ein Budget von 9,9 Millionen Franken zur Verfügung, und keine einzige der 648 Institutionen hätte ihm damals für seine Recherchen Einsicht in die Akten von Internierten gewährt. Dafür hatte er die Erfahrungen eines Betroffenen (insbesondere der Zwangserziehungsanstalt Trachselwald). Und als Journalist hatte er genug recherchiert, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Einer davon lautete: «Die ‘Administrativjustiz’ ist auf dem ganzen Gebiete der Schweizerischen Eidgenossenschaft […] unverzüglich abzuschaffen.» Denn sie sei «grundsätzlich in jedem Falle eine Rechtsverneinung, eine Vergewaltigung, ein Rechtsraub, gestützt auf bare, wenn auch weitgehend organisierte Willkür».

Dass der Schlussbericht der UEK nun mit Verweis auf Loosli unter dem Titel «Organisierte Willkür» erschienen ist, ist eine Verbeugung vor dem Autor und seiner «Administrativjustiz». Loosli habe, so der Schlussbericht, «bei aller Radikalität […] differenziert» argumentiert, und zwar mit drei Stossrichtungen:

• Erstens habe Loosli das Versorgungsrecht als «willkürlichen und gewaltsamen Eingriff in die bürgerliche Freiheit» verstanden, der gegen die Bundesverfassung verstosse und das Vertrauen der Bürger in den Staat zerstöre.

• Zweitens sei die «Administrativjustiz» ein gewaltsames Herrschaftsinstrument der bürgerlichen Klasse (statt «Klasse» verwendet der Schlussbericht mehrfach auch den Begriff der «Eliten»). Die administrativen Versorgungen seien eine politische Massnahme dieser Eliten gewesen gegen die befürchtete «Entstehung von Massenarmut».

• Drittens dienten administrative Versorgungen der Zwangsarbeit, Versorgte seien «Staatssklaven», und Profiterwägungen seien wichtiger als «Resozialisierungsziele». 

Die UEK-Forschungen haben diese drei Stossrichtungen von Looslis Kritik grundsätzlich bestätigt. Nicht einverstanden sind die beiden AutorInnen des Schlussberichts, Urs Germann und Lorraine Odier, mit Looslis Untertitel der «Schweizerische[n] Konzentrationslager». Auch wenn Konzentrationslager 1939 noch nicht die Bedeutung von Vernichtungslagern haben konnten, könnten administrative Versorgungen nicht «mit der Systematik und mörderischen Logik» von «totalitären Unrechtsstaaten» gleichgesetzt werden, sondern seien «im Kontext einer weit verstandenen Eingriffsfürsorge […] meist auf den Einzelfall gerichtet» gewesen.

Fürsorgerischer Zwang bleibt aktuell

Unter dem Druck der Europäischen Menschenrechtskonvention hat die Schweiz auf 1. Januar 1981 das schweizerische Zivilgesetzbuch geändert, das Versorgungsrecht der «organisierten Willkür» abgeschafft und die Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) eingeführt. Auf 1. Januar 2013 wurde dieser FFE durch die FU – die Fürsorgerische Unterbringung – ersetzt. FU steht für Zwangspsychiatrisierung bis zu sechs Monaten. Die UEK ist zurecht der Meinung, es sei deshalb nötig, «1981» als bloss «vermeintliche Zäsur» zu verstehen und kritisch zu hinterfragen – immerhin seien 2016 im Sinne der FU in 14580 Fällen von ärztlichen oder administrativen Stellen «Zwangshospitalisierungen» verfügt worden. 

An den Rändern der Gesellschaft spielen also auch heute Ausgrenzung, Stigmatisierung und Internierung ihre Rolle. Das Dilemma von «Fürsorge und Zwang» (so der Titel des bis 2022 laufenden Nationalen Forschungsprogramms 76) ist auch heute eine sozialpolitische Realität. 

Im Abschlussbericht formuliert die UEK deshalb «vier weiterführende Forschungsperspektiven»:

1. Historische Vertiefung. – Um «die Logik gesellschaftlicher Ausgrenzung und die damit verbundenen Konstruktionen sozialer Abweichung» genauer zu verstehen, sei es nötig, «das Ineinandergreifen verschiedener Formen der sozialen Kontrolle (Fürsorge, Vormundschaft, Justiz, Psychiatrie, Schule etc.) in geografisch überschaubaren Räumen (Dorf, Stadt, Bezirk) vertiefter zu analysieren». Zu fragen sei nach der sozialen Kontrolle («Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen»). Zu klären seien auch «die Motivlagen und Handlungslogiken der Behördenakteure jenseits der offiziellen Begründungen» (insbesondere Kostenüberlegungen). 

2. Internationaler Kontext. – Die schweizerische Praxis im Umgang mit Devianz (Fürsorge, Vormundschaft, Suchthilfe, Bekämpfung der Prostitution, Jugendkriminalität etc.) in den internationalen Kontext einzubetten, könne, so die UEK, «wichtige Einsichten in die Funktionsweise des schweizerischen Sozial- und Rechtsstaats» bringen. Insbesondere nach 1945, als sich «die Schere zwischen der Entwicklung der Schweiz und den umliegenden Ländern zunehmend» geöffnet habe.

3. «Vermeintliche Zäsur 1981». – Ein wichtiger Aspekt der veränderten Bedingungen, unter denen zwischen 1960 und 1990 Freiheitsentzüge praktiziert wurden, sei «die wachsende Bedeutung psychiatrischer Hospitalisierungen»: «Inwieweit lässt sich vor diesem Hintergrund von einer Verlagerung behördlicher Interventionen in den Bereich der Psychiatrie sprechen?» Mit Forschungen in diesem Bereich liesse sich der «Bogen von der historischen Praxis administrativer Versorgung zum gegenwärtigen Umgang mit Menschen schlagen, die durch soziale Auffangnetze fallen». 

4. Warum so spät? – Das Versorgungsrecht sei nie unbestritten gewesen, stellt die UEK fest: «Dennoch blieb die öffentliche Kritik stark fragmentiert und konnte nur beschränkt Resonanz erzielen.» Warum dauerte es so lange, bis die offizielle Schweiz das Unrecht und das angetane Leid anerkannte? Wie gelang es den betroffenen Frauen und Männern schliesslich dennoch, die Rehabilitation auf die politische Agenda zu bringen? Wie sieht das Bild aus, das sich die Öffentlichkeit von administrativen Versorgungen heute macht und was bedeuten die Wahrnehmungsfilter der (medialen) Öffentlichkeit für die Erinnerungskultur und das Problembewusstsein der Gesellschaft in Bezug auf die heutigen «Fürsorgerischen Unterbringungen» und auf die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht?

Die UEK schliesst mit dem Plädoyer für einen partizipativen Forschungsansatz: «Wichtig wird es sein, diese Fragen zusammen mit den Menschen, die von administrativen Versorgungen und anderen Zwangsmassnahmen betroffen waren, auf Augenhöhe zu diskutieren» – zum Beispiel in einem «Haus der anderen Schweiz» (siehe Kasten).

Die neun Monografien und der Synthese- respektive Schlussbericht der UEK können auf der Website der UEK als PDFs gratis heruntergeladen werden.

 

[Kasten]

Entsteht in Bümpliz ein «Loosli-Haus»?

Neben den Forschungsergebnissen präsentiert die UEK in ihrem Schlussbericht zuhanden von Politik und Öffentlichkeit auch eine Reihe von «Empfehlungen» zur sozialen Rehabilitierung der betroffenen Personen und zur materiellen Wiedergutmachung des an ihnen begangenen Unrechts. 

Zugunsten der Betroffenen empfohlen wird zum Beispiel Steuererlass, ein Hilfsfonds zur Deckung medizinischer, psychotherapeutischer und zahnärztlicher Kosten oder ein SBB-Generalabonnement auf Lebenszeit. Empfohlen wird kostenloser Zugang zu Ausbildungen oder zum öffentlichen Kultur- und Sportangebot. Empfohlen wird darüber hinaus zur «öffentlichen Sichtbarkeit und Legitimität» der Betroffenen und ihrer Geschichte das «Projekt für ein Haus der anderen Schweiz». 

Dieses Haus soll ein Archiv zur Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aufbauen und Angebote im Dienst von «staatsbürgerlichem Engagement», «Forschung» sowie «Bildung und kulturellen Aktivitäten» realisieren. Betrieben werden soll es von einem Verein, einer Stiftung oder einer Genossenschaft, die Leitung soll «einem unabhängigen Kollegium obliegen, das sich grossmehrheitlich aus von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffenen Personen zusammensetzt». 

Zum Standort des Hauses hat die UEK eine klare Vorstellung: «Das Haus der anderen Schweiz befindet sich in Bern. Dies hängt mit der gesamtschweizerischen Bedeutung der Bundesstadt, der Nähe zu den politischen Institutionen und zur Bundesverwaltung sowie mit der geografischen Lage von Bern zusammen.»

Die Empfehlung eines Hauses der anderen Schweiz ist in Bern von sozialdemokratischen PolitikerInnen noch im Herbst 2019 aufgegriffen worden:

• Im Stadtparlament von Bern haben Katharina Altas, Johannes Wartenweiler und Timur Akçasayar eine Motion für ein «C. A. Loosli Haus» in Bümpliz eingereicht. Die Motion fordert die Stadtregierung auf, «eine geeignete Liegenschaft» zu finden, «eine Trägerschaft aufzubauen» und «ein Betriebskonzept auszuarbeiten».

• Eine Motion hat auch die Grossrätin Béatrice Stucki im bernischen Kantonsparlament eingereicht. Sie beauftragt die Kantonsregierung, zusammen mit der Stadt Bern eine geeignete Liegenschaft für ein «C. A. Loosli-Haus» zu suchen und zusammen mit Gemeinden und Institutionen dafür eine Trägerschaft aufzubauen. Ohne von der UEK-Empfehlung wissen zu können hat übrigens schon im März 2019 der SP-Grossrat Hervé Gullotti mit einer Motion die Regierung beauftragt, «die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zu ehren und als Zeichen der Anerkennung ihres Leids eine Gedenkstätte zu schaffen.» Der Grosse Rat hat die Motion zwar in ein Postulat umgewandelt, aber in dieser Form mit 131 zu 9 Stimmen gutgeheissen.

• Schliesslich fragt die Nationalrätin Flavia Wasserfallen den Bundesrat in einer Interpellation, ob er die UEK-Empfehlung des Hauses einer anderen Schweiz unterstütze und falls ja, wie er die konzeptuelle Arbeit und die Realisierung des Projekts konkret zu unterstützen gedenke.

Und zu guter Letzt gibt es aus Bümpliz Signale, die besagen, dass die Idee eines «Loosli-Hauses» im Westen der Stadt Bern auf fruchtbaren Boden fallen könnte. Zwar ist Loosli dort vor exakt fünfzig Jahren gestorben. Aber tot ist er noch lange nicht. 

Nächstens mehr. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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