[1]
Der Schriftsteller Kurt Marti ist 1961, als Vierzigjähriger zum Pfarrer an die Nydeggkirche in Bern gewählt worden. Damals hatte er sich als Lyriker schon seit mehreren Jahren mit Konkreter Poesie auseinandergesetzt. 1956 schrieb er in einem Zeitungsartikel über Eugen Gomringer, den «Vater der konkreten Poesie», dessen Text-Konstellationen seien «nicht Darstellung von etwas oder Aussage über etwas, sondern ein aus Worten gebildeter Seh- und Denkgegenstand, der entweder zum Spiel oder zur Meditation gebraucht werden» könne.[2]
Aber nicht nur der Lyriker, auch der Theologe Kurt Marti war damals fasziniert von der Idee, Wörter zu «Seh- und Denkgegenständen» umzuformen. Deshalb nahm er sich das Wort «Ostern» vor und baute aus dem Buchstabenmaterial eine Kritik, die Ostern der Wohlfahrtsgesellschaft als läppische geistliche Schrumpfveranstaltung kenntlich machte: Restostern mit Osternestern; Schokoladehasen statt Auferstehung. Es sei damals darum gegangen, kommentiert Kurt Marti sein Gedicht heute, in der «Merkantilisierung» von Ostern deren Pervertierung kenntlich zu machen und als «Symptom» dafür, dass «im christlichen Abendland der Abend des Christlichen» angebrochen sei.
Diese erste Inspiration kombinierte er mit einer zweiten. Als Pfarrer war Marti nämlich Anfang der 1960er Jahre daran, das Markus-Evangelium vollständig «durchzupredigen», wie er später schrieb.[3] So war es naheliegend, dass ihm im Zusammenhang mit «Ostern» der dritte Vers des 16. «Markus»-Kapitels einfiel:
Die drei Frauen Maria von Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome gehen zum Grab von Jesus, um den Leichnam zu salben. Dabei fragen sie sich nach Luther: «Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?» Daraus macht Marti: «wer wälzt uns / den christlichen plunder vom grabe / des herrn?» Aus dem Stein, der die Frauen damals von Jesus trennte, ist ein Berg von Osternestern an Restostern geworden, die heute das Abendland vom Morgenstern der biblischen Botschaft trennen.
«ostern o stern» ist Teil des Lyrikbands «gedichte am rand» von 1963, einer Sammlung mit Texten, die «am Rande der Evangelien entstanden und auch so zu lesen sind», wie Marti in der Nachbemerkung zur Erstausgabe ausdrücklich betont.[4]
Als im letzten Herbst von Marti eine neue Sammlung mit «Ausgewählten Gedichten» erschien, steuerte er ein Nachwort bei, in dem er begründet, warum für ihn Poesie Moral sei. Er schrieb: «Im gelungenen Gedicht werden Ästhetik und Ethik eins.»[5] Dass Kurt Marti nun seit über vierzig Jahren ein ethisch verantwortetes literarisches Schreiben verteidigt, macht ihn als Intellektuellen weit über das Artistische hinaus bedeutend.
[1] Kurt Marti: gedichte am rand. Teufen (Verlag Arthur Niggli) 1963, S. 65.
[2] Kurt Marti, in: Die Tat Nr. 76/1956, zitiert nach: Cornelius Schnauber [Hrsg.]: Deine Träume – mein Gedicht. Eugen Gomringer und die konkrete Poesie. Nördlingen (Greno Verlag) 1989, S. 82-87.
[3] Kurt Marti: Das Markus-Evangelium ausgelegt für die Gemeinde. Zürich (Jordan Verlag) 1985, S. 7.
[4] Kurt Marti, a.a.O., 1963, S. 79.
[5] Kurt Marti: Der Traum, geboren zu sein. München Wien (Nagel & Kimche) 2003, S. 226ff.