Von der Angst vor der Angst

Manfred Züfles Protagonist heisst Zeno Mutter. – Mutter lebt in Zürich in einem eigenen Haus (wie Züfle), hat erwachsene Kinder (wie Züfle), arbeitet zuerst als Mittelschullehrer (wie Züfle), exponiert sich 1980 in der Jugendbewegung und erlebt Angstmachendes (wie Züfle), nimmt später seinen Abschied vom Schuldienst (wie Züfle) usw. Ein solches literarisches Alter Ego darf nicht überleben: Zwei Seiten vor Schluss des Romans verpasst der Autofahrer Mutter eine scharfe Linkskurve hoch über der «Hölle» im Lorzentobel: «Es hat ein Unfall sein können, es hätte...» (366).

«Paranoia-City». – Was der Mittelschullehrer Zeno Mutter nach seinem Engagement in der 80er Bewegung erlebt: Drohtelefone, eingeschlagene Fensterscheiben am eigenen Haus; ein Installateurlehrling, der an seinem Haus arbeitet und sich als Rechtsradikaler entpuppt; der Diebstahl seines Autos, das ramponiert wieder auftaucht: auf der Polizei zuckt man bloss wissend die Schultern; der unheimliche Patriot Meyer aus Erlenbach, der undurchsichtige Telefonmission betreibt. Als «ängstlicher Mensch» reagiert Mutter zuerst körperlich auf das latent paranoide Klima, das in den frühen achtziger Jahren die offene und verdeckte Repression gegen die Jugendbewegten (nicht nur) in Zürich erzeugt hat. Er wird zum Aussteiger und will nun die gesellschaftlich produzierte, unbewusst gehaltene, körperlich kumulierte Angst «hinausdrehen». Er lädt zu einer politischen Versammlung unter Linken und formuliert seine These: «Unser ganzes System funktioniert nur durch die Angst, die wir uns gegenseitig systematisch machen können und machen sollen.» (236) Aber Linke reden über Politik oder über Angst; Paranoia als der Untergrund politischer Rationalität  bleibt ein Tabu: «Das, was Zeno als den Scheinputsch unter Genossen thematisieren (‘hinausdrehen’) wollte, war längst schon ‘rechtens’, rechtens internalisiert bis zur Unkenntlichkeit.» (233) Angst muss unbewusst bleiben. Der Tabubrecher Mutter läuft ins Leere und verstummt. In seinem Notizbuch hält er in seinem letzten Frühling (1984) bloss noch ein paar Dutzend Mal stereotyp fest: «Fahrt ins Herz der CH». Auf der Suche nach der eigenen Heimat vor der Angst unterläuft ihm (oder ihn?) der Tod.

«Er wusste, dass, und er wusste, nicht wie.» (314) – Die wertenden, zeigfingrigen Kursivsetzungen als Stilmittel, das der Autor einerseits als «sowohl subtile als auch handfeste Praxis der Hervorhebung in einem laufenden Text» an der NZZ kritisiert (101), appliziert er andererseits selber passagenweise mit gnadenloser Penetranz. (Raffiniert ist das vorliegende Beispiel, weil das kursive «nicht wie» eine vorverschobene Kommasetzung notwendig macht. Der Satz wird dadurch zwar nicht geheimnisvoller, dafür holpert er prächtig.)

Mutter: Marqueur + Marionette. – Züfle als Puppenspieler: Er führt sich selbst als Marionette vor, stopft sie voll mit dem Sägemehl des biografischen Ballasts und versteckt sich im Fadenspiel der fiktionierten Faxen. Aber manchmal vergisst er, die Stimme zu verstellen (zum Beispiel bei der Abrechung mit dem «Kerl» Meienberg [216-219] oder jener mit dem «psychoanalytischen Sodom und Gomorrha» Zürich [322-339]).

«Vielleicht ist das falsch gedichtet.» (361) — Statt eine feststehende Erzählposition wählt Züfle ein langsam anlaufendes, danach sich stetig drehendes Erzähl-Karussell. Die ersten hundert Seiten referiert er als allwissender Erzähler ausserhalb der Geschichte. Dann ergreift plötzlich ein «Ich als Berichterstatter dieser ganzen traurigen Geschichte» (120) das Wort. Dieses «Ich» ist aber nicht Züfle, sondern, wie sich nach und nach herausstellt, ein Kollege von Mutter, ein «politisch engagierter Schriftsteller in diesem Land» (159), ein «Auch-Innerschweizer» (357), der, sich innerhalb des Romans bewegend über Mutter schreiben will. Im weiteren Verlauf der Geschichte gehen die allwissende (Züfle)-Perspektive und die nachforschende und spekulierende des Ich-Erzählers ununterbrochen kaleidoskopartig ineinander über. Einmal tut der Erzählende tiefe Blicke in das Innerste des Protagonisten, etwa, wenn er weiss, Mutter habe «das Gefühl, er sei zeitlich irgendwie zu sich selbst ins Abseits geraten» (212f); ein andermal kapriziert er sich auf eine höchst skrupulöse Erzählhaltung:«Ich liefere dem Leser (hier ist die Leserin bloss mitgemeint, andere Textpassagen sind «feminisiert», fl.) das Material, sehr unvollständig zudem, Knochen ohne Fleisch dran» (354).

«Scheinputsch». – Vom «Scheinputsch» ist immer wieder die Rede. Die Bedeutung des Begriff schillert bis zum Schluss in verschiedene Richtungen. «Das ist der Scheinputsch», kommentiert Kurt, ein Kollege von Mutter, dessen Ausspruch: «Wenn in der Schweiz in einer Volksabstimmung je eine Initiative zur Abschaffung der Armee angenommen würde, was sicher nie der Fall sein wird, hätte das einen Putsch von geradezu südamerikanischen Ausmassen zur Folge.» Aus diesem Satz destilliert Mutter seine Scheinputsch-Formel: «Wenn würde, sicher nie! hätte das zur Folge» (108f). An anderer Stelle ist der Scheinputsch aber nicht Spekulation oder  Formel, sondern etwas, das «im Hirn, in den Därmen Zeno Mutters» anfange (70). Bis zum Schluss bleibt «Scheinputsch» mindestens zweierlei: einerseits ein ins Politische gewendetes psychoanalytisches Postulat: «Wir haben Angst vor der Angst, und genau das macht uns Angst.» (245); andererseits die Feststellung,  dass die CH-Wirklichkeit einer schleichenden Veränderung, einem permanenten kalten Staatsstreich unterliege, was Willy Spieler in seiner «Scheinputsch»-Rezension paradox so umschreibt: «Schein ist der Scheinputsch deshalb, weil er gar nicht vorkommen wird, da er seinem Vorkommen zuvorkommt» («Neue Wege», 12/1989). Diese präventive Integration alles Querstehenden deutet Mutter so: «Man wird vorweggenommen in CH. Womit man selbst erst in Gedanken spielt, das wissen sie schon. So kommt Widerstand gar nie auf, sondern nur zum voraus kriminalisierter Verrat» (157). Das Bedeutungsfeld des Begriffs «Scheinputsch» ist begrenzt, so scheint mir, von der Unterdrückung und/oder Integration alles Gesellschaftskritischen, von demokratisch unkontrolliertem Umbau der Gesellschaft und von der leicht paranoiden Wirklichkeitswahrnehmung eines marginalisierten Intellektuellen.   

«Unsere Luftwaffe» der «CH». – Mutter redet nicht von Schweiz, sondern distanziert von «CH»: «(Er) verhunzte, der Negativling, der er in der Zwischenzeit geworden war, natürlich alles, indem er das CH grundsätzlich als rauhen Rachenlaut, als gutturalen Reibelaut, ‘chchch’, aussprach» (89). Andererseits lässt der Erzähler Mutter sich zum Beispiel in eine Diskussion um «unsere Luftwaffe» (211) verwickeln. Diese Ambivalenz zwischen Distanznahme und Dazugehörenwollen prägen den Roman als nicht aufgelöste Spannung bis in widersprüchliche Begrifflichkeit hinein. Ob sie Mutter, dem Ich-Erzähler, dem allwissenden Erzähler oder dem 54jährigen Zürcher Intellektuellen Züfle unterläuft, ist im Erzählpositionen-Labyrinth nicht zu entscheiden. Dass sie den Roman prägt, ist typisch: Viele der heute 50jährigen Schreibenden versuchen nach wie vor dauernd von «unserer Schweiz» zu reden. Dabei halten sie sich jedoch in einem fort kokett die rechte Hand vor den Mund. Für diese zwanghafte Pose brüsten sie sich dann als «Negativlinge». Die Schweiz ist aber immer «ihre» Schweiz, was denn sonst? Nieder mit dem Landigeist!

«Schön gedacht und wenig gesehen.» (198) – Passagenweise entsteht der Eindruck, der Erzähler glaube seine Erzählung selbst nicht. Immer wieder verfällt er ins Kommentieren: «Die ganze Geschichte hat, erst im nachhinein, auch etwas himmeltraurig Komisches an sich» (199), dekreditiert er, statt das «himmeltraurig Komische» himmeltraurig komisch zu erzählen. Das permanente metaerzählerische Absichern und Relativieren wirkt als kreisende Reflexions- und Kommentierungswalze, die immer wieder über die paar erzählten Episoden rollt, bis diese ideologisch planiert und mit einer Schicht linker Hälfte-des-Lebens-Larmoyanz überzogen sind. Das effektiv Erzählte zerfällt in unzusammenhängende Episoden. Der Protagonist bleibt schemenhaft, fragmentarisch. Die erzählerische Umsetzung des Zeno Mutter ist in der Mitte zwischen Idee und Figur steckengeblieben.

«Das ist für mich Schweiz, eine permanent aufgeschobene Drohung.» (291) – Einerseits: Das Ausufernde, Ungenaue, Redundante, Brüchige an Züfles Roman ist nicht in jedem Fall Identifikation brechende, widerständige, aufklärende Prosa, sondern für mich zu oft Ungenauigkeit und Inkonsequenz aus Hilflosigkeit oder Flüchtigkeit. Andererseits: Ich kenne kein anderes Buch, das die heutige prekäre Situation der kritischen Leute in den «CH»-Städten exemplarischer darstellt. Die achtziger Jahre haben ein spezifisches Lebensgefühl von Ausgegrenzt- und Überwachtsein ausgebildet. Dieses Lebensgefühl einer untergründigen existentiellen Bedrohtheit, die für gewöhnlich überdeckt wird von «unserer» Fähigkeit zur rationalisierten, «objektiven» Weltsicht, kommt in Mutters These zum Vorschein: «Die Angst ist das politisch Zentrale.» (235) Sie ist aktueller als «uns» lieb sein kann.

Manfred Züfle:«Der Scheinputsch», Roman, Zürich (Rotpunktverlag) 1989.

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