I wem gehört die sprache?

 

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«Als begriffliche und prädikative steht Sprache dem subjektiven Ausdruck entgegen, nivelliert das Auszudrückende auf ein je schon Vorgegebenes und Bekanntes vermöge ihrer Allgemeinheit. Dagegen begehren die Dichter auf. Ohne Unterlass möchten sie der Sprache, bis zu deren Untergang hin, das Subjekt und seinen Ausdruck einverleiben.» Theodor W. Adorno) [1]

 

 

in einem vortrag über die «Probleme der Lyrik» hat Gottfried Benn 1951 gesagt: «Da steht also ein solches Ich, sagt sich: ich heute bin so. Diese Stimmung liegt in mir vor. Diese meine Sprache, sagen wir, meine deutsche Sprache, steht mir zur Verfügung. Diese Sprache mit ihrer jahrhundertealten Tradition, ihren von lyrischen Vorgängern geprägten sinn- und stimmungsgeschwängerten, seltsam geladenen Worten. Aber auch die Slang-Ausdrücke, Argots, Rotwelsch, von zwei Weltkriegen in das Sprachbewusstsein hineingehämmert, ergänzt durch Fremdworte, Zitate, Sportjargon, antike Reminiszenzen, sind in meinem Besitz.»[2]

 

Benn ist davon ausgegangen, dass die summe all jener sprachlichen elemente, die er sich bewusst zu machen vermag, seine sprache sei, dass er sie besitze und als besitzer über sie verfügen könne. aber wer im gesellschaftlichen raum sprache nicht wirkungsvoll einsetzen und durch die kanäle, die «öffentlichkeit» bedeuten, zu steuern vermag, verfügt nicht über sie; wer die aktuellen bedeutungen umstrittener termini technici nicht seinen absichten entsprechend neu prägen kann, besitzt sie nicht. die besitzverhältnisse an der sprache werden mit Benns aussage mehr verschleiert als geklärt.

 

Theodor W. Adorno fasst das eigene an der kunstproduktion vorsichtigerweise nicht im material, sondern in den verfahrensweisen seiner bearbeitung. für ihn folgt «aus dem materialen Begriff der Moderne» die «bewusste Verfügung über die Mittel» und daraus die nötigung, immer neu «zum Äussersten zu gehen». deshalb sei «das Extrem von der künstlerischen Technologie geboten, nicht bloss von rebellischer Gesinnung ersehnt». das eigene verbirgt sich nicht im material selber, sondern im äussersten der künstlerischen technologie. da aber der «innerästhetische Fortschritt […] dem Fortschritt der ausserästheti-

 

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schen Produktivkräfte verschwistert» sei, ist «Kunst fortgeschrittensten Bewusstseins, in der die avanciertesten und differenziertesten Verfahrensweisen mit den avanciertesten und differenziertesten Erfahrungen sich durchdringen»[3] nur solange möglich,  wie «fortschritt» behauptet werden kann.

 

am ende des «fortschritts» ist auch der fortschritt in der materialbehandlung und damit die möglichkeit zum eigenen in der kunstproduktion am ende, wäre aber «fortschritt» immer möglich, müsste die künstlerische technologie das von Adorno geforderte «Extrem» notgedrungen irgendeinmal über die grenzen des materials hinaustreiben. was aber kommt nach der weissen leinwand, nach dem musikstück ohne musik, nach dem buch mit den weissen seiten? was kommt nach dem avantgardismus, der das extrem über die grenzen des materials hinausgetrieben hat, sodass nichts mehr bleibt als die theatralische pose des bläsers, der versucht, einen ton zu produzieren, der zwar in der partitur, nicht aber auf seinem instrument vorgesehen ist?

 

es gibt innerhalb des materials künstlerischer produktion keine nischen des extremen mehr, die zu mehr taugten, als zum saisonschlager der kulturellen konfektionsvantgarde. die moderne hat die letzten ernstzunehmenden randbereiche des materials antizipierend bearbeitet (und so für die verwertung in den bereichen warenästhetik, werbung und kulturindustrie nutzbar gemacht). wo die jeweils schnell abgedrängten avantgarden dieses jahrhunderts versucht haben, die negation des eindimensionalen technologischen horizonts durch materiale radikalisierung zu markieren, haben sie jeweils gleichzeitig ein rückzugsgefecht aus dem material als eigenem hinaus geliefert. am ende der moderne liegt Adornos «Extrem», dem ich «das eigene» sage, ausserhalb des zu bearbeitenden materials. vorab die spracharbeit verfügt nicht mehr über das material, mit dem sie arbeitet. im bereich des materials bewegt sich, wer schreibt, als untertan in besetztem land.

 

wenn es aber stimmt, dass das eigene, das «Extrem», nicht im material, sondern bestenfalls im avancierten umgang mit ihm, also nur in «fortschrittlicher» zeit gerettet werden kann; wenn es stimmt, dass auch die randbereiche des materials mittlerweile besetzt sind und deshalb kein neues mehr die unmöglichkeit des eigenen überdecken kann; wenn es stimmt, dass die aktuelle spracharbeit restlos von ihrem arbeitsmaterial entfremdet ist, dann wird die einfache frage nach den besitzverhältnissen am sprachmaterial zur entscheidenden: wem gehört die sprache? 

 

«Das müssten sich ja nicht nur die Lyriker und Lyrikerinnen fragen: Wem gehört eigentlich die Sprache? Ist es wie mit der Luft? Sie gehört allen, aber den Giftgehalt bestimmen die arbeitsplatzsichernden Giftmischer: Die Sprache gehört allen, aber was sie bedeutet, bestimmen… ja, wer eigentlich? Und bei einem Gedicht, in der abgehoben Sphäre des Dichtens und Webens? Hebt dort die Sprache auch ab, oder nur, wer schreibt? Gehört dort die verwende-

 

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te Sprache niemandem mehr oder gar dem Benützer, der Benützerin? Kann Sprache plötzlich wertfrei, rein werden? Wird auf dem sauberen Papier der hohen Gesinnung wieder sagbar, was einem von den Plakatwänden, schwallweise aus unberufenen Mündern oder durch den Fleischwolf der Medien gepresst anfällt und zusammenstaucht, grölend, verlogen, sabbernd vor Betrug?

 

                                                     Freiheit*

                                          * Das ist ein Gedicht.»[4]

 

seit ich mir 1983 als journalist im rahmen einer sammelbesprechung von lyrischen arbeiten die frage, wem die sprache gehöre, gestellt habe, habe ich lesend und beobachtend antworten gesucht.

 

1. antwort: die sprache gehört der gesellschaft – nie den einzelnen

 

1846 haben Karl Marx und Friedrich Engels in der «Deutschen Ideologie» festgestellt, dass der mensch zwar bewusstsein, aber nicht «reines» bewusstsein habe: «Der ‘Geist’ hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie ‘behaftet’ zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewusstsein – die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewusstsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen. […] Das Bewusstsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.»[5] in den «Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie» (1858) präzisiert Marx: «In Bezug auf den Einzelnen ist z. B. klar, dass er selbst zur Sprache als seiner eigenen sich nur verhält als natürliches Mitglied eines menschlichen Gemeinwesens. Sprache als Produkt eines Einzelnen ist ein Unding.»[6]

 

mitte der 60er jahre dieses jahrhunderts hat der sprachwissenschaftler Ferruccio Rossi-Landi den begriff der sprache marxistisch weiterentwickelt.[7] für ihn ist sprache «eine gesellschaftliche Form der Arbeit», «in erster Linie […] eine soziale Aktivität, die den Gebrauch kollektiver und gesellschaftlicher Techniken erfordert» und «in […] hunderttausenden Jahren gesellschaftlich entwickelt» worden ist. sie ist, «indem sie gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigt, nicht ein Instrument des Individuums, sondern der Gesellschaft», umsomehr als die individuellen beiträge zur sprache minimal seien. als solche rechnet Rossi-Landi

 

1. «das, was das Individuum ausnahmsweise dem Sprachbestand hinzufügt»;

 

2. den «Idiolekt» («individuelle Stilisierungen in der Konstruktion von Nachrichten»); 

 

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3. «die tautologische Behauptung der Tatsache, dass jeder Sprecher – selber spricht»;

 

4. die «physiologische Aktivität dessen, der artikulierte Laute aussendet oder empfängt».

 

für Rossi-Landi hat der «literarische Bestand und Reichtum jeder Sprachgemeinschaft» dementsprechend seinen stellenwert: er ist eine akkumulation von nachrichten die «in Gestalt von Kapital auf höherer Stufe» auftritt, «welches  dann auf weitere, komplexere sprachliche Arbeitsgänge, die innerhalb der betreffenden Sprachgemeinschaft mit ihrer Sprache ausgeführt werden, verfügbar ist». literarische spracharbeit erscheint bei ihm insofern, als sie dem gesamtgesellschaftlichen projekt sprache dient. darüberhinaus gilt allerdings Marxens verdikt: «Sprache als das Produkt eines Einzelnen ist ein Unding.»

 

das, was Adorno als aufbegehren der dichter beschreibt, die «ohne Unterlass […] der Sprache, bis zu deren Untergang hin, das Subjekt und seinen Ausdruck einverleiben» möchten, verwirft Rossi-Landi mit dem begriff der «Privatsprache». wer spreche, könne das, wolle er/sie verstanden werden, nur in von der gesellschaft vorgegebenen modellen tun, «die auf diese Weise als verfestigt und versteinert erscheinen», in einer sprache, die «in gewissem Masse als Produkt ideologisiert und als Instrument ideologisierend» sei. der versuch, sich dagegen im sinne einer privatsprache aufzulehnen, sei ganz hoffnungslos: «Sollte es ihm [dem sprecher, fl.] gelingen, diese Modelle abzulehnen, so droht ihm als Strafe nichts Geringeres als der Ausschluss aus der Sprachgemeinschaft: Wenn er nicht sprechen lernt oder eine persönlich abgewandelte Sprache spricht, wird er in der Tat nicht mehr verstanden und kann sich nicht mehr verständlich machen. Es ist dies der sprachliche oder kommunikative Tod […]. Zumindest als Möglichkeit steht er vor jedem, der radikal neue sprachliche Wege zu gehen versucht.»

 

wenn ich diesen «kommunikativen Tod» zusammendenke mit Adornos von der lyrik Hölderlins inspirierten formulierung von der «Gefahr der Sprache»: «an ihr kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren Wahrheitsgehalt zu verhökern»[8], dann folgt: dort, wo sprache «wahr» zu werden beginnt, ist, wer spricht, vom kommunikativen tod bedroht. dies hat das lyrische bemühen um ein eigenes – als das lyrisch wahre – in der sprache immer schon zur tendenziell selbstzerstörerischen unternehmung gemacht.

 

heute gelten bemühungen um das eigene am sprachmaterial der gesellschaft als kunst und als geisteskrankheit zugleich. dass einerseits solche kunstprodukte (z. b. die dadaistischen oder die hermetischen) in diesem jahrhundert immer wieder als krankhaft, andererseits arbeiten von sogenannt geisteskranken zunehmend als eigenständige kunst[9] wahrgenommen werden, zeigt, dass die sprachnormalität zwischen kunstprodukt und dem, was sie als geisteskrank bezeichnet, immer weniger unterscheiden kann oder will. jede gesellschaftlich

 

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marginalisierte, dissidente spracharbeit verfällt gleichermassen dem kommuniktiven tod, weil sie nicht «normal» ist. das wesen der sprachnormalität aber ist sprachherrschaft.

 

2. antwort: die sprache gehört der herrschaft – nie den beherrschten

 

in der «Genealogie der Moral» hat Friedrich Nietzsche 1887 festgehalten: «Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen ‘das ist das und das’, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.»[10] zwei aspekte zeichnen die von herrschaft in besitz genommene sprache aus: sie ist kontrollierbar und sie ist «eindimensional».

 

zur kontrollierbarkeit: nach Rossi-Landi ergibt sich herrschaftssprache aus «sprachlichem Privateigentum»[11] (nicht zu verwechseln mit «Privatsprache»), das in drei dimensionen «im Besitz der herrschenden Klasse» ist:

 

«(I)    Kontrolle des oder der Codes und den Formen der Codierung;

 

(II)     Kontrolle der Kommunikationskanäle, das heisst der Formen der Zirkulation von Nachrichten;

 

(III)   Kontrolle an den Formen der Decodierung und der Interpretation.»

 

durch diese kontrollmechanismen wird es möglich, den nachrichtenfluss manipulativ zu steuern, d.h. mittels sprache illusionäre wirklichkeit (ideologie) herzustellen: «Die herrschende Klasse steigert die Redundanz derjenigen Nachrichten, die ihre Stellung befestigen, und sie überfällt fie Zirkulation derjenigen Nachrichten, die ihre Stellung schwächen könnten, mit Lärm oder mit regelrechten Störungen, wo es ihr nötig erscheint.» mit anderen worten: nur aus der position der sprachherrschaft heraus wirkt sprache funktional, stehen aussage und wirkung des ausgesagten in einem ungebrochenen Verhältnis (nur wer herrscht, verfügt über eine nicht-entfremdete sprache).

 

die «öffentlichkeit», in der sich dieser sprachgebrauch entwickelt, ist ein umfassendes netz von institutionalisierten und deshalb kontrollierbaren kommunikationskanälen. wer über sie nicht verfügt, wer ausserhalb dieser kanäle redet, kann dies zwar nach belieben tun; für die «öffentlichkeit» bedeutet solche sprache nichts als ein leicht störendes rauschen.

 

zu beschreiben, wie die «herrschende Klasse» ihre herrschaft über die sprache ausübt, ist umso einfacher, je monopolisierter herrschaft erscheint, am einfachsten demnach in totalitären strukturen. der sprachwissenschaftler Victor Klemperer hat die gesamte zeit des nationalsozialismus in Dresden miterlebt und 1947 sein «Notizbuch eines Philologen»[12] publiziert. nach seinen beobachtungen seien es «nur ganz wenige einzelne» gewesen, «die der Gesamtheit das alleingültige Sprachmodell lieferten». und weiter: «Ja, im letzten war es

 

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vielleicht der einzige Goebbels, der die erlaubte Sprache bestimmte». es habe damals eine «absolute Herrschaft» gegeben, «die das Sprachgesetz der winzigen Gruppe, ja des einen Mannes ausübte», das «sich über den gesamten deutschen Sprachraum mit umso entschiedenerer Wirksamkeit [erstreckte], als die LTI [Lingua Tertii Imperii, fl.] keinen Umterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache kannte». vermutlich hätte nie ein mensch mit mehr recht sagen können, er habe eine eigene (deutsche) sprache, als der nationalsozialistische propagandaminister Joseph Goebbels.

 

zur eindimensionalität: unter dem titel «Der eindimensionale Menschen» hat Herbert Marcuse 1964 verschiedene «Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft» zusammengefasst, deren eine die sprache, «die Absperrung des Universums der Rede»[13], betrifft. als «eindimensionale Sprache» analysiert er eine «rituell-autoritäre» mit den funktionen der manipulation und der kontrolle: «Nicht nur reflektiert die Sprache diese Kontrolle, sondern sie wird selbst dort zu einem Kontrollinstrument, wo sie nicht Befehle, sondern Information übermittelt; wo sie nicht Gehorsam, sondern Wahl, keine Unterwerfung, sondern Freiheit erfordert.» dieser sprache schreibt er folgende charakteristika zu: «Verkürzung der Begriffe in fixierten Bildern, gehemmte Entwicklung in hypnotischen Formeln, die sich selbst für gültig erklären, Immunität gegen Widerspruch, Identifikation des Dings (und der Person) mit seiner Funktion […]. Die vereinheitlichte, funktionale Sprache ist eine unversöhnlich antikritische und antidialektische Sprache. In ihr verschlingt die operationelle und verhaltensmässige Rationalität die transzendenten, negativen und oppositionellen Elemente der Vernunft.»

 

der immunisierte widerspruch in der sprache führt dazu, dass sie nichts mehr bedeutet, «dass die Menschen nicht daran glauben oder nichts darauf geben und doch entsprechend handeln». wo herrschaftssprache erscheint, wird gehorcht, abgesehen davon, was sie sagt. ihr kognitiver gehalt wird vernachlässigbar (egal, ob der militärische vorgesetzte zur beförderung oder zum strafexerzieren ruft: es wird haltung angenommen). wenn herrschaftssprache zu reden beginnt, ist die diskussion am ende.

 

über die konsequenzen für die literarische spracharbeit im universum der herrschaftssprache hat Max Frisch verschiedentlich gesprochen [14]. gegenüber von herrschaft und ihrer sprache sei literatur zwar keine «Gegenmacht», aber «eine Gegen-Position zur Macht. Das ist ja etwas anderes. Als ich einmal mit Bundesrat Furgler eine öffentliche Diskussion hatte […], sagte er: Aber der Schriftsteller, Herr Frisch, hat doch die Macht des Wortes! Das meinte er als Trost, kollegial sozusagen.» Frisch fordert als literarische sprache eine «Gegensprache»: «Jede Literatur, die diesen Namen verdient, konfrontiert oder unterwühlt die Herrschaftssprache.» paradoxerweise muss, wer gegen die herrschaftssprache anschreibt, diese reden, um verstanden zu werden.

 

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versucht werden muss, die herrschaftssprache gegen sich selber zu wenden, sie durch sich selbst zu dementieren. ihr ein eignes gegenüberzustellen, hiesse in dieser perspektive nichts anderes, als sich aus dem herrschenden diskurs abdrängen, sich entpolitisieren zu lassen. (deshalb ist der spracharbeit, die sich als politisch versteht, lyrik oft fremd oder gar suspekt.)

 

dieser zweiten antwort rechne ich gleichwertig andere antworten zu, die sprache ebenfalls als herrschaftsinstrument eines machtzentrums analysieren, dieses aber anders benennen, z. b.:

 

• die sprache gehört dem patriarchat – nie den frauen. – im anschluss an die feministische linguistik wäre hier «Das Deutsche als Männersprache» [15] dazustellen. die literarische «Gegensprache» hier: die arbeiten der schriftstellerinnen, sofern sie sich nicht mit der männersprache identifizieren.

 

• die sprache gehört der vernunft – nie den wahnsinnigen. – im anschluss an Michel Foucault [16] wäre die herrschende sprache als vernunft darstellbar, die den wahnsinn über jahrhunderte konsequent zum schweigen gebracht hat. erst als sie im 19. Jahrhundert ihre herrschaft stabilisiert hat, sei «die Sprache des Wahnsinns» von neuem entstanden, und zwar «als lyrischer Ausbruch». 

 

ohne eigene sprache

 

während meiner auseinandersetzung mit der frage, wem die sprache gehöre, habe ich kein erklärungsmodell gefunden, das auf eine plausible art das sprachmaterial als eigenes beschrieben hätte. daraus habe ich abgeleitet, dass es bei der produktion von lyrischer sprache hier und heute zuletzt um die verteidigung eines illusionären eigenen – das nie mehr sein würde als «jargon» oder «idiolekt» – gehen könne, sondern im gegenteil um die frage, wie lyrische produktion möglich bleibe, obschon keine eigene sprache denkbar ist.

 

zuerst bin ich ausgewichen: weshalb sollte die frage nach den besitzverhältnissen an der sprache derart zentral sein? gehört es nicht zur dichterichen freiheit, die sprache als «diese meine deutsche Sprache» (Benn) zu benutzen? – andererseits: kann die dichterische freiheit darin bestehen, dass ich keine gewähr habe, das wirklich gesagt zu haben, was ich eigentlich hätte sagen wollen? nur wenn ich die besitzverhältnisse am material kenne, kenne ich seine möglichkeiten und seine grenzen (die es mir aufgrund meines gesellschaftlichen und historischen ortes bietet); und nur wenn ich diese kenne, kann ich abschätzen, was ich sage. sonst bedeutet das gesagte irgendetwas, alles mögliche eben, und wenn ich pech habe das gegenteil. die dichterische freiheit müsste gerade darin bestehen, dass ich wissen kann, dass ich das nicht-integrierbare, also das systemisch falsche sage (das kunsthandwerk am bau der herrschenden verhältnisse braucht andererseits keine dichterische freiheit,

 

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sondern einen anständigen zahltag). dieses wissen erlange ich aber nicht mit ungefährem anreden gegen die ungerechtigkeiten der welt, sondern einzig durch präzise kenntnis des materials.

 

je mehr ich begriffen habe, dass es um nichts anderes gehen kann als um eine lyrik ohne eigene sprache, desto mehr ist die sprache ins zentrum meiner überlegungen gerückt. halbbewusst habe ich eine art paradigmawechsel, einen «linguistic turn» vollzogen: von der bisherigen lyrischen darstellung von welt mittels sprache bin ich allmählich übergegangen zur darstellung von sprache mittels welt. ich habe begriffen, dass das problem (auch) der spracharbeit nicht die welt, sondern ihr material ist und dass daraus nicht eine entpolitisierung der weltsicht folgt, sondern die politisierung des umgangs mit dem arbeitsmaterial: sprache ist niemals naturgewachsenes verfügbares: sie ist gesellschaftlich gewordenes, «praktisches» bewusstsein in der lebensweltlichen kommunikation und konstituierendes herrschaftsinstrument jedes systems (ich vermute, dass die beiden antworten, die ich auf meine ausgangsfrage gefunden habe, sich nicht widersprechen, sondern – projiziert auf Jürgen Habermas’ gesellschaftstheoretische komplementärbegriffe «Lebenswelt» und «System» – darauf verweisen, dass Sprache «Sozial-» und «Systemintegration»[17] leistet). 

 

irgendeinmal nannte ich die produkte einer lyrik ohne eigene sprache «poetische konstellationen». um aus der sicht der lyrikproduktion die möglichkeiten dieser vorläufigen, pragmatischen antwort auf die frage, wem die sprache gehöre, zu erforschen, bin ich anschliessend übergegangen zur praxis.

 

[1] Theodor W. Adorno: Parataxis – zur späten Lyrik Hölderlins. Gesammelte Werke 11, FfM. 1984, 477.

[2] Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. Gesammelte Werke 4, Wiesbaden 1968, 1082.

[3] Adorno: Ästhetische Theorie. FfM. 1973, 56f.

[4] fl.: Wem gehört die Sprache? WoZ, Nr. 18/1983.

[5] Karl Marx/Friedrich Engels: Deutsche Ideologie. Berlin 1983, 30f.

[6] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, 390. 

[7] Ferruccio Rossi-Landi: Sprache als Arbeit und als Markt. München 1974. – Im folgenden der gleichnamige Aufsatz, 59-101.

[8] Adorno: Parataxis. a.a.O., 459.

[9] Zum Beispiel wird neuerdings das umfangreiche Schaffen Adolf Wölflis «entdeckt», vgl. Adolf Wölfi: Von der Wiege bis zum Graab. FfM. 1985.

[10] Friedrich Nietzsche: Genealogie der Moral. München 1972, III/219. 

[11] Rossi-Landi, a.a.O. – Im folgenden der Aufsatz: Kapital und Privateigentum in der Sprache, 229-255.

[12] Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975, 28.

[13] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Zürich o.J. – Im folgenden 104-123.

[14] Im folgenden die Interviews mit Max Frisch in KONKRET 4/1983 und WoZ 41/1986.

[15] Luise F. Pusch: das Deutsche als Männersprache. FfM. 1984.

[16] Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. FfM. 1969, Zitat: 545.

[17] Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. FfM. 1985, II/226.

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