III Traum

 

[17]

Angst

Zur Nacht ein Schrei wie tiefer Fall,

ein aufgerissnes Augenpaar;

zur Nacht ein Schrei durch Zeit und All,

der vor dem ersten Menschen war.

 

Zur Nacht ein Schrei wie Höllentor,

aus schwarzem Rachen Feuerglut,

wie Flammenschweif und Meteor,

wie Stille und erstarrtes Blut.

 

Zur Nacht ein Schrei, der Traumgestalt,

der Totenlied und Klagelaut,

der dröhnt und stöhnt und hallt und hallt. – 

 

Die Stille hat sich aufgestaut:

Noch hat der fahle Tag Gewalt.

Nur nächtlich wird das Stumme laut.

(11.6.1974, 12.1976)

 

Hetzjagd

Geifernde Mäuler und blutige Zähne;

heulende, hetzende, hungrige Meute;

jagende Wölfe mit zottiger Mähne

und ich die einzige klägliche Beute.

 

Vor mir im Nebel die ziehenden Schatten:

Moore, Moraste voll schwefliger Dämpfe,

voll giftiger Schlangen und ekliger Ratten,

voll brüllender Forderung: Stirb oder kämpfe.

 

Ich steh auf der Grenze, gefangen, allein.

Bin Opfer – bin alles – nur Held bin ich nicht

und stehe und denke: «Es muss wohl so sein:

 

Der Starke wird Mörder, der Schwache zerbricht.» –

Die Meute erspähte mich, holte mich ein;

die Tiere berochen und frassen mich nicht.

(16.6.1974, 12.1976)

 

[18]

Marathon

Mir wartet nur der Höllenhund. – 

Vom Tod gehetzt aus Marathon

tu ich es allen Griechen kund:

Mein Leichnam trug den Sieg davon.

 

Der Zweig des Ölbaums blutig rot:

Zu meinen Füssen singt Athen

und weiss, dass alle Söhne tot,

und ich allein hab sie gesehn.

 

Kein Sieg! Betrogne Kinder nur!

Wer sinnlos in den Hades fuhr,

flucht Fahneneid und Treueschwur,

 

der schreit es laut mit bittrem Hohn:

«Kein Sieg, kein Sieg bei Marathon:

Mein Leichnam trug den Sieg davon!»

(12.6.1974)

 

Schweigen

An herbstlich golddurchströmtem Sonnentage

begegnete ich mir im Buchenhain

unter dem Baldachin der grossen Frage,

um hier mit mir allein allein zu sein.

 

Wir schwiegen. Doch in meinen Buchenhallen

hing das Verbrechen, das Schweigen zu brechen,

und wie ein Fluch rief ich ins Dämmerfallen:

Es müsste jetzt noch möglich sein zu sprechen.

 

Im feuchten Laub sass ich mir gegenüber,

und wie ein Eichhorn schwang sich durchs Gezweig

mein Schweigen. – Ich wandte mich zum Gehn:

 

«Jenseits der Sprache treffen wir uns wieder.»

Ich sagte: «Ja, das wird ein Wiedersehn!»

Ich sagte in dem Hain verschwindend: «Schweig!»

(25.11.1976)

 

 

[19]

Ausgestreckt

Gespenster und verhüllt Gesichte,

die im Schmerz des Ursprungs wohnen;

fahles Land im Dämmerlichte

traumverzerrter Illusionen.

 

Schattenbilder voller Narben,

schmerzentstellte Frühlingslieder, 

skorpionenhafte Farben,

süsses Gift von frühem Flieder.

 

Vorgezeichnet, abzugehen,

Inhalt ausgesteckter Kreise,

tränenloses Sein, Vergehen,

 

schleierhaft, sprachlos und leise. –

Nur ganz selten sanftes Wehen:

Abglanz einer lichten Weise.

(14.5.1974, 12.1976)

 

Winterreise

«Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemand gutzumachen.» (Franz Kafka)

Tribut der Kälte: Schnaps und Zigaretten,

erstarrtes Lächeln hängt im Frost der Pflichten.

Und bräunlich-rot, wenn sich die Schatten lichten,

erglänzt der Rost an deinen alten Ketten.

 

Der Alkohol wärmt längst verdorbne Speisen.

Das Jammertal liegt abseits aller Karten.

Und statt im Vakuum auf nichts zu warten,

gehst du jetzt mit dem Nichts auf Reisen.

 

Die Schlittenfahrt des Doktors dauert an.

Du lachst am Wein: Wer je nach Grossem sann,

ging letzthin zu den Zwergen ein.

 

Das Wörterbuch der Nächte rasselt hohl;

und deine letzten Worte werden wohl

ein seufzend-leises Kettenklirren sein.

(2.1975, 12.1976)

 

[20]

Weihnacht II

«So gäbe es ausserhalb unserer Welt Hoffnung?» Er lächelte: «Viel Hoffnung – für Gott – unendlich viel Hoffnung –, nur nicht für uns.» (Max Bord/Franz Kafka)

Jahrelang Ehefrau, Mutter, zwei Kinder,

Lehrerin, vierzig und stark depressiv.

An Heiligabend wirst du nun begraben,

weil der Allmächtige dich von uns rief.

 

An Weihnacht sieht alles so festlich aus,

weil einmal an Weihnacht ein Wunder geschah.

Du schicktest Mann und Kinder aus dem Haus;

es warn genügend Schlaftabletten da.

 

Du schlucktest Tabletten und legtest dich hin,

dein Ehemann fand dich am Abend schon kalt.

Man bringt sich doch nicht um. Das ist nicht fein.

 

Die Menschen verstehen dich nicht, Lehrerin.

Die Kinder! Verantwortung! Schattengestalt!

Es muss wohl wieder einmal Weihnacht sein.

(21.12.1975)

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