Warum die Brechbühlerstrasse Gallistrasse heissen sollte

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Beschreibung

 

«Hier wächst Berns Zukunft», versichern im Schönberg Ost die Mössinger Immobilien. 16 Mehrfamilienhäuser stehen schon, und ein imposanter Gerüstwald signalisiert: bis 2018 sollen weitere 38 Mehrfamilienhäuser dazu kommen. Im Bau ist zudem im Moment entlang der Autobahn zwischen Wankdorf und Ostring ein schmales, 250 Meter langes Demenzzentrum mit grosser Palliativabteilung. So können sich Demenzkranke und Sterbende immerhin noch nützlich machen als Lärmschutzriegel für den konsolidierten Mittelstand, der hier für die ruhige Alpensicht ziemlich tief in die Tasche greift.

Hätte es dem zuständigen PR-Büro gedient, hätte es auch behaupten können: «Hier ruht Berns Vergangenheit.» Denn schaut man in den Mülleratlas von 1797/98 gibt es im Osten von Bern zwar weit und breit keinen «Schönberg», dafür ein weitläufiges «Galgenfeld». Hier, am höchsten Punkt von Bern, standen seinerzeit der «Rabenstein» zum Köpfen und der Galgen «untenaus» zum Hängen. Im August 2009 sind hier im Umfeld des Galgensockels Knochen von 45 Hingerichteten ausgegraben worden.[1] Laut Armand Baeriswyl, dem Untersuchungsleiter des kantonalen Archäologischen Diensts, konnten diese Knochen unterdessen zwischen 1200 und dem 17. Jahrhundert datiert werden. Daraus kann man zum Beispiel lernen, dass hier schon die Bauarbeiter der eben – 1191 – gegründeten Stadt vom Scharfrichter zur Räson gebracht worden sind.

Und genau hier, wo nun – Resultat der «1. Bauetappe» – die neue Brechbühlerstrasse neben Mehrparteienhäusern auch eine Kindertagesstätte umrundet, stand der Galgen, an dem am 25. Oktober 1653 der Bauernführer Ueli Galli vom Eggiwil hingerichtet und zur Abschreckung hängen gelassen worden ist. Als Gallis Leichnam im nächsten Frühling von Unbekannten, vermutlich mit einem Schwert, geköpft und so heruntergeschlagen worden ist, liessen die Herren des Rats von Bern der halb verwesten Leiche flugs eine Kette unter den Armen durchziehen und sie daran erneut aufhängen. Den Kopf hatte der Henker am Rumpf wieder anzunageln, als Warnung für den emmentalischen Landpöbel, der übers Galgenfeld in die Stadt z'Märit zog. Das Verbrechen des 65jährigen Galli bestand übrigens darin, dass er sich mit anderen gegen einen himmeltraurigen Beschiss der Stadtaristokratie zu wehren versucht hat: Jene hatte im November 1652 eine Geldabwertung um die Hälfte in einer Art durchgesetzt, dass der Schaden vor allem zulasten der Landbevölkerung ging und viele Bauern in den Ruin getrieben wurden. (2)

Schön, dass im Schönberg Ost heute muntere KITA-Knirpse Fussbällen nachrennen. Am 12. Mai 1654 hätten sie hier vielleicht mit dem Kopf eines anständigen Mannes spielen wollen, von dem in der Stadt ja sowieso alle sagten, der sei bloss ein «Erzrebell» gewesen. Eigentlich sollte man Leute wie Ueli Galli nicht vergessen: Bern hat ja nicht nur eine Zukunft, sondern auch eine Vergangenheit. Und nur, wer weiss, wie die Gegenwart geworden ist, kann abschätzen, was aus ihr werden könnte. – Daran möchte ich an dieser Stelle von nun an ab und zu erinnern, wenn's recht ist.

[1] Ausführlicher: Armand Baeriswyl/Susi Ulrich-Bochsler: Bern, Brechbühlerstrasse 4-18, Schönberg Ost. Die bernische Richtstätte «untenaus». In: Jahrbuch des Archäologischen Dienstes des Kantons Bern 2010, S. 50-55.

[2] Urs Hostettler: Der Rebell vom Eggiwil. Aufstand der Emmentaler 1653. Eine Reportage. Bern (Zytglogge) 1991, S. 682 + 696 f., sowie S. 166 ff.

Aktuell

Zum Projekt

 

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