Die Sache mit dem Kulturinfarkt

Der Blätterwald hat aufgerauscht: Pro Helvetia-Chef Pius Knüsel hat zusammen mit drei deutschen Professoren das Buch «Der Kulturinfarkt» geschrieben. Weil darin die Schliessung der Hälfte aller Kulturinstitutionen vorgeschlagen wird, riskiert Knüsel als führender Kulturmanager der Schweiz, von der Sparpolitik beim Wort genommen zu werden. Ein Skandälchen?

«Aber ich darf mich doch nicht von der Angst leiten lassen, die SVP könnte mich instrumentalisieren», hat sich Knüsel in der «NZZ am Sonntag» verteidigt. Abgesehen davon ist er ja nicht dumm: Die Pro Helvetia verfügt noch bis 2015 über einen Rahmenkredit, der jährliche Tranchen von rund 35 Millionen Franken garantiert. Bis das Parlament den nächsten Rahmenkredit verhandelt, ist das Buch vergessen und Knüsel voraussichtlich nicht mehr im Amt: Ein Pro Helvetia-Mitarbeiter vermutet im Gespräch, sein Chef habe mit der Polemik vor allem etwas für seinen möglichst lukrativen Abgang in die Privatwirtschaft getan.

Postwendend haben die Medien den «Kulturinfarkt» als «Theseninfarkt» bezeichnet (Tages-Anzeiger), als Buch mit einem «Feindbild», «das mit der Realität wenig zu tun hat» (Zeit online). Das sind Schnellschüsse. Das Unangenehme an diesem Buch ist ja, dass es zwar mit dem «Aufbau einer wertschöpfenden Kulturwirtschaft» tatsächlich einen kulturfeindlichen «neoliberalen Befreiungsschlag» (WOZ) einfordert. Aber das beschriebene Malaise gibt es.

Es stimmt, dass seit Jahrzehnten die Kulturalisierung der Gesellschaft als fortschrittlich gilt. Die Kulturpolitik hat deshalb ein subventioniertes Feld der Kulturproduktion gross werden lassen, das vor dem Marktzwang zur Massenware geschützt worden ist, auf dass die entstehende «Kultur für alle» die ganze Bevölkerung ästhetisch erziehe. Es stimmt, dass dieser Versuch der bildungsferneren Mehrheit der Bevölkerung ziemlich egal geblieben ist. Und es stimmt auch, dass auf diesem subventionierten Feld viele Pfründen entstanden sind, die von lohnabhängigen Kulturmanagern verwaltet werden, die ihr Geld auch dannbekommen, wenn ihr Angebot kein Publikum findet.

«Der Kulturinfarkt» ist, so meine ich, weniger ein «neoliberaler Befreiungsschlag» als ein Tabubruch: Das Buch hält dem Asterix-Dörfchen der Kultürler den Spiegel vor. Und die Wirklichkeit, die darin zu sehen ist, zeigt: Die wirkungsvollste Kultur in Mitteleuropa ist nicht die ihre, sondern der neoliberale Markt. Warum sollte unter den Vorzeichen dieser wirkungsvollsten Kultur die «wahre Kultur» nicht zuallererst als «Ware Kultur» verhandelt werden? Und warum sollte nicht auch in dieser Branche verlumpen sollen, wer am Markt vorbei produziert?

Als konstant ziemlich erfolgloser Buchautor habe ich mir auf solche Fragen meine eigene Antwort zurechtgelegt: Das, was ich für die «wahre Kultur» halte, taugt als «Ware Kultur» nicht. Dumm für mich, aber nicht schlimm für die Sache. Denn die Ware kann auf das Wahre sowieso nur hinweisen. Kultur, die hinter einem Kassenhäuschen Produkte feilbietet, mag besingen, was sie will – zuerst singt sie immer das Loblied auf die Allmacht des Marktes. Und das ist ein wenig wenig.

Aber was dann? Ich sage mir: Kultur – auch das, was ich mir herausnehme, dazu beizutragen – beginnt dort, wo der Markt aufhört. Kultur ist Prozess, nicht Produkt. Dieser Text hier zum Beispiel ist als kulturelle Ware nichts wert als die 150 Franken, die ich als Verfasser dafür bekomme. Aber er verweist auf den Prozess, der mir, angeregt durch die Schreibarbeit, im Kopf gelungen ist. Dieser Prozess ist völlig wertlos nach den Kriterien des Markts, aber mein kultureller Gewinn.

Morgens vor dem Spiegel sage ich mir manchmal: Konsumiere nicht, tu was!

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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