Schurnis schreiben nie Verschwörungstheorie

Als ich 1981 journalistisch zu schreiben begann war es so: Kritisch-anwaltschaftlicher Journalismus betrieb man um den Preis des Verzichts auf branchenüblichen Verdienst. Entsprechend leisteten es sich nur unverbesserliche GesinnungstäterInnen, diese Arbeit länger als ein paar Jahre zu machen. Wer danach beim Journalismus blieb, wechselte zum unkritisch-anwaltschaftlichen Journalismus, der sich selber als der professionelle und objektive verstand. Man nannte ihn auch den «bürgerlichen», weil sein Kerngeschäft der moderat kritisch gefederte Verlautbarungsjournalismus für Behörden und Wirtschaft war. Gegen Ende des Kalten Kriegs standen hierzulande kritisch-anwaltschaftliche GesinnungstäterInnen – teils in alternativen Projekten, teils als Freie – den unkritisch-anwaltschaftlichen gegenüber, die als Angestellte der privaten und öffentlich-rechtlichen Medienindustrie arbeiteten.

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Mit dem Ende des Kalten Kriegs um 1990 wurde eine andere Frontstellung rasch wichtiger: All jene, die mit Gesinnungstäterei nichts am Hut hatten, sondern es mit Journalismus finanziell und gesellschaftlich zu etwas bringen wollten, nahmen die Jahre auf einer Redaktion nur noch in Kauf, um möglichst schnell in die «Öffentlichkeitsarbeit» wechseln zu können. Öffentlichkeitsarbeit heisst politische, kommerzielle oder ideologische Propaganda, die man bis heute gerne auch als «Public relations« bezeichnet. Damals galt als Faustregel: Im Vergleich zum unkritisch-anwaltschaftlichen Journalismus bringt PR finanziell das Doppelte, und gesellschaftlich öffnen sich Türen, die sonst verschlossen bleiben würden.

Ehemalige Schurnis waren ja als «MediensprecherInnen» immer schon begehrt: Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie der Informationsbrei gewürzt und vorgekaut werden muss, damit ihn die ehemaligen KollegInnen ohne unangenehme Rückfragen schlucken, mediengerecht verdauen und anschliessend als neuste journalistische Objektivität öffentlichkeitswirksam wieder von sich geben. So wie es in der Finanzindustrie Geldwäsche gibt, lernte ich, gibt es in der Medienindustrie immer professioneller betriebene Informationswäsche.

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Unter dem Titel «Meister der Verdrehung» schrieb der Spiegel Nr. 31 im Sommer 2006 gestützt auf Aussagen von Medienwissenschaftlern, dass «mindestens 40 Prozent der Informationen einer Tageszeitung […] von PR-Agenturen oder aus den Marketingzentralen von Unternehmen, Behörden und Verbänden» stammten. Der Medienwissenschaftler Michael Haller schätzte ebendort, dass in Deutschland rund 30'000 Politik- und WirtschaftsjournalistInnen 15’000 bis 18'000 PR-Leuten gegenübergestünden.

Neun Jahre später, in der NZZ vom 30. Juni 2015, verwies der Medienwissenschaftler Stephan Russ Mohl auf Statistiken des amerikanischen Arbeitsministeriums, wonach in den USA die PR-Leute gegenüber den JournalistInnen «inzwischen in einer vier- bis fünffachen Übermacht» seien.

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Sicher ist diese Übermacht hierzulande bedeutend kleiner, aber der Trend ist zweifellos der gleiche: Die journalistische Hegemonie, das Monopol auf der gültigen Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeit zuhanden der öffentlichen Diskurse zu haben, wird abgelöst von der propagandistischen Hegemonie – Journalismus spezialisiert sich auf die Transmission dieser Diskurse mittels Hochglanzinformationswäsche.

Man kann diese Entwicklung als bedauerlichen Nebeneffekt des Spiels der freien Marktkräfte beschreiben – in der PR-Branche gibt es einfach mehr Geld – und die weniger werdenden Schurnis ermuntern, trotz alledem den edlen Dienst an der Vierten Gewalt im Staat weiterhin getreulich zu erfüllen. Aber das ist verlogen. Marktkräfte wirken ja weder frei noch naturwüchsig, sondern folgen aus strategischen und operativen Steuerungsentscheiden der Akteure auf dem Markt. Darum ist die Hegemonie der politischen, kommerziellen und ideologischen Propaganda über den Journalismus nicht Schicksal, sondern von Menschen gemacht.

Das finanzielle Anreizsystem, mit dem seit Jahrzehnten ein bedeutender Teil der JournalistInnen für die PR eingekauft wird, kann sehr wohl auch als langfristige Investition der Akteure gesehen werden, die Medien – der «freien» Marktwirtschaft entsprechend ohne explizite Zensur oder Repression – als kritisches Gegenüber handzahm zu machen und für die eigenen Interessen bestmöglich zu instrumentalisieren. Der Niedergang der Printmedien hat die Früchte dieser Investitionen in den letzten fünfzehn Jahren erfreulich reifen lassen.

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Dabei bin ich nicht der Meinung, alle Schurnis seien unfähig oder grundsätzlich korrupt. Höchstens meine ich, sie könnten im Durchschnitt so naiv sein zu meinen, ihre Arbeitsbedingungen erlaubten es ihnen jederzeit, die manipulativen Möglichkeiten jener Propaganda zu durchschauen, die sie immer mehr zum Ausgangsmaterial ihrer Beiträge machen müssen. Aber auch wenn dieses Ausgangsmaterial aus lauter sachlich präsentierten «harten» Fakten bestünde: Es ist eben nicht so, dass diese schon eine faire, sachgerechte, angemessene oder gar «objektive» journalistische Darstellung garantieren würden.

Die journalistische Erzählung hängt massgeblicher von der Narration und vom Framing ab:

Manipulieren kann man nicht nur, indem man Fakten verdreht, unterschlägt oder erfindet, sondern auch, indem man die narrative Struktur der journalistischen Erzählung mit den propagandistischen Interessen in Einklang bringt. Mit den gleichen paar Fakten, aus denen ein durchschnittlicher Beitrag geschustert wird, werden zehn verschiedene Schurnis zehn mehr oder weniger verschiedene Beiträge schreiben. Die Texte gleichen sich erst an, wenn weitergehend Einfluss genommen wird: Erzähl so, dass dieses Faktum als Skandal oder jenes als herausragende Leistung erscheint; erzähl so, dass die Neuigkeit möglichst übersehen oder unterschätzt wird etc. Setzt man Schurnis zudem genügend unter Zeitdruck, so werden sie mit grosser Wahrscheinlichkeit das Narrativ der schriftlichen Unterlagen übernehmen, das man ihnen auf den Schreibtisch spielt.

Ideologisch am stärksten gesteuert werden kann aber mit Framing. Frames sind die grösseren Zusammenhänge, von denen jede Berichterstattung insinuiert, sie bildeten den massgeblichen Deutungsrahmen für das aktuell Berichtete. Ein Frame ist der journalistisch insinuierte Bedeutungszuwachs durch Verweis auf möglichst grosse und entsprechend nebulöse Zusammenhänge – vom para-rationalen Effekt her vergleichbar mit poetischen Metaphern.

Nehmen wir ein Beispiel, das mich schon länger fasziniert – eine Episode aus dem unterdessen Bibliotheken füllenden 9/11-Narrativ: Bekanntlicherweise sind am 11. September 2001 in New York zwei Flugzeuge in zwei Hochhäuser geflogen und am Ende des Tages waren drei Hochhäuser eingestürzt. Ohne von einem Flugzeug getroffen worden zu sein, brach auch das WTC7 in sich zusammen – laut offizieller Version wegen eines Brandes, laut vielen Fachleuten vermutlich durch kontrollierte Sprengung, weil auf der ganzen Welt bis zum heutigen Tag noch nie ein anderes Stahl-Skelett-Hochhaus wegen eines Brandes quasi im freien Fall implodiert ist. Als Journalist fasziniert mich an dieser Geschichte ein nebensächliches Detail: Die BBC-Journalistin Jane Stanley vermeldete in einer Live-Schaltung aus New York den Einsturz von WTC7 vor einem Fenster stehend mit dem am Horizont sichtbaren, noch intakten Hochhaus – 23 Minuten zu früh.

Nun ist eine chronologisch umgedrehte Kausalität nicht nur in der journalistischen, sondern auch in der propagandistischen Erzählung ein No-go – Prophetie bleibt Glaubenssache. Einerseits kann deshalb ein Hochhauseinsturz aus einem Grund, der weltweit noch nie einer war, mit journalistischen Mitteln unmöglich vorausgesagt werden, andererseits wurde die Live-Schaltung unbestrittenermassen ausgestrahlt und kann deshalb nicht aus dem Narrativ hinausargumentiert werden. So kommt es, dass bis heute kluge Köpfe mit aufwendig recherchierten, faktenbelegten Darstellungen nachweisen, dass das offiziell vertretene Narrativ – unvorhersehbare Katastrophe durch Brandeinwirkung im Zusammenhang mit Al-Qaida-Terror – nicht stimmen kann. Die US-Behörden schweigen, die grossen Leitmedien müssen das offiziell kommunizierte Narrativ weiterhin und weitgehend faktenfrei verteidigen und können nichts anderes tun als jene, die sich um Fakten bemühen, als Verschwörungstheoretiker zu denunzieren.

Mit dem «Denunziationsbegriff» Verschwörungstheorie verklammert die Propaganda, so der Wahrnehmungs- und Kommunikationspsychologe Rainer Mausfeld, «Kritik, die sich auf die Zentren der Macht richtet, mit Themen, die geächtet sind»: «So erklärt man bestimmte Themen zu einem gedanklichen Sperrgebiet.» Die faktenfreie Sprachregelung der Leitmedien lautet deshalb zusammengefasst: Wer WTC7 sagt, ist als Verschwörungstheoretiker identifiziert, leidet an Wahnvorstellungen, um schonendes Anhalten wird gebeten.

Nennen wir diese kommunikative Situation das Mainstreammedien-Paradox: Wer sich um Fakten bemüht und daraus kritische Fragen ableitet, muss ein gröberes psychisches Problem haben, wer dagegen das wahrscheinlich weitgehend frei erfundene offizielle Narrativ des Ereignisses zu glauben empfiehlt, betreibt objektiven Journalismus.

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Dabei stelle ich mir den Courant normale von Propaganda ziemlich unspektakulär vor. Niemand ist unanständiger, als er sein muss. Das gilt als Unschuldsvermutung auch für PR-Leute. Grundsätzlich tun sie ja nichts anderes als das Interesse ihres Arbeitsgebers zur interesselos sachlich gespiegelten gesellschaftlichen Wirklichkeit umzudeuten. Vieles kann mit Agenda Setting und ein bisschen Schönfärberei geregelt werden, und einige Weglassungen und unsachgemässe Gewichtungen gehören ja zur Not auch zu den journalistischen Freiheiten. Das genügt im Normalfall, um die medialen Berichterstattungen zufriedenstellend zu steuern. Propaganda arbeitet hierzulande im Wissen darum, dass es kritisch-anwaltschaftlichen Schurnis sehr wohl möglich sein soll, zusätzliche Fakten zu finden, Ungenaues zu präzisieren und ab und zu eine Falschmeldung zu widerlegen. Dann haben sie einen Primeur, bleiben bei Laune und können sich ein bisschen profilieren.

Unmöglich sein muss den Schurnis aber, Material zu finden, dessen Erzählung die gewünschte Struktur der Narration verändern oder gar ein anderes Frame erzwingen würde. Aus dieser Perspektive ist die obige WTC-7-Episode ein propagandistischer Super-Gau: Sobald sich in dieser Erzählung jemand auf die Fakten einlässt, benötigt er zwingend ein neues Narrativ, um sie sich überhaupt erklären zu können. Das offizielle ist aber unterdessen Teil des grossen 9/11-Narrativs, auf dessen Faktizität sich Weltgeschichtliches abstützt – zum Beispiel der Afghanistankrieg ab 7. Oktober 2001 und die Folgen. Vor einer solchen Sachlage müssen Leitmedien, die von den Stützen der Gesellschaft ernst genommen werden wollen, verständlicherweise kapitulieren.

Framing kann also zum Beispiel heissen, eine Geschichte aufgrund des gleichen Narrativs entweder als Beitrag zur psychiatrischen Diagnostik oder als geostrategisches Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts zu schildern. Auf den Entscheid, welches Frame bei einer konkreten Geschichte zur Anwendung kommt, hat Journalismus immer weniger Einfluss.

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Im Notfall muss Propaganda demnach hart steuern können, damit wahr wird, was aus bestimmten Interessen wahr sein soll. Darum gehört es zur eher hemdsärmligen Seite dieses Jobs, Fakten, die das offizielle Narrativ im vorgegebenen Frame widerlegen würden, zu vernichten oder doch für Schurnis unerreichbar zu bunkern (auch deshalb muss Whistleblowing strafbar bleiben).

Gelingt ein schwieriger Propagandajob aber perfekt, so wird anschliessend jeder Versuch, aus kritisch-anwaltschaftlichen Gründen eine Geschichte anders zu erzählen, daran scheitern, dass sie als unhaltbare Spekulation – als «Verschwörungstheorie» eben – denunziert werden kann, die zwar unleugbare Indizien aufreiht, aber den schlüssigen Beweis, dass die Reihung das tatsächliche Ereignis korrekt wiedergibt, schuldig bleiben muss.

Womit wir wieder bei den Schurnis sind, die sich ihr Leben so eingerichtet haben, das sie zu seiner Finanzierung bis zum Wechsel in die PR einen branchenüblichen Lohn brauchen. Sie könnten es sich niemals leisten, in den akut karriereschädigenden Ruf zu geraten, Verschwörungstheorien zu verbreiten. Darum schreiben Schurnis nie Verschwörungstheorie. Diese Tatsache erleichtert die Arbeit jener, die doppelt soviel verdienen, zweifellos beträchtlich.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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