Links ist links ist links oder was

Überblicke ich meine Berufsbiografie, muss ich mich für einen Linken halten. Der überwiegende Teil meiner journalistischen Arbeiten erschienen zwischen 1981 und 2014 in der parteiunabhängig linken Wochenzeitung WoZ/WOZ und im Work, der Zeitung der Gewerkschaft Unia. Trotzdem habe ich immer mal wieder darüber nachgedacht, wo ich politisch stehe, habe öffentlich in einem «Geständnis eines Möchtegerns» bekannt, «kein richtiger Linker» zu sein und bei anderer Gelegenheit die Frage verneint: «Bin ich am Ende ein Religiöser Sozialist?»

Einfach gemacht haben es mir die Umstände nicht, mich links einzureihen, obschon ich seit je links gewählt und abgestimmt habe:

• Aus beruflichen Gründen bin ich als Journalist nie einer Partei beigetreten. Schon deshalb gelte ich bei richtigen Linken bis heute als eher unsicherer Kantonist, nicht nur, weil ich keine Mitgliederbeiträge bezahle.

• Das WoZ-Kollektiv der frühen Jahre bestand fast ausschliesslich aus Leuten, die mit oder ohne Abschluss von einer Uni kamen. Sie wussten ihr Linkssein in Worte zu fassen, die meine kleinbürgerlich-moralische Empörtheit zumeist schamhaft verstummen liess. Dass ich mit meinem Minderwertigkeitskomplex manchmal kokettiert habe, hat mich – ich geb’s zu – zu einem eher mühsamen Kollektivmitglied gemacht.

• Und was mich als Gewerkschafter betrifft: Weil ich nicht mit der schrumpfenden Zahl der Festangestellten auf den Zeitungsredaktionen solidarisch sein mochte, die mir ab 2002 als freiem Journalisten zunehmend Honorare anbieten mussten, von denen ich nicht leben konnte (ausser Work und saemann, danke), gab ich im Sommer 2012 meinen Austritt aus der Mediengewerkschaft Syndicom. Seither bezahle ich den gewerkschaftlichen Obolus an die Unia, von der ich als Journalist nichts zu erwarten habe. Ich finde es schön, solidarisch sein zu dürfen, ohne mich ausgenützt fühlen zu müssen.

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Alles in allem eine linke Karriere, von der man sich fragen kann: Ist es überhaupt eine? Aber wichtiger als diese Frage war schon immer die andere: Was heisst das überhaupt, «links» zu sein?

Mir haben damals – ab Mitte der 1970er Jahre – die vulgärmarxistischen Antworten auf diese Frage schnell eingeleuchtet und bald genügt. Eingeleuchtet hat mir, dass die Industrialisierung die Subsistenz als naturabhängige Existenzsicherung der Leute zerstört und ersetzt hat durch die kapitalabhängige Existenzsicherung. Eingeleuchtet hat mir, dass damit die «Proletarier» von den «Kapitalisten», die «Arbeiternehmenden» von den «Arbeitgebenden» lohnabhängig und entsprechend erpressbar wurden – Marx sprach von «Ausbeutung». Eingeleuchtet hat mir, dass in einem solchen Gesellschaftssystem – Demokratie hin oder her – die demokratischen Errungenschaften nur ausserhalb der Fabriktore gelten. Und eingeleuchtet hat mir, dass die Freiheit, die eine solche Gesellschaft verspricht, ungefähr soviel wert ist wie der Gewinn, mit dem das Spielkasino lockt: Gewinnen kann nur, wer darauf spekuliert, dass hundert andere verlieren.

Genügt haben mir solch holzschnittartige Antworten deshalb, weil mir auch klar wurde: Ob man ein Linker ist oder nicht, hat zwar ideologische Voraussetzungen, ist aber eine ethische Entscheidung: Linkssein heisst, sich nicht auf der Seite der Abhängigmachenden, sondern auf der Seite der Abhängigen einzureihen und etwas für sie zu tun. In meinem Fall wurde dieses Etwastun zum journalistischen Anspruch.

Mehr war da nicht: Ich wurde nie Experte des korrekten Links-vor-sich-hin-Redens. Dies macht aus Überzeugten ja bestenfalls Linksextreme. Ein solcher zu sein, hat mich nie Interessiert: Ich träumte davon, in meinen besten Momenten ein Linksradikaler zu werden. 

(Wem dieser Abschnitt arg schwer verdaulich vorkommt, lese im Bund vom 29. April 2017 den Beitrag «Der heimliche König von Burgdorf»: Der Ypsomed-Unternehmer und Milliardär Willy Michel lebt also zwischen Hawaii und Australien auf einer 80-Millionen-Franken-Jacht und verfügt darauf dank 43 Tonnen Frischwasser und 135 Tonnen Diesel «über maximale Autonomie». Seine Firma leitet er von der Jacht aus. Und schaut er an der Jahresmedienkonferenz in Burgdorf vorbei, sagt er dort in einem Ton, der «wie eine Drohung» geklungen habe, bloss: «Die Löhne in Tschechien sind vier- bis fünfmal tiefer als hier.» Weil er in Burgdorf und Solothurn zusammen über 800 Lohnabhängigen Arbeit gibt, reicht das, um weitherum für ein weiteres Jahr heimlicher König zu bleiben. Im Übrigen ist die Schweiz ein demokratisches Land, und seit Michel in Burgdorf das Franz Gertsch-Museum bezahlt hat, finden ihn auch die kulturaffinen Linken in Ordnung.)

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Abgesehen davon ist mein Begriff von linkem Denken und Tun längst ausser Kurs. In der FAZ vom 18. April 2017 hat der Soziologe Didier Eribon skizziert, wie neoliberale Think Tanks linkes Denken seit den achtziger Jahren «gezielt demoliert» haben. Diese «Technokraten, Wissenschaftler, Journalisten, Banker und Industrievertreter» hätten nicht einfach den Marxismus als Feind ausgemacht, «sondern all die Referenzen, die bis dahin das linke Denken bestimmt hatten, die Existenz sozialer Klassen, der soziale Determinismus, die antagonistische Struktur der Gesellschaft. Indem man die Unterteilung in links und rechts aufhob, wollte man die politische Entscheidungsfindung ganz und gar den Experten überlassen und die Herrschaft der Finanzmärkte als das einzige unverhandelbare Prinzip durchsetzen.» Die Linken hätten, so Eribon, unterdessen «ihren traditionellen Referenzrahmen» aufgegeben «und den der Rechten» übernommen.

Zurzeit, habe ich den Eindruck, verlieren die sozialdemokratischen Parteien Westeuropas ihre Wahlen noch dann, wenn sie versuchen, rechtsnational aufgemotzte Mittelstandspolitik zu machen. Den Rest besorgen jene Sozis, die in den Regierungen sitzen. Eribon: «Die Regierungslinke liess das einfache Volk vollständig fallen und führte eine Spaltung zwischen diesen sozialen Schichten und der Linken als solcher herbei.»

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Kurzum: «Das einfache Volk» wählt unterdessen rechtsnational, und die linken Parteien sind Parteien ohne jene Basis, mit der und für die linke Politik ja eigentlich erst gemacht werden könnte. Die bedeutendsten Leistungen linker Politik sind seit einem Vierteljahrhundert die parlamentarischen Achtungserfolge, die mithelfen, den Abbau der Sozialstaaten zu verlangsamen.

«Nach ihrer kompletten Niederlage in der wirtschaftlichen Arena», schreibt Diana Johnstone, habe man der Linken einen «Trostpreis» zuerkannt, «nämlich die ideologische Hegemonie im emotionaleren Bereich der menschlichen Beziehungen, besonders dem der ‘Menschenrechte’». Linke dürften nun «die dominierende gesellschaftliche Doktrin definieren, die auf den Konzepten Multikulturalismus, Sorge um Minderheiten und Antirassismus» basierten.[1]

Dieser «Trostpreis» ist für die Linke ohne Basis ein Danaergeschenk. Der Bildungsphilosoph Matthias Burchardt schreibt: «Unter den strategischen Vokabeln von ‘Vielfalt’, «‘Heterogenität’ oder ‘Diversity’ wird im sozial-kulturellen Bereich das Trennende und die Trennung kultiviert. Den meist wohlwollenden Akteuren wird damit ein sezierender Blick eingepflanzt und ein Sprachkorsett auferlegt, dem sie sich einerseits unterwerfen müssen, das ihnen andererseits aber die Möglichkeit gibt, selbst andere zu unterwerfen.» Damit würden, schreibt er, «jegliche Voraussetzungen für linke Widerstandspolitik und einen humanistischen Gegenentwurf zum Bestehenden zerlegt». (Rubikon, 7.4.2017)

In einem Gespräch über den Begriff der «Political correctness» – auch dies eine dieser «strategischen Vokabeln» – sagte der Germanist Rolf Zbinden: «Dieses Terrain [der Political correctness, fl.] ist der Streit um die Ausweitung der Rechte der so genannten Minderheiten. Weil aber dieser Streit um identitätspolitische Differenzen tendenziell spaltet, braucht es auch den anderen Streit – jenen um die ausser Mode geratende grosse Erzählung von der Gleichheit der Menschen. Hier geht es um die Erkämpfung und um die Verteidigung erkämpfter Standards der Gleichberechtigung für alle und um die soziale Gerechtigkeit.» (Journal B, 21.3.2017)

Das ist das Dilemma jener, dir sich heute als links verstehen: Zum Trost, dass sie den Kampf «um die soziale Gerechtigkeit» verloren haben, leben sie nun von der «Fragmentierung von Gesellschaften in identitätspolitisch bewirtschaftete Gruppen» (Burchardt). Wer sich im Ton vergreift, wird ausgegrenzt, ist «Populist», «rechtsnational», «Rassist» oder gleich «Faschist». Für das «einfache Volk», das nicht nur in diesem Land bis zum Vergasen den Neger im Umzug macht, betreibt eine solche Linke nicht Aufklärung, sondern Zensur. Warum sollte es sich von Zensorinnen und Zensoren etwas sagen lassen?

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Es gibt nicht nur ideologische Brüche zwischen Linken und Rechten, es gibt sie auch zwischen der Linken des 20. und der Linken des 21. Jahrhunderts. Mag sein, der deutsche Sozialdemokrat Egon Bahr (1922-2015) hat nicht etwas ganz anderes gemeint, als er einmal sagte: «Wenn ein Politiker anfängt, über ‘Werte’ zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen.» (nachdenkseiten, 20.4.2017) Aus meiner Sicht hätte er beifügen können: « – auch dann, wenn dieser Politiker behauptet, ein Linker zu sein».

Für meine Selbstverständigung stelle ich hier folgende Arbeitshypothese auf: Das, was man heute als «die Linke» bezeichnet, ist zerbrochen in zwei verschiedene Bewegungen. Zerbrochen ist sie auch unter dem Druck der neoliberalen Indoktrination, die ab 1989/90 im Sinn von Margaret Thatchers «There is no alternative» offensiv die Ideologie einer monopolaren Welt des freien Marktes verkündet.

• Der realpolitische Teil der Linken machte seither auch aus Gründen des Machterhalts weitgehende ideologische Konzessionen. Man könnte diesen Teil heute als «die fragmentierende Linke» bezeichnen, machtpolitisch so zynisch wie nötig und ideologisch zum Idealismus bekehrt. Sie ist eine Formierung des bildungsprivilegierten Mittelstands und denkt sich ihre Welt als Raum des herrschaftsfreien Diskurses. Darin regiert sie, indem sie die Rede von der Aufklärung, die sie zum dogmatischen Skalpell umgebaut hat, als Mittel der Ausgrenzung einsetzt. Ihr Irrtum besteht darin zu meinen, ohne materielle Basis, allein mit dem besseren Argument, könne man Macht erlangen respektive erhalten.

• Daneben gab es immer auch eine zumeist marginale Linke, die sich als grundsätzlich kapitalismuskritisch und deshalb in Opposition zum bestehenden politischen System verstand und versteht. In letzter Zeit wird sie von den «Mainstreammedien» vermehrt als «linker Populismus» diskreditiert, was auf ihr relatives Erstarken verweisen könnte. «Populistische Linke» also – auch wenn der Begriff unsäglich ist. Aber haben sich nicht auch die «Nonkonformisten» der 1960er Jahre mit dem Begriff, mit dem sie in den Zeitungen beschimpft worden sind, identifiziert und positiv besetzt? Die «populistische Linke» also interessiert sich nicht für Regierungsbeteiligungen, sondern für das Gespräch mit der «kritischen Masse», wie das seit Anfang April publizierende Onlinemagazin «Rubikon» sein Zielpublikum anspricht. Diese Linke ist jene, die das Kerngeschäft linker Politik – Gerechtigkeit, internationale Solidarität, Frieden – fokussiert und damit «das einfache Volk» überzeugen will. Zu überzeugen sind heute nota bene Leute, die permanent und auf allen Kanälen dem kulturindustriellen Output des neoliberalen Mainstreams ausgesetzt sind. «Die Frage der Zerstreuungen», schrieb Leo Trotzki 1923, «erhält so eine grosse erzieherische und kulturelle Tragweite. […] Wir können und müssen ihr entsprechen, und zwar auf eine Art, die mehr und mehr ästhetisch wird, und wir müssen gleichzeitig aus den Zerstreuungen ein Mittel zur kollektiven Erziehung machen, ohne pädagogischen Rohrstock und ohne aufreizende Moralpauken.» Ästhetisch überzeugende Aufklärung auf gleicher Augenhöhe? Diese «populistische Linke» steht vor einer grossen Aufgabe.

In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger vom 18. April 2017 verteidigt Jakob Augstein – unter anderem in Berlin Verleger der linken Wochenzeitung «Freitag» –«linken Populismus» so: «Populismus ist nicht schlecht. Nur der schlechte Populismus ist schlecht. Jede Politik, die keine Eliten- oder Expertenpolitik ist, muss populistisch sein – das heisst, sich ans Volk wenden.» Linke Populisten müssten «einen neuen Gesellschaftsvertrag vorschlagen», und zwar «an Eliten und Experten vorbei, um das Gemeinwohl neu zu definieren. Als ein Wohl, das zuallererst auf Würde und Solidarität fusst.» Wenn das gelänge, fügt er bei, wäre das «eine Revolution». Zwar ein «gefährlicher Prozess» – aber wegen des «Eliteversagens» sei es möglich, «dass nur durch einen solchen Bruch echte Erneuerung entstehen» könne.

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Wo gehöre ich dazu? Klar: Ich will in dieser Unterteilung ein «populistischer» Linker sein, weil links für mich nach wie vor der ethische Entscheid für die Abhängigen ist und gegen jedes Gemauschel mit den Abhängigmachenden. Aber eigentlich, das ist ebenso klar, bin ich ein Veteran der fragmentierenden Linken: Welcher linke Schreibende hat in den letzten dreissig Jahren den Mut gehabt, schreibend zu integrieren, wo Integration doch ein Schweigen über so viel nötig scheinende Differenz einschliesst?

Abgesehen davon ist heute 1. Mai.

Berns Linke besammelt sich in der Altstadt unter dem Motto «Zukunft für alle / sozialer, gerechter». Als bunter Umzug wird sie im späten Vormittag auf den Bundesplatz ziehen. Soll ich linkisch am Rand der Sozis oder der Grünen mittrotten? Reihe ich mich aus Nostalgiegründen bei der Syndicom ein? Stelle ich mich mit meinen Schreiberärmchen zu den Bauarbeitern der Unia? Oder mit weissen Haaren trotzig zu den wilden Jungen, die gewöhnlich halbvermummt am Schluss des Umzugs lärmen, als ginge es hier und heute zum letzten Gefecht? Und auf dem Bundesplatz: Versuche ich, etwas von den Reden der VPOD-Regionalsekretärin und der Unia-Präsidentin und der Nationalrätin SP und der Grossrätin Grüne und der Präsidentin Juso und des Migrationsvertreters zu verstehen mitten im Sprachengewirr des munter plaudernden Fussvolks? Oder plaudere ich selber, weil ich die eine oder den anderen treffe? Ein bisschen von den alten Zeiten? Von Trump, Putin, Brexit und Le Pen? Von all den argen Populisten? Davon, dass dieses Jahr weniger an den Umzug gekommen sind als letztes Jahr? – «Jaja», werde ich zu trösten versuchen, «bei diesem Regenwetter».

[1] Diana Johnstone: Die Chaos-Königin. Hillary Clinton und die Aussenpolitik der selbsternannten Weltmacht. Frankfurt am Main (Westend Verlag GmbH) 2016, S. 58.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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