Samisdat aus Romanshorn

30. Dezember. Intercity-Zug 14.26 Uhr ab Bern Richtung Interlaken: ein blauer Doppelstockzug. Als ich mich setzen will, fällt mir im leeren Nachbarabteil eine Zeitschrift mit der grossen Schlagzeile «Glückliche Schweiz» auf. Der neue «Beobachter», ich weiss, diese Ausgabe hatte ich vor zwei, drei Tagen schon in der Hand. Dann schaue ich noch einmal hin, etwas ist merkwürdig. Das Titelbild, das ein Paket in rotem Geschenkpapier mit gekreuztem weissem Zierband zeigt, ist irgendwie halb abgedeckt. Ich werde neugierig.

Auf dem Titelbild klebt der fotokopierte Programmhinweis auf eine Fernsehsendung: «Spuren der Zeit: Verdingkinder – Einblick in einen Schandfleck der Schweizer Geschichte», «Schandfleck der Schweizer Geschichte» ist mit orangem Leuchtstift hervorgehoben und zusätzlich mit rotem Filzstift unterstrichen. Neben die Schlagzeile «Glückliche Schweiz» hat jemand mit grünem Filzstift: «wer?» geschrieben.

Während der Zug anfährt, beginne ich zu blättern. Im Editorial des Chefredaktors finde ich weitere rote Anstreichungen: «…das Elend ist oft bedrückend… es braucht auch Schutz für die Schwachen…dass wir alle nur zufrieden sein können, wenn auch die Benachteiligten Grund zur Zufriedenheit haben». Die Reklame auf Seite 2 ist zum grössten Teil  überklebt mit einem Zeitungsartikel: «Dienstverweigerung in Israel», keine Quellenangabe, Fotokopie leicht vergrössert, Hervorhebungen blau. Unter dem Artikel in der markanten Schrift eines schreibgewohnten, vermutlich älteren Menschen: «Endlich beginnen die Soldaten selbständig zu denken, statt den Befehlen der grossen Gauner und Unterdrücker zu folgen wie dressierte Hunde.»

Ich blättere weiter: Von Seite zu Seite sind die redaktionellen Beiträge mit bunten Anstreichungen versehen, die Inserate sind mit fotokopierten Zeitungsausschnitten – teils Artikel, teils Leserbriefe – überklebt. Schnell zeigen sich thematische Vorlieben des anonymen Collagisten – oder ists eine Collagistin? Aussenpolitisch dominieren USA- und Israel-kritische Beiträge: «So belogen die Alliierten die Welt», «Die Beziehungen zu den USA abbrechen», «Palästinas Besetzung ist das Problem», «Bush gleich Saddam». Innenpolitisch geht es um Kritik an der Armee, darum, dass die Preise in der Schweiz zu hoch sind, um die Psychiatrie. Der Artikel, der eine Studie über «Zwangsmassnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870-1970» vorstellt, ist besonders stark vergrössert, der Titel «Schlimme Zustände in der Zürcher Psychiatrie» ist rot eingefärbt und die Handschrift an Rand kommentiert: «Was ist denn das für eine Schweiz???»

Einige Seiten weiter die schlecht lesbare, x-te Kopie der Kopie eines Spendenaufrufs des Vereins Psychex, angestrichen hier: «…erweisen Sie Ihre Solidarität gegenüber Tausenden von Rat- und Hilfesuchenden, welche gegen ihren Willen eingesperrt und zwangsmedikamentiert werden». – «Sind das nicht himmeltraurige, menschenrechtswidrige Zustände in einem demokratisch und vorbildlich sein wollenden Staat?», steht handschriftlich am Rand. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Artikel zum «Swissair-Debakel». Im Lead rot markiert: «Ob die Verantwortlichen belangt werden, ist mehr als fraglich.»

Als der Zug in Thun hält, habe ich das merkwürdige Gesamtkunstwerk durchgeblättert. Warum bleibt so etwas im Zug liegen? Aus Vergesslichkeit sicher nicht. So viel Lese-, Anstreiche- und Collagearbeit vergisst man nicht einfach im Zug. Also absichtlich liegen gelassen? Aber warum? «Manchmal hilft nur der Schritt an die Öffentlichkeit – das hat oft für Wirbel gesorgt und gute Ergebnisse gebracht» – auch dieses Zitat auf Seite 26 des Hefts ist rot angestrichen. Offensichtlich hat jemand ein Exemplar einer 335000mal gedruckten Zeitschrift zum Unikat umgearbeitet und hier, in diesem Zug, auf der Suche nach einem Publikum anonym «veröffentlicht».

Vor dem Fenster des Zugs jetzt der Thunersee schiefergrau, ein trüber Tag. Eine klandestine Untergrundpublikation also. Das Wort «Samisdat» fällt mir ein, das auf russisch «Eigenverlag» heisst und während des Kalten Kriegs bekannt geworden ist als Bezeichnung für die vervielfältigten Dokumente künstlerischer oder politischer Dissidenz in Osteuropa.

Spiez. Aber was ist das für ein Mensch, der meint, sich hier und heute derart verstecken zu müssen? Jemand wohl, der an einem Verfolgungswahn leidet, denke ich, immerhin weist das Psychex-Flugblatt darauf hin, dass die Person Psychiatrie-Erfahrung haben könnte. Aber habe ich als Jouralist nicht gelernt, dass sogenannte paranoide Reaktionen von Psychiatrie-Erfahrenen einerseits zwar wie ein Krankheitssymptom aussehen mögen, andererseits aber genau so gut als eine verständliche Reaktion auf die Erfahrung mit Kliniken und Psychiatrieprofis gedeutet werden können?

Was ist denn das für eine Schweiz, geht mir unwillkürlich durch den Kopf, in der Leute meinen, ihre durchaus vernünftige Meinung nur noch klandestin äussern zu können? Die Forderung nach dem «Schutz für die Schwachen» ist doch vernünftig. Und ist das Verdingwesen etwa kein «Schandfleck der Schweizer Geschichte»? Habe nicht auch ich mich schon gefragt, ob eigentlich Saddam oder Bush das grössere Übel ist für die Welt? Und auch, dass Soldaten im Durchschnitt «dressierte Hunde« zu sein haben, stimmt. Hatte die anonyme Person Angst, dass ihre Kritik bereits wieder als soziale Auffälligkeit interpretiert würde, Symptom eines sich ankündigenden «psychotischen Schubs»? Hatte sie beim Collagieren die beruhigende Stimme des Notfallpsychiaters im Hinterkopf: Die Spritze helfe sofort und die Sanitätspolizei sei gleich da?

Während der Zug jetzt um die Bucht von Därligen kurvt, empfinde ich plötzlich Respekt vor der anonymen Collagistin – oder ist es doch ein Collagist? Für diese Person muss es eine Mutprobe gewesen sein, hinter den Linien des Feindes, hier, im Nachbarabteil, das eigene Werk zu platzieren. Unter extremen Bedingungen war das eine aufklärerische Tat – und offenbar waren die Bedingungen extrem. Als der Zug vor dem Interlakner Westbahnhof zu bremsen beginnt, plötzlich die Frage: Und wenn die Person hier im Zug sässe und mich beobachtete? Ich erhebe mich, streife die Jacke über, blicke mich um. Im Abteil hinter mir sitzt ein älterer Mann. Hat er nicht ein verkniffenes Gesicht? Mustert er mich? Als ich beim Aussteigen den «Beobachter» in die Mappe stecke, fühle ich mich ertappt.

Verschiedene der collagierten Zeitungsartikel ohne Quellenangabe finde ich später im elektronischen Mediendienst – die meisten stammen aus dem «St. Galler Tagblatt». Der Intercityzug Bern ab 14.26 Uhr fährt von Romanshorn via Amriswil, Weinfelden und Frauenfeld. Ich werde diesen «Beobachter» in Ehren halten. 

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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