Die strukturelle Krise

Na? Wie gehts denn so? Besser als deiner Zeitung, sagst du? Kunststück, du bist ja auch nicht schwindsüchtig. Nur die Zeitungen werden immer dünner.

Sogar die NZZ leidet. Das Jahr 2001, hiess es noch im letzten Sommer, sei «für die Medienbranche eines der schlechtesten seit langem» gewesen (NZZaS, 16.6.02). Aber 2002 wurde nicht besser. Bereits Mitte Juli präzisierte Chefredaktor Hugo Bütler für die NZZ gegenüber dem «Bund»: «Das Volumen bei den Inseraten ist um 25 Prozent zurückgegangen, bei den Stellenanzeigen sind es sogar über 50 Prozent. Es fehlen 40 Millionen Franken an Werbeeinnahmen.» Mitte Oktober kündigte die NZZ den Abbau von 80 Stellen und die Entlassung von 27 Leuten an. Und Ende Jahr erinnerte sie daran, dass sie zwischen 1989 und 1993 «rund einen Drittel» der verkauften Inserateseiten verloren habe, um dann beizufügen: «Diesmal ist ein ähnlich starker Rückgang innerhalb von weniger als zwei Jahren und zudem von einem deutlich tieferen Niveau aus erfolgt.» (NZZ, 28./29.12.02) Die Inseratestatistik der AG für Werbemittelforschung Wemf weist für die Schweizer Zeitungen vom Januar bis zum Dezember 2002 einen kumulierten Inserateschwund von 13,2 Prozent aus – Stelleninserate waren’s sogar 34 Prozent weniger.

Das sei nur die Konjunktur? Dass sich das Inserategeschäft, von dem die Tageszeitungen zu rund drei Vierteln leben, mit dem nächsten Wirtschaftsaufschwung wieder in alten Höhen stabilisiert, glaubt unterdessen niemand mehr so recht. Ende Januar liess Univox verlauten, die tägliche Leserschaft der Tageszeitungen sei seit 1988 kontinuierlich von 83 auf 63 Prozent geschrumpft. Die Hinweise häufen sich, dass sich die Printmedien in einer strukturellen Krise befinden, die im Schatten einer konjunkturellen wächst.

Es gibt zwei Aspekte dieser Krise, die mit der Konjunktur nichts zu tun haben. Zum einen verändert sich der Stellenwert der Kulturtechnik des Lesens. Information wird immer häufiger audiovisuell konsumiert. Lesen ist mühsam, weils länger geht, einen Text zu begreifen, als ein Bild anzugucken und sich dazu ein Häppchen Ton anzuhören. Deutungen, Hintergründe und Zusammenhänge sind wenig gefragt. Man liebt soft facts; wenn harte Fakten, dann bitte kurz und bündig. Es genügt, möglichst viel zu wissen, verstehen belastet bloss das Gemüt. Die Zahl jener, die lesen, nimmt ab und wer noch liest, sieht zunehmend nicht mehr ein, warum für diese Anstrengung auch noch bezahlt werden soll. Und zum andern gibt es heute Internet, das die Zeitung als Marktplatz vor allem für Liegenschaften, Autos und Arbeitsstellen unattraktiv macht. Kurzum: An die audiovisuellen Medien und an Internet verlieren die Zeitungen Anteile am Werbemarkt, die kaum mehr zurückgewonnen werden können.

Die Zeitungen werden sich verändern oder verschwinden. Mich beschäftigt, dass das die Schurnis kaum zu beschäftigen scheint. Stattdessen sagen sie, sie hätten keine Zeit für beschauliches Räsonnieren. Ich weiss: Fuhr vor einigen Jahren ein Feuilleton-Redaktor noch mit zwei KollegInnen an die «Solothurner Filmtage», so fährt er heute allein und macht nicht nur die tagesaktuelle Berichterstattung, sondern auch noch gleich fliessbandmässig Interviews, die er einrücken wird, wenn der entsprechende Film in den Kinos anläuft. Schon wieder eine strukturelle Krise: Wer im Spiel bleiben will, rotiert immer schneller; gleichzeitig werden immer mehr aus dem Spiel genommen und schauen in die Sonne. Keine Zeit für beschauliches Räsonnieren? Ich sage: Schurnis, die keine Zeit haben für den Gedanken, dass die strukturelle Krise der Zeitungen nicht nur diese, sondern zuvor schon sie selber zum Verschwinden zu bringen droht, sind vielleicht Musterknechte ihrer Verlage, aber dumm.

Angenommen, Schurnis hätten einen freien Willen, würden sie nicht nachzudenken beginnen? Gäbe es eine strukturelle Krise, würde das ja bedeuten, dass die Zeitungen irgendwie umgebaut werden müssen. Aber in welche Richtung? Sollte man nicht informiert werden? Wäre nicht wichtig zu wissen, welche Aufgaben den Schurnis nach dem Umbau zugedacht und wie viele von ihnen danach überhaupt noch gebraucht werden? Müsste man da nicht mitreden? Wer heute nicht ins Spiel einzugreifen versucht, schaut morgen vielleicht ziemlich unverhofft in die Sonne.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5