Wo unser aller Zürich endet

Du sagst, es gebe nur eine Welt? Quatsch. Spätestens wenn der Brienzersee bei 564,9 Metern die Alarmgrenze überschreitet und die Regenwolken so tief über die Axalp herunter hängen, dass die F-A/18-Kampfflugzeuge von Unterbach her nicht als gleissende Ejakulate, sondern als wandernde Lärmwände in den Himmel steigen, sitzt du in einer anderen Welt. Von der Grimsel herunter bringt die Aare zur Zeit pro Sekunde 254 Kubikmeter Wasser, unten in Thun verlässt sie den See mit 345 Kubikmetern – zu wenig: Das Wasser steigt. Während es vor den Fenstern der Ferienwohnung in feinen Fäden regnet, greifst du zum «Brienzer» und liest plötzlich mit Interesse, was du sonst nie lesen würdest: In Ebligen, kaum drei, vier Kilometer seeabwärts, hat der hochgehende Wildbach im Mattengraben eine Forststrasse mit Geröll und Holz überschüttet.

Mit jedem Auftrag betreten Schurnis eine neue Welt. Woher nimmst zum Beispiel du die Gewissheit, dass das Thema, an dem du arbeitest, etwas mit der Welt zu tun hat, in der du redest? Von der Redaktionssitzung? Von der Konkurrenz, die auch etwas machen will? Vom Publikum, das sowas immer wieder gern liest? Von deiner narzisstischen Energie, ohne die du am Morgen nicht einmal den PC starten würdest?

Hier liegt Zürich hinter dem Horizont. Seine bigotte politische Korrektheit ist so «auswärtig» wie ein Nidwaldner, der am «Oberländischen» obenausschwingt: «Auswärtige gewinnen im Ring». Spielt in Interlaken das «Nationale Blasorchester», titelt der «Brienzer»: «Auswärtige musizieren gut». Klagen Tourismusgemeinden über hohe Infrastrukturkosten, dann sollen «Auswärtige bezahlen». Der Gemeinde Lauterbrunnen sind «per Juni 2002 vorerst sechs Asylanten, vier Tamilen und zwei Chinesen, zugeteilt» worden, die Gemeinde mietet das Personalhaus des Hotels «Jungfraublick» in Wengen und gewährleistet so die «kostengünstige zentrale Unterbringung». Im übrigen ist das Berner Oberland «weltoffen» und die vielen ausländischen Beschäftigten bringen dem Gastgewerbe als «unserem wichtigsten Wirtschaftszweig» einen «multikulturellen Mehrwert».

Im Datenstrom sind die Geschichten ausgestorben: Blosse Fakten sind wie Kieselsteine: Sie schiefern flott über die Oberfläche der Wirklichkeit, bevor sie spurlos absaufen. Gelesen und wieder vergessen: Britische Marineinfanteristen trainieren in den Hochalpen. «Der Brienzer» schickt einen Redaktor mit zwei von ihnen als Dreierseilschaft auf den Mönch und dieser beschreibt, wie ihm die Digitalkamera aus der Jackentasche fällt und über ein steiles Schneefeld kollernd zerbierst. Gelesen und wieder vergessen: Der Felchenbestand im Brienzersee ist aus unerklärlichen Gründen massiv gesunken. «Der Brienzer» begleitet einen Iseltwalder Berufsfischer auf den See und schildert dessen brotlose Arbeit, die er als Traumberuf bezeichnet. Fakten kann ich wie Kieselsteine anhäufen, Geschichten muss ich erfinden. Wer erfindet, zeigt etwas von sich. Wer etwas von sich zeigt, wird angreifbar. Wer sich angreifbar macht, arbeitet dilettantisch. Schurnis sind Profis. Immer mehr.

Urs Gossweiler, der neoliberal schillernde Verleger des «Brienzers» war auch schon Thema in unser aller Zürich. Seiner Zeitung kann man in der Tat in vielen Beiträgen fehlende kritische Distanz, Klebriges und Ungeschicktes nachweisen. Und klar ist «Der Brienzer» ein wöchentlich zweimal erscheinender Klon, der hinten im Tal «Oberhasler», unten am See «Jungfrau Zeitung» und hinter dem nächsten Grat «Echo von Grindelwald» heisst. Aber immerhin hat diese Zeitung vorläufig den weiteren Vorstoss der «Berner Zeitung» ins Oberland gestoppt und so einen Rest Vielfalt verteidigt. Sie ist auch der Versuch eines jungen Manns, die Gründung seines Urgrossvaters weiterzuführen in einer Branche, die so wenig einbringt wie die Brienzer Holzschnitzerei.

Schurnis, die für Ringier, Coninx oder Tettamanti schreiben, können sich nichts anderes vorstellen, als unter Ringier, Coninx oder Tettamanti zu schreiben, solange sie dürfen: Diese Welt ist ihre einzige Welt. Was kann doch das «Titanic»-Personal auf dem Mainstream-Datenmeer die Nase rümpfen über HolzflösserkollegInnen auf den Zuflüssen, die trotz fehlender kritischer Distanz Interessantes zu sagen wissen über das Wasser, wenns steigt.

Unter Verwendung von: «Der Brienzer», Nrn 53-57/02 (12.-28.7.2002)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5