Nach dem Ende der Zensur

Zensur? Aber ich bitte dich! Ein verstaubter Begriff für eine erledigte Sache. Während des Zweiten Weltkriegs, das «Pressenotrecht» der Abteilung Presse und Funkspruch, die «präventiven Weisungen» und «repressiven Massnahmen», mit denen «vermehrte Zurückhaltung» erzwungen wurde – einverstanden. Aber dann? Dass die Schurnis nach dem Krieg die Zensur verinnerlicht hatten, war ihr Problem. Unser Beruf braucht eben Zivilcourage. Und dann kamen ja die Nonkonformisten und brachen ein Tabu nach dem anderen; und dann die Neuen Linken mit ihren Postillen gegen die Schere in den Köpfen der bourgeoisen Schreiblakaien; und dann die 80er Bewegung, die bereits Jagd machen musste auf die letzten Nischen der Zensur, um sich doch noch ein bisschen als deren Opfer bedauern zu können. Aber heute? Eine «staatliche Überwachung und Unterdrückung von Veröffentlichungen in Druck, Bild und Funk», wie Herr Brockhaus definiert? Also bitte. Zensur auf einer Redaktion ist wie eine Hermes-Schreibmaschine: eine Antiquität, die‘s nicht mehr bringt.

Gut, die Neonazi-Websites, die Brutalos, die Pornos – irgendwelche hygienischen Massnahmen gegen geistige Umweltverschmutzung muss es ja wohl geben. Aber wenn Nazischläger von Zensur schwafeln, ist ja die Pressefreiheit noch nicht gefährdet. Ich sage, wer im Kopf halbwegs vernünftig tickt, dem fällt heute gar nichts ein, was nicht öffentlich gesagt werden dürfte. Alle können heute alles sagen. Dass das Allermeiste, weils durch die falschen Kanäle fliesst, monotones Rauschen bliebt, ist Pech, nicht Zensur.

Schöne neue Welt, sagst du? Ich weiss, Huxley: abgetakelte Bildungsbürgerei. In diesem Punkt ist die neue Welt eben wirklich schöner geworden. Seit ’89 mit der Mauer auch die Scheuklappen der vaterländischen Borniertheit gefallen sind, die Untersuchungsrichter nicht mehr auf den Redaktionen und die Bundesräte nicht mehr bei den Verlegern einfahren, kann in diesem Land überhaupt erst informiert werden. Tatsache ist: Seit der freie Markt statt der Staat die Medien kontrolliert, ist Recherchieren nicht mehr das Privileg linker Gesinnungstäterei. Und seit recherchiert wird, ist der obrigkeitliche Verlautbarungsjournalismus überwunden. Da bist du doch wohl einverstanden?

Was heisst denn, heute herrsche ein «Schneller-kürzer-billiger-Diktat»? Reden wir doch von Professionalität! Kompliziertes und Langes in den Medien ist gewöhnlich nichts als narzisstische Selbstinszenierung. Jede Meldung kann schlank und unterhaltend gemacht werden. Was nicht schlank und unterhaltend ist, ist keine Meldung. Sie muss als Ware funktionieren, nicht als Wahrheit. Schneller, kürzer, billiger? Aber selbstverständlich! Erstens soll nur gut entlöhnt werden, wer gut ist. Zweitens: Warum 2000 Zeichen sabbern, wenns auf 1000 zu sagen ist? Redaktionen sind keine Schreibwerkstätten für Hobbyliteraten! Drittens: Kollega, nicht am Bleistift kauen, die Story in den Compi hauen! Das Wesentliche in Echtzeit zum Nulltarif, das ist eine Dienstleistung, kein Diktat.

Ich ein postmoderner Zyniker? Quatsch. Es gibt in unserer Branche einfach zuviel kulturpessimistisches Gejammer. Dieses Geseire, Zensur heute lasse die Schurnis gar nicht erst zu Bewusstsein kommen. Das ist doch tiefstes 20. Jahrhundert. Medien zur Belehrung und Erbauung, Wissen sei Macht – meine Nerven! Infos sind kein rares Gut mehr, das man mit kunsthandwerklichen Schöngeistereien aufmotzt, bevor man damit vors Publikum tritt. Heute stecken alle bis zu den Hüften im Infoschrott, und alle versuchen, alle permanent mit ihrem Schrott bis an die Ohren zuzumüllen. Weil wir das cleverer machen als andere, nehmen wir Geld dafür.

Zensur? Wenn schon wird heute Information nicht unterdrückt, sondern überdeckt mit anderer Information. Und jede Information wird im Prinzip nur dann öffentlich, wenn sie als Propaganda wirkt – auch die wahre. Und die Informationsindustrie ist selbstverständlich gleichzeitig eine Informationsverhinderungsindustrie. Aber das sind Kindergartenweisheiten. Ich sage: Wir vermitteln Infos, das Salbadern überlassen wir den Narzissten. Wir erfinden die Welt, sie den Sinn.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5