Das Ende des Schurnis

Träumst du auch manchmal von der Zukunft deines Berufs? Und? Siehst du dich? Tool-verpackt wie ein Astronaut: das schmiegsame Lap um den linken Unterarm geschnallt, die rechte Hand tippt blind im Fünffingersystem; im Helm über der Stirn die Videokamera, das Mikrofon am Metallbügel vor dem Mund. Rasender Reporter unterwegs im Ausseneinsatz, immer auf dem direktesten Weg zum Brandherd. Nicht Print-, Radio-, Fernseh- oder Web-Reporterin, sondern alles gleichzeitig: Über die elektronische Nabelschnur verbunden mit deiner medienkonvergenten Redaktion, im Kopfhörer die Stimme der Newsflor-Desk-Koordinatorin – Konnektivität ist alles –, die dich anweist, wo du hinschauen und wo du hinhören sollst: Sie hat die Übersicht, in welche Kanäle und Formate das am vorteilhaftesten eingespiesen werden wird, was vor dir im nächsten Moment in die Luft fliegt.

Schönheit der Geschwindigkeit: Du produzierst aus einer Hand digitalisierte Töne, Texte und Bilder, die bereits im nächsten Moment die Kollegen der Dokumentation mit allen möglichen und unmöglichen Back-office-Ressourcen aufmotzen und die Nachrichtenanalystinnen mit konfektioniertem Tiefgang bedeutend machen, bevor sie ein News-Technologist als perfekte Produkte ausstrahlt, ins Netz stellt oder zur Printversion zusammenschnipselt.

Du aber bist haargenau dort, wo’s passiert, und du kommunizierst haargenau das, was passiert und wies passiert. Du bist ein Ein-Mann-Fotokopieservice der Wirklichkeit, eine bewegliche Echtzeit-Multiplikationsstation – immer noch ein bisschen cleverer als die Reporter-Roboter ab Stange, die zwar im Brandherd hitzeresistenter, aber nach wie vor ein bisschen dümmer sind. Und wenn das Ohrensausen nach dem grossen Knall nachlässt, ist deine Geschichte bereits gelaufen und vergessen, und du fragst pflichtschuldig ins Mikrofon: Wo bitte geht’s für mich zum nächsten Gig?

Solche Cross-Media-Raketen nennt man übrigens dann allgemein Embeds – «Schurni» gilt seit Jahren als Schimpfwort für die Borniertesten der Branche, die weiterhin ihre Sicht der Dinge mit professioneller Berichterstattung verwechseln. Nach dem Irak-Krieg von 2003 hatte sich «Embed» als neue Berufsbezeichnung rasch allgemein durchgesetzt. 2003 integrierte die US-Army bei ihrem Feldzug gegen Saddam Hussein hunderte von Medienleuten in die Truppen, um ihre objektive Berichterstattung sicherzustellen. Diese strategische Verbrüderung zwischen Schurnis und der Truppe nannte man «Einbettung» oder eben «Embedding».

Es war eine Sprachschöpfung von epochaler Luzidität: Waren die Arbeitsbedingungen im Irak nicht eigentlich die gleichen, die die Schurnis auch sonst hatten? Eingespannt in eine Verdummungsmaschine, die flache Hierarchien simulierte, durften sie sich unter Androhung der standrechtlichen Entfernung von der Truppe völlig frei fühlen zu berichten, was irgendwelche Lobbys für sie inszenierten. Wurde nicht auch bei zivilen Inszenierungen der Zugang mit schulterklopfender Sachzwang-Rhetorik an gewisse Bedingungen verknüpft? War nicht auch dort die Wirklichkeit häufig nur noch im Nichtvorhandenen erahnbar? War nicht auch jene Berichterstattung voller Codes, die nur noch Eingeweihte entschlüsseln konnten? War das Erkenntnisinteresse der Schurnis nicht grundsätzlich zugerichtet von inner- und ausserredaktionellen Instruktionen? Waren sie deshalb, bevor sie an ein Ereignis herankamen, nicht immer schon «eingebettet»?

«Embeds» statt Schurnis: zweifellos eine ideologiekritische Leistung. Embeds sind frei von der fixen Idee, zur freien Berichterstattung gehöre die freie Darstellung der eigener Wirklichkeitswahrnehmung. Sie sind frei vom Wahn, das Bewusstsein eines Profis sei auf das freie Wort angewiesen. Sie wissen: Das freie Wort ist dilettantisch, das professionelle ist eingebettet. Historisch gesehen ist der Professionalisierungsschritt vom Schurni zum Embed etwa so gross, wie es der Schritt vom fahrenden Sänger zum Pressemann gewesen ist.

Träumst du auch manchmal solche Dinge? Herumrasende Astronautchen, die schneller produzieren, als sie denken können: Ihr letzter intellektueller Challenge auf dem Weg zur endgültigen Professionalität ist die Überwindung des eigenen Denkens durch Beschleunigung. Vermutlich werden wir auch das schaffen, wenn der Lohn stimmt. Na denn, bis dann.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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