Kulturraumkampf in Bern 1986-1993 samt Nachträgen

Wollten in den sechziger Jahren die Berner Nonkonformisten eine Veranstaltung durchführen, mieteten sie ganz selbstverständlich einen Raum und entrichteten den Behörden die Billettsteuer (vgl. hier, S. 168). Und pünktlich nach dem ersten Auftritt von Konrad Farner – einem richtigen Kommunisten, man denke! – im Diskussionskeller Junkere 37, eröffnete der schweizerische Staatsschutz eine Junkere 37-Fiche (vgl. hier, S. 322). 

Seit den 1970er Jahren werden in Bern dann Häuser besetzt. Zum Wohnen, klar. Aber auch, um so zu leben, wie man leben will: Insbesondere unter kritischen jungen Leuten wird der versteinerte bürgerliche Kulturbegriff in Frage gestellt. Kultur hat nun etwas mit dem eigenen alltäglichen Leben zu tun. 1980 schwappt die Zürcher Jugendbewegung schnell auf Bern über, und auch hier erkämpft sie ein Autonomes Jugendzentrum, das am 16. Oktober 1981 eröffnet, jedoch bereits am 14. April 1982 wieder polizeilich geräumt wird.

In den folgenden Jahren sammelt sich die Protestbewegung erneut um besetzte Häuser, deren Namen nun ideologische Programmatik verraten (Frauenhaus, Punkhaus, Freakhaus, Antiimpi-Haus, ZAFF). Die Räumung des ZAFF am 8. Juli 1985 führt zur Gründung der Hüttendorfsiedlung Zaffaraya auf dem Gaswerkareal. 

1987 spitzt sich der Kulturraumkampf zu. Mit sogenannten Strafbars besetzt man kurzzeitig Areale, um Feste zu feiern und so auf die Kulturraummisere hinzuweisen. Solche Strafbars gibt es auf der Kohlenhalde im Gaswerkareal, in einem Käsekeller, in der Dampfzentrale, in den Reitställen des Reitschulareals, auf dem kleinen Schänzli und schliesslich in der grossen Reithalle. Umstrittene Liegenschaften sind in diesen Monaten die Toblerfabrik in der Länggasse, das Meerhaus an der Effingerstrasse oder die Dampfzentrale – vor allem aber Zaffaraya und Reitschule. Dieser Kulturraumkampf ist gegen die bürgerliche Stadtregierung erstaunlich erfolgreich und steht aus heutiger Sicht wie ein Wetterleuchten vor der politischen Wende. Seit 1991 wird Bern rotgrün regiert.

Ich arbeitete damals zusammen mit Urs Frieden und Marie Josée Kuhn auf der WoZ-Redaktionsstelle Bern. Zusammen mit einer Gruppe von freien MitarbeiterInnen unterstützten wir diesen Kulturraumkampf mit anwaltschaftlichem Journalismus. Im Herbst 1987 zeichneten wir die intensiv gewordene Berichterstattung nicht mehr namentlich. Darum danke ich für die Einwilligung zur Zweitveröffentlichung unserer gemeinsamen Arbeit neben Frieden und Kuhn insbesondere auch Anita Krattinger, Tanja Messerli, Bernhard Ott, Christine Sieber, Lisa Schäublin (die als Fotografin für die Bildstrecken unserer Berichterstattung sorgte) und Simon Thönen.

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Raumverknappung als Kulturpolitik in der Stadt Bern. WoZ Nr. 48 / 1986.

Exmission ZPO Art. 326 Ziff. 2. Der Berner Gemeinderat will das Hüttendorf Zaffaraya räumen. WoZ Nr. 15 / 1987.

Neues Dorf statt alte Kohlenhalde. Die ZaffarayanerInnen kontern die Räumungsdrohung des Gemeinderats. WoZ Nr. 16 / 1987.

Mühleberg und Albisetti stilllegen. Die Tschernobyl-Demo vom 26. April 1987 in Bern. WoZ Nr. 18 / 1987.

Umsturz statt Filzlaus. Podiumsdiskussion zu Berns Kulturpolitik. WoZ 20 /1987.

8. Mai 1987: Dampfzentrale überraschend eröffnet! WoZ Nr. 20 / 1987.

Zirkus Federlos unerwünscht. Wie Bern mit der Alternativkultur umgeht. WoZ Nr. 27 / 1987.

«Ich stehe hier nicht als Vertreter der Alternativkultur.» – Interview mit dem stadtbernischen Kultursekretär Peter J. Betts. WoZ 36 /1987.

Wie früher und doch nicht ganz. Strafbar in der Reithalle. WoZ Nr. 44 /1987.

Es reiten nicht alle «im selben Pferd». Der Kulturstreik in der Reithalle. WoZ Nr. 45 / 1987.

Die letzten Tage des Freien Landes Zaffaraya. Kommentar und Bericht der WoZ-Redaktionsstelle Bern. WoZ Nr. 47 / 1987.

 • «Zaff Zaff Zaffaraya». Dokumentation einer vierseitigen Zeitungsbeilage. WoZ Nr. 48 / 1987.

Geordnete Rückeroberung. Berichterstattung zur Zaffaraytschul-Bewegung inkl. aktuellen Stellungnahmen. WoZ Nr. 49 / 1987.

ZAFFARAYTSCHULE – Chronologie der Ereignisse. WoZ Nr. 50 / 1987.

«Gas drii, pumm!». Dokumentierung und Kommentierung des Polizeifunks + Chronologie der Ereignisse. WoZ Nr. 51 / 1987.

Kollaps in der Probezeit. Die Dampfzentrale zwischen Kultur-Jekami und Professionalität. WoZ Nr. 26 / 1988.

Raumnot  AKuT – Der Kampf um Freiraum in Burdorf. WoZ Nr. 43 / 1988.

Zaffaraya: Bern wurstelt weiter. WoZ Nr. 35 /1989.

Warten auf Miraculix. Wie weiter in der Reitschule Bern nach der Erschiessung einer Besucherin. WoZ Nr. 4 / 1993.

Paradoxes Autonomie-Verständnis. Die Reitschule Bern mogelt sich aus der Krise. WoZ 9 / 1993.

Der lange Weg zum Duldungsrecht. – Gemeinderätin Therese Frösch im Gespräch mit der «Aktion Wohnraum». WoZ Nr. 21 / 1993 (inkl. ein Kurzstoff aus WoZ Nr. 20 / 1993 zum Thema). 

Gemeinderat setzt Zeichen. Die «Aktion Wohnraum» versucht zu verhandeln. WoZ Nr. 22 / 1993. 

 

Nachträge:

Die Kunst, den Aufbruch zu verteidigen. Zehn Jahre Reithalle Bern. Hansdampf [Hrsg.] 1998.

So vergeht die Zeit. Drei Arbeitsgruppen der Berner Reitschule erhalten einen kantonalen Kulturpreis. WoZ, Nr. 6 / 2000.

Doppelte Mogelpackung. Zur Stadtberner Abstimmung über die Initiative «Reitschule für alle». WoZ, Nr. 37 / 2000 (mit einer Übersicht über die bisher sechs gescheiterten rechtsbürgerlichen Versuche, das Reitschulprojekt zu beenden).

Wege durch den Freiraum. Passagen Nr. 33, Winter 2002.

Es gibt keine zweite Kranich-Hysterie. Zur Reitschule Bern. Berner Zeitung, 7. 8. 2003.

Sommerloch mit Schlägern. Die Reitschule Bern hat ein Gewaltproblem. WoZ, Nr. 33 / 2003.

Wie? Gibt’s das noch, das Zaffaraya? Gaberell [Hrsg.], 2004. 

Stückwerk. Mäander 11: Subkulturetüden (mit mehreren Verweisen zur Reitschulkultur), 2018.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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