Dossier Jenische (1926-1973 ff.)

Die schweizerische Minderheit der Fahrenden wird Jenische genannt. Ihre Geschichte ist im 20. Jahrhundert überschattet von einem Versuch der Sesshaften, wenn nicht in jedem Fall sie selber, dann doch die jenische Identität zu zerstören. Im Zentrum dieses Versuchs stand zwischen 1926 und 1973 das «Hilfswerk für die ‘Kinder der Landstrasse’», eine Abteilung des Kinderhilfswerks Pro Juventute. Mit staatlicher Unterstützung – involviert waren Bund, Kantone und Gemeinden – wurden jenische Kinder weggenommen, fremdplatziert und umerzogen [1]. Im Rahmen der staatlichen «Administrativjustiz» wurden zudem die jenischen Erwachsenen durch Internierung und Unfruchtbarmachung gehindert, sich fortzupflanzen.

Ab 1984 unterstützte die WoZ eine breite mediale Kampagne, die am 3. Juni 1986 zu einer offiziellen Entschuldigung des Bundesrats, bis 1992 zu (kleinen) finanziellen Entschädigungen an die «Hilfswerk»-Opfer und schliesslich 1998 zu einer ersten historischen Darstellung der Geschichte dieses «Hilfswerks» – wenn auch nicht zu einer Verantwortlichkeitsstudie – führte. 

Auf der WoZ-Redaktion hatte ich diese Kampagne zu koordinieren und tat dies in stetem Gespräch mit der Schriftstellerin Mariella Mehr – selber Jenische und «Kind der Landstrasse» – und dem Historiker Thomas Huonker. Eine ganze Reihe von Journalisten und Journalistinnen unterstützten die Berichterstattung von Fall zu Fall. – Hier dokumentiert werden meine Beiträge samt einem wichtigen Offenen Brief von Mariella Mehr vom Dezember 1993.

[1] Mariella Mehr sprach in ihrem Buch «Kinder der Landstrasse» 1987 von «619 jenische[n] Säuglinge[n], Kinder[n] und Jugendliche[n]» (Zytglogge, S. 16); Sara Galle in ihrer Dissertation «Kindswegnahmen. Das ‘Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse’ der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge» 2016 dann von «586 Kinder[n] aus sogenannten Vagantenfamilien» (Chronos, S. 16). (15.4.2017)

Eine historische Übersicht über das hier in punktueller journalistischer Überbelichtung Skizzierte gibt Sara Galle: Wie mit vergangenem Unrecht umgehen? Das Beispiel des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute, in: Markus Furrer et. al. [Hrsg.] Fürsorge und Zwang: Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz 1850-1980, Basel (Schwabe Verlag) 2014, 385-397. – Ich danke Sara Galle, dem Herausgeberteam und dem Verlag für die Erlaubnis, den an dieser Stelle ausgezeichnet vermittelnden Beitrag zweitzuveröffentlichen. (Mail Galle an fl., 2.11.2014) 

Mein Papierarchiv zum Thema liegt heute im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich

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Um vier Uhr kommt der Moser von der Polizei (WoZ 17/1984). – Im Norden von Zürich haben Jenische ihre Wohnwagen abgestellt.

Eine Tonne Peinlichkeit im Keller (WoZ 24/1984). – Ein Besuch auf dem Zentralsekretariat der «Pro Juventute».

Macht ist die Angst, über sie nachzudenken (WoZ 40/1984). – Ein Porträt der Schriftstellerin Mariella Mehr.

«Die gründliche Sanierung des Zigeunerunwesens» (WoZ 19/1985). – Eine Skizze des «Hilfswerks ‘Für die Kinder der Landstrasse’».

«Ab dann und dann geht es so und so» (WoZ 44/1985). – Stand im Kampf um Wiedergutmachung.

• «Eine Fiktion hat kein Bewusstsein» (WoZ 19/1986). – Die Pro Juventute will sich für die «Hilfswerk»-Praxis nicht entschuldigen.

Der schweigende Aktenberg (WoZ 24/1987). – Die Angst vor einer wissenschaftlichen Studie über das «Hilfswerk».

Vorbildliche historische Skizze (WoZ 5/1988). – Thomas Huonkers Buch «Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt».

Die Pro Juventute schleicht sich davon (WoZ 16/1988). – Ein geschichtsklitterndes Elaborat rückt das «Hilfswerk» ins rechte Licht.

PJ-«Hilfswerk» betrieb «Völkermord» (WoZ 20/1988). Die UNO-Definition und der Stand betr. Aktenkommission.

3,5 Millionen für das «Organ der Behörden»? (WoZ 40/1988) – Der Bund greift mit Geld ein, teilt und herrscht.

Doktortitel für fortgesetzten Rufmord (WoZ 43/1988). – Die Dissertation des Psychiaters Doktor Benedikt Fontana.

Der Schatten der Rasmieh Hussein (WoZ 49/1988). – Wie eine jordanische Fahrende im Frauengefängnis Hindelbank zu Tode kommt.

Fontana unter Druck (WoZ 51+52/1988). Die «Bündner Zeitung» greift die Geschichte über Rasmieh Hussein auf.

Lutz greift ein (WoZ 1+2/1989). Der Bündner Ärzteverein wehrt sich für den «Waldhaus»-Chefarzt Benedikt Fontana.

Abgeschrieben (WoZ 23/1989). – Doktor Fontanas Dissertation ist nicht nur rufmörderisch, sondern auch ein Plagiat.

Sieg für Dr. Fontana! (WoZ 25/1989). Die Universität Bern weigert sich, Fontana den Doktortitel abzuerkennen.

Ein Anwalt für alle Fälle (WoZ 15/1992). – Die Methoden des «Naschet Jenische»-Sekretärs Stephan Frischknecht.

«Gerne zählen wir auf Ihr Verständnis» (WoZ 15/1992). – Wie der Bund «Naschet Jenische» als Selbsthilfeorganisation der Jenischen verhindert. Eine Dokumentation.

«Versöhnen» und verhöhnen (WoZ 50/1993). – Ein Offener Brief von Mariella Mehr samt einer Chronik der Ereignisse.

Ein Exempel, aber gottvergessen (WoZ 20/1996). – Wie Alois Mehr der Bündner Justiz zum zweiten Mal auf die Sprünge hilft.

Die Diktatur der Sessenhaften (WoZ 14/1997). – Zur nationalen Bedeutung einer lokalen Volksabstimmung.

Die Wahrheit der Fahrenden (WoZ 23/1998). – Kommentar zum Erscheinen der Sablonier-Studie.

Disziplinierung der Nicht-Konformen (WoZ 40/1998). – Die Sablonier-Studie erscheint als Buch. Eine Rezension.

Lebende müssen sich erinnern (WoZ 49/1998). – Mariella Mehr wird von der Universität Basel zur «Ehrendoktorin phil. I» gemacht.

Vertrieben. Verfolgt. Zwangsintegriert. (WoZ 11/1999). – Die Dissertation der Historiker Thomas Dominik Meier und Rolf Wolfensberger.

Wo beginnt Völkermord? (WoZ 49/2000). – Der Bericht der Bergier-Kommission zur schweizerischen Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus.

Die Entdeckung der jenischen Musikkultur (Journal B, 3.+4.2.2017). – Interview mit Karoline Arn, der Co-Regisseurin des Dokumentarfilms «unerhört jenisch». 

Die unbekannteste Minderheit stellt sich vor – Zur Wanderausstellung «Latscho Diwes» des Vereins Sinti Schweiz. Journal B, 6. 9. 2018.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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