«Die Berge haben mich hergelockt»

Heute hat Angela Thiele als Präsidentin Gastgewerbe im Unia-Haus im Süden der Stadt Bern ihre erste Branchenkonferenz geleitet. Jetzt wartet die 29jährige Norddeutsche in einem der Bahnhofrestaurants bei einem Dreier Cola auf den Intercityzug, der sie ins Wallis zurückbringt. In Visp wird sie umsteigen müssen, um mit dem Regionalzug talabwärts nach Gampel-Steg zu kommen. Dort arbeitet sie im Service des Bahnhofbuffets.

Der Service ist ihre stärkste Stärke

Angela Thiele kommt aus der Gegend von Rostock und hat mit Jahrgang 1985 noch «die letzten vier Jahre der DDR mitgemacht», wie sie sagt. Aber wie kommt eine junge Frau aus jener topfebenen Gegend Norddeutschlands ausgerechnet ins Oberwallis?

Ihre erste Arbeitsstelle hat sie 2005 ins oberbayrische Freilassing geführt. Von dort pendelte sie über die Grenze nach Salzburg zur Arbeit. Als sie im Jahr darauf nach Rostock zurückkehrte, um noch die Ausbildung zur Hotelfachangestellten zu machen, war für sie klar: «Als nächstes ist die Schweiz dran.»

Von den Bergen sei sie fasziniert, seit sie mit ihren Eltern 1995 ins Berner Oberland in den Urlaub gefahren sei und Eiger, Mönch und Jungfrau gesehen habe. «Ich wusste schon damals: Das ist mein Ding. Nicht das Geld hat mich hierhergelockt, sondern die Berge.»

Angela Thiele ist als Hotelfachangestellte zwar gleichermassen für die Arbeit auf der Etage, an der Réception und im Restaurant ausgebildet. Trotzdem gefällt ihr, dass das Bahnhofbuffet Gampel-Steg keinen nennenswerten Hotelbetrieb hat, bloss eine Dorfbeiz mit ein paar kleinen Zimmern ist und die Kundschaft vor allem aus Einheimischen besteht. «So will ich arbeiten. Ich habe in der Ausbildung gemerkt: Ich brauche den direkten Kontakt zu den Gästen.» Die Arbeit im Service sei ihre «stärkste Stärke», ihre «Berufung», wie sie sagt.

Wie auch in anderen Berufen – sie erwähnt die Coiffeuse – gehöre das psychologische Interesse an den Menschen einfach dazu. Bei ihrer Arbeit gebe es zwischendurch immer wieder einen Moment Zeit, um sich zu einem Gast zu setzen und nachzufragen, wie es gehe. Gerade ältere Gäste, die zu Hause niemanden mehr hätten, freuten sich über solche Gespräche. Und das «Walliser Tiitsch» scheint für sie keine Hürde zu sein: Ab und zu schleicht sich im Gespräch auch jetzt eine Dialektwendung ein, wo sie doch eigentlich ihre norddeutsche Muttersprache spricht. «Wenn ich in Gampel mit den Leuten rede, kommt das automatisch. Und wenn man sich integriert, schenken einem die Leute schnell ihr Herz.»

Die erste Branchenkonferenz

Zur Unia gekommen ist Angela Thiele über die Walliser Branchensekretärin Birgit Imboden: «Sie hat mir von einer Gewerkschaft für das Gastgewerbe erzählt. Das hat mich interessiert.» Unterdessen ist sie Unia-Präsidentin der Branche Gastgewerbe und damit oberste Hüterin des Gesamtarbeitvertrags (L-GAV), der 2010 letztmals total erneuert worden ist. Die jährlich stattfindenden Lohnverhandlungen führen die Sekretärinnen und Sekretäre der Unia. «Meine Funktion als Präsidentin ist es, aufbauend auf der letzten Branchenkonferenz Inhalt und Ablauf der nächsten vorzubereiten und zu leiten.»

An der heutigen Konferenz zum Beispiel sei es vor allem um einige Forderungen gegangen, die in den nächsten Verhandlungen um den L-GAV Priorität haben sollen. «Diskutiert haben wir zum Beispiel über 16 Wochen Mutterschaftsurlaub und über zwei Wochen Vaterschaftsurlaub.» Zudem habe man über die Folgen der angenommenen Masseneinwanderungsinitiative und die Gewerkschaftsposition zur Ecopop-Initiative diskutiert.

Im Wallis sei für sie als Gewerkschafterin die Funktion der Präsidentin allerdings nicht so wichtig. «Dort ist es so: Wenn man mich als Gewerkschafterin braucht, sagt ich nicht Nein.» Es komme vor, dass ein Kollege oder eine Kollegin zu ihr ins Restaurant komme. «Dann setze ich mich, sobald ich Zeit habe, einen Moment hin, und wenn’s eine längere Geschichte wird, mache ich nach Feierabend oder vor dem Arbeitsbeginn – je nach Wochenschicht – ein Treffen ab.»

Für Angela Thiele ist klar, dass sie früher oder später Schweizerin werden will. Dafür muss sie, so wie es im Moment ausschaut, zehn Jahre in der Schweiz gelebt und gearbeitet haben. «Ausser, diese Regelung würde jetzt durch die angenommene Masseneinwanderungsinitiative wieder auf den Kopf gestellt.»

 

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Mit viel Herzblut

Angela Thiele (* 1985) wächst in Mecklenburg-Vorpommern auf, teils in Rostock, teils in Kankel, einem Dorf in der Nähe. Sie gehört zum ersten Jahrgang, der nicht mehr in die DDR-Jugendorganisation der «Jungpioniere» eingezogen wird. 2001 fängt sie in Rostock eine Restaurant-Fachausbildung an, bricht sie ab und beendet eine Ausbildung als Verkäuferin im Bereich Textil/Bekleidung.

2005 beginnt sie im österreichischen Salzburg als Verkäuferin zu arbeiten, bricht noch einmal ab und holt in Rostock die Ausbildung als Hotelfachangestellte nach. Am 18. Januar 2009 besteht sie die Prüfung, zwei Tage später tritt sie ihre erste Saisonstelle in der Schweiz an. Seit drei Jahren arbeitet sie im Bahnhofbuffet Gampel-Steg (VS), einem Familienbetrieb, und gehört dort gleichberechtigt zum Team.

In der Unia engagiert sie sich als Präsidentin der Branche Gastgewerbe, als Delegierte des Sektors Tertiär und als Vorstandsmitglied der Unia-Sektion Oberwallis. Ihr Lohn ist branchenüblich, nach Abzug der Quellensteuer – sie arbeitet mit einer B-Bewilligung – bleiben ihr rund 3400 Franken. Sie lebt mit ihrem Freund zusammen. Ihre Hobbies: im Winter lesen und die Gewerkschaftsarbeit, im Sommer Motorrad fahren – am liebsten über die Pässe des Oberwallis.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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