Von der Krise zum fachlichen Umbruch

 

Zu den Journal B-Originalbeiträgen: Teil 1 + Teil 2.

 

1.

Journal B: Auf April 2013 haben Sie ihre Arbeit als Geschäftsleiter der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit (VBG) aufgenommen. Was haben Sie angetroffen?

Leo Grunder: Zuerst einmal eine Geschäftsstelle, die ausstrahlte, dass es schon eine lange VBG-Geschichte gibt. Ich bekam einerseits Respekt vor dem, was die Vereinigung bisher geleistet hat, andererseits sah ich: Es braucht Veränderungen. Bei meiner Anstellung wurde betont, dass ich meinen fachlichen Hintergrund als Master in Community development – also Gemeinwesenentwicklung – einbringen sollte. Diese fachliche Perspektive hatte zuvor in der VBG weniger Bedeutung. Sie war in erster Linie der Dachverband für die Trägervereine von Ehrenamtlichen in den Quartierzentren. Fachleute wurden von diesen Trägervereinen direkt angestellt. Mein Auftrag war deshalb ein doppelter: den Dachverband leiten und fachliche Inputs geben.

Andererseits war damals bekannt, dass die VBG in einer finanziell prekären Lage sei.

Das war so. Es gab zwei Faktoren. Zum einen rutschte die Vereinigung in den Jahren zuvor in ein strukturelles Defizit, weshalb Massnahmen ergriffen werden mussten, um die Finanzen ins Gleichgewicht zu bringen.

Und was war der zweite Faktor?

Der Kanton Bern hatte im Bereich des Lastenausgleichs Sparmassnahmen angekündigt. Auch der Beitrag an das VBG-Budget sollte gekürzt werden. Offen war bei meinem Arbeitsbeginn, wieviel von diesem Einnahmenausfall die Stadt übernehmen würde. Wir kamen glimpflich davon und mussten schliesslich rund 10 Prozent oder 300'000 Franken unseres Budgets einsparen. Aber auch das war natürlich happig.

Sie kamen zur VBG und mussten als erstes Leute entlassen?

Ja. Konkret ist es so, dass sich die reformierte Kirchgemeinde in den letzten Jahren wegen Sparmassnahmen aus verschiedenen grossen Quartierzentren zurückzieht beziehungsweise die Liegenschaften verkauft. Das Quartierzentrum «Gäbelhus» wurde 2013 an die Stadt Bern verkauft und geschlossen – es ist jetzt eine Tagesschule. Dort kam es von der VBG zu Kündigungen, da kein Quartierzentrum mehr betrieben werden konnte. Aber bevor das Budget wieder im Lot war, waren weitere schmerzhafte Einschnitte nötig.

Das Gute an meinem schwierigen Einstieg aus heutiger Sicht war, dass ich die VBG-Mitarbeitenden gleich in einer Krisensituation kennenlernte, dass wir zusammenstanden und die Krise zur guten Erfahrung machen konnten. Präsidium und Vorstand arbeiteten intensiv mit, die Quartierzentren engagierten sich, wir bildeten eine Taskforce unter der Leitung unseres Präsidenten, Bruno Müller, und realisierten schnell eine ganze Reihe von Massnahmen. Mit der Zeit gelang es, trotz der Sparmassnahmen unser strukturelles Defizit wegzukriegen und die Schulden abzuzahlen. Im Moment haben wir finanziell sogar einen kleinen Spielraum, um auf Aktuelles reagieren zu können.

Nach dieser aufregenden ersten Phase ist hier in der VBG-Geschäftsstelle am Bollwerk 39 courant normal eingekehrt. Wie sieht der aus?

Vorab: Hier arbeiten vier Personen mit insgesamt 240 Stellenprozenten für einen Verein mit rund 45 Angestellten, die unter anderem die vier Quartierzentren Tscharnergut, Villa Stucki, Wylerhaus und Untermatt betreiben. Ein Wasserkopf ist diese Geschäftsstelle also nicht.

Courant normal bedeutet hier das ganze Personal- und Rechnungswesen. Dann die traditionelle Arbeit des Dachverbands: Es gibt einen Leistungsvertrag mit der Stadt Bern, der gebunden ist an ein Reporting. Wir verteilen Gelder an die Trägervereine der Quartierzentren und Quartiertreffs und sind gegenüber der Stadt für das Controlling verantwortlich. Wir tragen also Jahresrechnungen, Mietverträge, statistische Kennzahlen zusammen und leisten wo nötig Support. Dann machen wir auch Support für die Gremienarbeiten im VBG-Vorstand, im «Büro» – einem Ausschuss des Vorstands – oder in der Delegiertenversammlung der Trägervereine. Support heisst insbesondere Vor- und Nachbereitung der Sitzungen.

Das tönt wirklich nach traditioneller Verbandsarbeit.

Ja, aber daneben ist ein Strukturwandel im Gang: Quartierarbeitende sind zunehmend nicht mehr von den einzelnen Trägervereinen, sondern von der VBG direkt angestellt. Hier ist vieles im Aufbau. Konkret haben wir eben Konti eingerichtet, damit Quartierarbeitende, wenn’s pressiert, mit Postcards an flüssiges Geld kommen, ohne Anträge schreiben und das Geld vorderhand selber vorschiessen zu müssen. Die Zentralisierung der Anstellungen hat die Abläufe schwerfälliger gemacht, Massnahmen wie diese Postcards dienen dazu, einiges wieder zu dezentralisieren. Es gibt aber auch das Umgekehrte: Konkret haben wir jetzt eben die individuellen Handyabos bei unterschiedlichen Anbietern aufgelöst und streben eine einheitliche Lösung an, damit das Rechnungswesen vereinfacht werden kann. Oder: Neuerdings gibt es eine Cloud, zu der alle VBG-Angestellten Zugriff haben, damit gewisse Unterlagen zentral ablegt und von allen eingesehen werden können.

Also zentrale Steuerung von Fall zu Fall.

Ja. Für mich stellt sich immer die Frage: Wo braucht’s mich? Wo kann ich beratend unterstützen? Wo braucht’s diskussionslos Führung? Wo läuft es selbstorganisiert? Die VBG ist eine geführte, aber eben auch eine dezentrale Organisation. Wobei die Planungsarbeiten in der Quartierarbeit zugenommen haben und es den Vorwurf gibt, die VBG sei technokratischer geworden. Aber wenn ich mit anderen Organisationen vergleiche, die wöchentliche Teamsitzungen durchführen, arbeiten die VBG-Angestellten in den Quartieren doch ziemlich autonom.

Und wozu braucht’s daneben noch den Präsidenten und den Vorstand?

Im Moment haben wir einen stabilen, zehnköpfigen Vorstand, der sich durchschnittlich zehnmal pro Jahr trifft. Er macht nicht regelmässig lange Retraiten, sondern ist da, wenn es darauf ankommt. Er diskutiert und entscheidet die wichtigen strategischen Fragen. Da geht es um Personalentscheide oder um Geld, um Budgetfragen etwa oder um Anträge, die unter dem Jahr aktuell werden und deshalb im geltenden Budget nicht berücksichtigt sind. Daneben haben wir mit Bruno Müller einen sehr präsenten Präsidenten mit dem für mich der regelmässige Austausch möglich ist. Und wir haben mit Thomas Vatter einen Kassier, mit dem vieles bilateral und unbürokratisch geregelt werden kann.

Wegen der Verschiebungen von den Zentren zur Quartierarbeit und dem Schwerpunkt auf der fachlichen Entwicklung ist die VBG stark im Umbruch. Zum Glück arbeiten hier auf allen Stufen Leute, die flexibel genug sind, um schnell zu handeln, statt jedes Geschäft nach dem Buchstaben der nicht mehr ganz aktuellen Statuten abzuwickeln. Transparente Kommunikation ist wichtiger.

 

2.

Journal B: Wie entwickelt sich die VBG in den nächsten Jahren weiter? Oder müsste ich besser fragen: Wie entwickelt sich Bern weiter?

Leo Grunder: Wenn ich in die Zukunft schaue, dann gibt es mehrere Themen, die mich beschäftigen. Das eine ist die Agglomeration von Bern. Hier meine ich: Die VBG müsste aufgrund der städtebaulichen Entwicklung auch in den Agglomerationen tätig werden. Die Grenzen der Wohngebiete sind nicht mehr identisch mit den politischen Grenzen. Aber das ist noch nicht einmal eine Vision, das ist meine fachliche Überlegung, die mich beschäftigt.

Ein anderes Thema: Das freiwillige Engagement verändert sich. Man findet heute weniger Leute, die bereit sind, sich über längere Zeit ehrenamtlich zu engagieren. Weiterhin helfen sie punktuell, bei einmaligen Projekten mit, wobei hier von uns her das Unterstützungsmanagement schwieriger ist. Diese Veränderung des Engagements wird uns in Zukunft beschäftigen, auch unter dem Aspekt unserer Trägervereine, die auf das längerfristige ehrenamtliche Engagement angewiesen sind. Was machen wir, wenn in den Quartierzentren die Vorstände nicht mehr besetzt werden können? Sicher müssen wir neue Wege finden, um das freiwillige Engagement der Leute für ihr Quartier zu fördern und zu unterstützen.

Weiter: Im Moment geht der Trend eher weg von Quartierzentren. Was braucht es in Zukunft an Räumlichkeiten? Welche Unterstützungen braucht es von uns her, wo saniert oder neu gebaut wird? Was ist besser: Quartierräume pro Siedlungseinheit oder verschieden nutzbare Räume? Wer soll sie betreiben? Braucht es einen Anstoss von der Gemeinwesenarbeit her oder machen das die Leute selber? Wenn ich das bernische Stadtentwicklungskonzept anschaue, sehe ich: Man macht sich in diesem Bereich Gedanken, aber Patentrezepte hat im Moment niemand.

Wie steht es mit dem gesellschaftlichen Wandel? Geht die Atomisierung, die Vereinzelung der Menschen weiter?

Es gibt einerseits immer noch mehr Individualismus, und es gibt die Globalisierung, die auch Verliererinnen und Verlierer produziert. Anderseits aber gibt es auch den neuen Trend des Sich-Kümmerns im eigenen Quartier, ich denke an Urban gardening, an neue Wohnformen oder an die vielen Initiativen im Bereich Nachbarschaft. Auch hier wird die VBG eine Rolle spielen müssen und wollen. Wichtig wird sein, unser Kerngeschäft im Auge zu behalten und immer zu fragen: Für welche Leute sind wir da? Wofür werden wir mit Steuergeldern bezahlt?

Nämlich?

Zuerst einmal für die Nicht-Privilegierten, dazu gehört häufig, aber nicht immer, die Migrationsbevölkerung. Darum ist ein grosses Thema der bezahlbare Wohnraum. Und hier ist klar: Wo die Stadt selber baut oder Land im Baurecht abgibt, ist ihr Einfluss grösser – auch der von uns. Umgekehrt gibt es Gebiete in der Stadt, wo die Einflussnahme schwieriger ist und es andere Wege braucht, weil private Immobiliengesellschaften federführend sind oder es viele verschiedene private Besitzer gibt. Solche Quartiere entwickeln sich anders, langsamer, und nicht in jedem Fall gut.

Wenn ich das richtig verstehe, fühlt sich die VBG gerade für die vulnerablen Menschen zuständig, die zurückgezogen, verarmt, vereinsamt leben und die auch mit aufsuchender Gemeinwesenarbeit schwierig zu erreichen sind.

Das ist so. Und zufälligerweise ist dies das Thema unserer nächsten internen Weiterbildung. Die Frage ist: Wie kommt man an die Leute heran? Wie ist Mitwirkung möglich? Wichtig ist die dezentrale Perspektive. Wir sind überzeugt, dass über die Vernetzung, über die Verankerung, über die Nachbarschaften, über die Kontakte vor Ort, der Zugang gelingen kann. Aber dieser Aspekt ist auch für uns eine grosse Herausforderung.

Ein Problem ist wohl auch, dass man sich bei solcher Arbeit nur bis an einen bestimmten Punkt als professionell unterstützend verstehen kann. Irgendeinmal wird es politisch. Darf man, bezahlt mit städtischem Geld, politisch sein?

Sowohl fachlich als auch von der Organisation her soll die VBG durchaus auch sozialpolitisch unterwegs sein und auf die Verliererinnen und Verlierer der Entwicklungen hinweisen. Das Schweizer Fernsehen hat eben letzthin die rotgrüne Wohnpolitik Berns kritisch unter die Lupe genommen: Das Projekt der lebenswerten Stadt für alle mit Aufwertungen in vielen Quartieren führe zu teurerem Wohnraum und dadurch zu sozialer Verdrängung in die Agglomerationen. Auch auf solche sozialpolitischen Entwicklungen müssen wir hinweisen und sagen: Es braucht in der Stadt günstige Wohnungen. Von Durchmischung muss man nicht nur reden, man muss auch etwas für sie tun.

Dazu kommt zum Beispiel das Problem mit den ökologischen Auflagen: Schaffen wir es, die Stadt gleichzeitig ökologisch und sozial weiterzuentwickeln? Wird es durch die ökologischen Standards nicht unmöglich, noch einigermassen günstig zu bauen? Wichtig wäre, in jedem Fall sanfte Sanierungen genau zu prüfen. Und ernst zu nehmen ist der neue Trend zu kleineren Wohnungen, den ich sehe. Es wird langsam abstrus, Wohnungen mit immer noch steigender Quadratmeterzahl pro Person zu bauen. Entspricht das wirklich noch dem Bedürfnis der Leute oder ist das eine fixe Idee in der Planer- und Architekturgilde? Letzthin war ich auf einem Rundgang im Steigerhubel-Quartier. Es war offensichtlich, dass es den Leuten dort wohl ist, und zwar, obwohl sie im Durchschnitt auf relativ kleiner Fläche leben. Das Wohlfühlen hängt von anderen Faktoren ab als von der Grösse der Wohnfläche oder davon, ob jede Person ein eigenes Badezimmer hat. Auch von daher ist verdichtetes Bauen wichtig.

Gemeinwesenarbeit wie ich sie verstehe, ist dazu da, die reissenden sozialen Netze zu flicken, und kann gerade auch Verliererinnen und Verlierer misstrauisch machen, weil sie als staatliche Schnüffelei wirken kann.

Dieses Spannungsfeld gibt es. Wir sprechen in der VBG von unserer intermediären Funktion und versuchen die ganze Palette der Methodik, wie man diese Funktion wahrnehmen kann, einzubringen. Eine Seite davon ist das «Bottom-up», also der Versuch, die Interessen und Anliegen von unten nach oben zu unterstützen. Wenn es nötig ist, dürfen wir von der VBG her mit den Leuten im Quartier einen Protest organisieren. Umgekehrt muss es möglich sein – das ist die andere Seite der Funktion –, die Stadtverwaltung darin zu unterstützen, ein Projekt durchzuziehen, von dem wir überzeugt sind – wenn nötig auch gegen den Willen einzelner Quartier-Akteure. Sowohl gewisse Fachpersonen wie auch Leute, die die VBG von früher her kennen, sehen diese intermediäre Rolle kritisch. Gesagt wird, wir agierten zu nahe an der Stadtverwaltung und arbeiteten zu wenig politisch. Klar müssen wir wachsam sein, aber ich finde es richtig, möglichst auf der ganzen Klaviatur zu spielen und im richtigen Moment am richtigen Ort zu intervenieren.

Sicher ist, dass sich eine Stadt nur weiterentwickeln kann, wenn möglichst alle Leute, die darin wohnen, einbezogen werden. Darum wird Mitwirkung über den parlamentarisch-demokratischen Betrieb hinaus immer noch wichtiger werden. Die Menschen sollen sich in den Quartieren wohl fühlen können – und das hat schon aus Gründen der Emanzipation immer auch mit Mitwirkung zu tun. Gerade hier wird die VBG weiterhin ihre Rolle zu spielen haben. 

 

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Leo Grunder

Leo Grunder (* 1974) ist Geschäftsleiter der VBG. Er ist verheiratet, Vater von drei Buben und lebt in Köniz-Liebefeld. Er lernte zuerst Drogist und absolvierte auf dem zweiten Bildungsweg in Rohrschach die Fachhochschule für Sozialarbeit. Danach studierte er in München und schloss mit dem europäischen Master in Community development ab. Bevor er im April 2013 zur VBG kam, arbeitete er in diversen Gemeinden des Kantons Bern sowie in der Stadtverwaltung von Zofingen (AG) in der Kinder- und Jugendförderung. Im Liebefeld engagiert er sich ehrenamtlich im Vorstand des Quartierleists. 

Die beiden Beiträge wurde zweitveröffentlicht in: VBG [Hrsg.]: Jubiläumsserie Journal B: 50 Jahre VBG Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit. Selbstverlag, 2017, S. 30ff.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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