Frisch schreibt nicht mehr. Wie weiter?

Natürlich könnte man nun hier gleich zu Beginn gefühllos hinschreiben, die Halbwärtszeiten von Caesium 137 und Strontium 90 seien grösser, als die verbliebene Lebenserwartung von Max Frisch. Aber solches würde zweifellos zu Recht verurteilt als undelikat, denn das Geburtstagsgeschenk der Literaturtage an Max Frisch war von sublimer Tiefe und hingehauchter Melancholie.

Durch die Fenster des Landhaus-Saales blitzte die Aare durch den lastenden Jurasüdfuss-Dämmer, grüsste das eindunkelnde Grün alter Platanen vom jenseitigen Uferweg, als die Literaturbeflissenen zahlreich von nah und fern herzuströmten, sich am lebenden Denkmal Max Frisch aufzurichten und für die Dauer einer Rede des aufrechten Gangs zu gedenken. Gedacht war der Abend als «Feier», als «Geburtstagsgeschenk» an die Galionsfigur eines hierzulande immer häufiger und unverbindlicher betriebenen Kunsthandwerks (schreiben).

Die einstimmenden Worte sprach der Zürcher Literaturprofessor Peter von Matt, gedankenschwer anhebend: «Was hat Max Frisch in diesem Land angerichtet?» Frisch habe, so antwortete er gleich selber, die Atmosphäre in diesem Land verändert. «Unter diesen Bedingungen ist in der Schweiz eine neuer Typus von Schriftstellern nachgewachsen: selbstbewusst, unverfroren, mit Flair für das Ungehörige, mit Lust am kalkulierten Ärgernis. Es gibt seither so etwas wie eine Kultur der literarischen Unbotmässigkeit in diesem Land.» Ob solcher Formulierung mögen verschiedene Bäuche in der ersten Reihe des Saals gepinselt gewesen sein, allwo neben Frisch die dergestalt Titulierten schön aufgereiht sassen: Peter Bichsel, Fritz H. Dinkelmann, Jürg Federspiel, Reto Hänny, Monique Laederach, Kurt Marti, Adolf Muschg, Niklaus Meienberg, Rolf Niederhauser, Paul Nizon, Erica Pedretti, Jörg Steiner, Alexander Voisard und Otto F. Walter. Sie alle waren «sehr bewusst zufällig ausgewählt» (Niederhauser) herbeigeströmt, um beizutragen, was sie zu sagen haben (statistischer Einschub: Zufällig ausgewählt wurden 12 Männer und zwei Frauen, 7 Sozialdemokraten und ebensoviele Suhrkamp-Autoren, Frisch nicht eingerechnet). Die Vertreter des «neuen Typus von Schriftstellern» betraten nun nacheinander und alphabetisch geordnet (nur Muschg drängte sich vor Meienberg) ans Rednerpult und lasen ihr Lieblingsbitzli aus Frischs Werk vor (statistischer Einschub: Ausgewählt wurden 5x «Tagebuch 1966-1971», 3x «Der Mensch erscheint im Holozän», je 2x «Stiller» und «Tagebuch 1946-1949», je 1x «Bin», «Gantenbein», «Homo faber» und «Dienstbüchlein»).

Es wurde brav gelesen: Die Aussprache war unterschiedlich von leicht lallend bis gymnasial prägnant. In der Betonung vermochte teilweise richtiggehend eigenständiger Ausdruckswille durchzudrücken, präverbal sozusagen. Der Eindruck einer liebedienernden Epigonenschaft, des eitlen Sich-Schmückens mit Sprache von Rang, des Sich-Spiegelns im grossen Namen oder gar des positiv Diskriminierens des gefeierten alten Mannes, mit dem man sich sowieso nicht mehr ernsthaft, das heisst streitend, auseinandersetzen könnte, hätte entstehen können. Es entstand aber ein anderer: Soviel Sprachgewalt auf einem Haufen! Was hier und jetzt alles gesagt werden könnte (Fernsehen, Radio, internationale Presse anwesend)! Ja, es gibt noch Redefreiheit in diesem Land!

Max Frischs Dankesrede an seine «Kolleginnen und Kollegen» erlaubt sich der Berichterstatter in drei Punkten zusammenzufassen:

1. Wir leben im Zeitalter von «Heiterkeit der Post-Moderne». Der politische Terminus dazu lautet «Restauration».

2. In dieser Zeit «möchte man nicht wissen, sondern glauben». An der Aufklärung, dem «abendländischen Wagnis der Moderne», muss aber festgehalten werden, auch wenn sie «weitherum gescheitert» scheint. Aufklärung «nicht als historische Reprise, sondern durch historische Erfahrung erweckt zu neuen und anderen Versuchen eines lebbaren Zusammenlebens von mündigen Menschen».

3. «Ich weiss mich solidarisch mit allen, die, wo immer in der Welt und somit auch hier, Widerstand leisten. Ich meine Widerstand auf allen Etagen dieser profitmanischen Gesellschaft, Widerstand mit dem Ziel, dass der Geist der Aufklärung sich durchsetzen soll.» (Widerstand? Ja, aber wie? Frisch hilft nicht mehr weiter.)

Die Rede endigte mit dem Bekenntnis, er habe aufgehört zu schreiben: «Müde? Ja, verbraucht. Was ich sonst tue? Was Voltaire prophezeit hat: ‘Man endigt notwendigerweise damit, seinen Garten zu bestellen. Alles übrige mit Ausnahme der Freundschaft hat wenig Bedeutung. Ja, auch seinen Garten zu hegen hat wenig Bedeutung.’ Mit Ausnahme der Freundschaft? Ja, mit Ausnahme der Freundschaft. Ich danken Öi.»

Dann Applaus. Und plötzlich begannen die Leute im Saal, sich von den Stühlen zu erheben, standen auf, reckten die Glieder, streckten das Rückgrat durch – das Volk erhob sich! – standen da, aufrecht, bereit, die erhobenen Hände für die gemeinsame Sache einzusetzen: Man applaudierte ziemlich lange, dislozierte dann hinüber ins «Kreuz», wo ab 23.00 Uhr ein Fest mit «Musik und Palaver» (Programmheft») angesagt war.

Die Veranstaltung hat am 12. Mai 1986 stattgefunden.Die Rede findet sich abgedruckt in: Max Frisch: Schweiz als Heimat? Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1991, 461-469.

Die vorliegende Version meines Kommentars berücksichtigt eine geringfügige redaktionelle Überarbeitung aus dem Jahr 1991.

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