Im Labyrinth der Verantwortung

Das Schweizerische Literaturinstitut (SLI) – ein Fachbereich der Hochschule der Künste Bern – hat eingeladen und im Rahmen eines Symposiums in Biel «Die Verantwortung der Schreibenden» zur Diskussion gestellt. Ein weites Feld, das noch grösser wurde durch die französische Version des Titels: «La notion de responsabilité dans l’écriture litteraire» (also etwa: «Der Begriff der Verantwortung im literarischen Schreiben»). Die unterschiedlichen Formulierungen, so Marie Caffari, Leiterin des SLI, seien von der Konzeptgruppe des Symposiums gewählt worden, um möglichst viele Facetten der Verantwortung diskutierbar zu machen.

Dafür, dass die Vorträge und Workshops tatsächlich vielfältig wurden, sorgten dreizehn Autorinnen und Autoren, die aus ganz Europa angereist waren: Marcel Beyer, Chloé Delaume, Elke Erb, Jerome Fletcher, Katharina Hacker, Sybille Lewitscharoff, Suzanne van Lohuizen, Paul Nizon, Ewald Palmetshofer, Daniel de Roulet, Michail Schischkin, Janne Teller und Cécile Wajsbrot.

Künstlerische Wahrheit

Weil Literatur keine exakte Wissenschaft ist, standen am Anfang der Diskussion weder Begriffsklärungen noch philosophische Konzepte, sondern Bekenntnisse, Bilder und Geschichten. Trotzdem wurde schnell klar, dass von Verantwortung in zwei verschiedenen Bedeutungen die Rede war: von Verantwortung als ästhetischem Anspruch der Schreibenden an sich selbst und von Verantwortung als ethischem Anspruch an jene, die Texte veröffentlichen.

Verantwortung, so zum Beispiel Ruth Schweikert als Moderatorin eines Workshops, könne nur wahrnehmen, wer über «Entscheidungsfreiheit» verfüge. Am Anfang soll also die uneingeschränkte – eher verantwortungsfreie als verantwortungslose – Freiheit des Worts stehen. Nizon definierte denn auch, Verantwortung sei «die im sprachlichen Gelingen zustande kommende künstlerische Wahrheit».

Verantwortung als ästhetischer Anspruch an sich selbst: in Bezug auf die verwendete Sprache, die Erzählposition, die Absicht – aber auch gegenüber den erfundenen Figuren. Hacker etwa fragte: «Darf man seine Figuren ermorden und wenn ja wie?» Zudem: Ist es verantwortungsvoller, die Wirklichkeit treffend nachzubilden oder ihr die eigene Vision als Fiktion entgegenzustellen?

Dann Verantwortung in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten. Schischkin liess die zahlreich erschienenen Literaturstudierenden des SLI leer schlucken mit der Behauptung: «Wenn der Autor die Frage stellt, ob er etwas schreiben darf oder nicht, dann darf er es nicht, weil er kein Autor ist.» Schreiben soll demnach nicht, wer kann, sondern bloss, wer muss.

Aber wer muss? Gibt es Erfahrungen, die das Schreiben notwendig machen durch Zeugenschaft (témoignage)? Sollen vor allem die Opfer sozialer Katastrophen – Kriegs-, KZ- oder Gulag-Überlebende zum Beispiel – schreiben? Reichen zum Schreiben nicht auch Selbstbewusstsein und Bildungsprivilegien? Aber was ist dann mit der professionellen Verantwortung, von der eigenen Arbeit leben zu können, Geld zu verdienen, etwa für seine Familie, demnach so zu schreiben, dass man gedruckt und gekauft wird?

Weltanschaulich in der Pflicht?

Schliesslich: Hört Verantwortung mit dem Setzen des letzten Punkts auf, und die Rezeption des Texts liegt in der Verantwortung der Lesenden? Nein? Aber ist denn Goethe für die Nachahmungssuizide nach der Veröffentlichung seines «Werther» verantwortlich? Oder kann, nach Max Frisch, die «Öffentlichkeit als Partner» gesehen werden? Sollen Schreibende als Intellektuelle im Sinn von Sartres littérature engagée Stellung beziehen? Müssen sie sich gar weltanschaulich in die Pflicht nehmen lassen – ob im Sinn des Realsozialismus von «links» oder im Sinn von Emil Staigers Zürcher Preisrede «Literatur und Öffentlichkeit» von 1966 von «rechts»?

Bei der Forderung nach gesellschaftspolitischer Verantwortung verwerfen literarisch Schreibende heutzutage schnell und wohl zu Recht die Hände, auch am Symposium. Bloss: Warum sollte ich in einer neoliberal individualisierten Gesellschaft Texte lesen, die nichts anderem verantwortlich sein wollen, als der eigenen Ich-AG, die ihre Ware mit «künstlerischem Gelingen» nobilitiert?

Ein spannendes Symposium. Noch spannender wäre allerdings ein öffentlicher Disput, an dem sich auch Vertreter und Vertreterinnen aus den Medien, der PR-Industrie und der Politik beteiligen würden.

www.literatursymposium.ch

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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