Die Feier zu Bakunins 203. Geburtstag

 

Zum Journal B-Originalbeitrag.

 

Bremgartenfriedhof, 30. Mai, 12 Uhr: Neben dem Grab des russischen Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876) steht auf einem Tisch der Apero parat. Von den zehn Rittern von Bakunins Grab versammeln sich in diesem Jahr deren fünf, um den 203. Geburtstag des russischen Anarchisten zu feiern – angereist aus Zürich, aus Madrid und gar aus den USA. Die hinter dem Grabstein versteckte Wodka-Flasche ist, wie ein Augenschein zeigt, bis auf zwei drei Schlucke leer.

Das Verdienst von Paul Gredinger

Einer der heute abwesenden Ritter ist der Schriftsteller Matto Kämpf (er weilt eben im Kosovo). Einige Tage zuvor hat er Journal B erzählt, warum die Ritterschaft nötig sei: Auf dem Bremgartenfriedhof gebe es von Friedrich Traugott Wahlen über Theodor Kocher bis zu Robert Grimm eine ganze Reihe von Prominenten-Gräbern. Zwar gehöre Bakunin auch dazu, aber sein Grab sei das einzige, dessen Erhaltung und Pflege die Berner Öffentlichkeit nicht selbstverständlich übernommen habe. Dass das so ist, wusste kaum mehr jemand, weil der Architekt und Werber Paul Gredinger – das zweite G der Werbeagentur GGK (Gerstner, Gredinger, Kutter) – 1964 die Kosten für Bakunins Grab gleich für fünfzig Jahre bezahlt hat.

Ein Jahr nach Gredingers Tod 2013 waren die Grabkosten wieder fällig. Jetzt entschied der in Madrid lebende Schwiegersohn Gredingers, Adrian Lipp, sich im Sinn des Anarchisten Bakunin nicht an den Staat zu wenden, sondern den Orden der «Ritter von Bakunins Grab» ins Leben zu rufen, von denen immer einer sich verpflichtet, die jährlichen Grabkosten von 250 Franken zu übernehmen. So ist von Kempf über das Cabaret Voltaire in Zürich bis zum Filmemacher Paul Riniker eine bunte Gruppe von anarchistisch inspirierten Künstlern und Dadaisten zusammengekommen. Ende Mai 2014 haben sie sich zum 200. Geburtstag Bakunins erstmals auf dem Grab versammelt.

Wodka, Gainsbourg und Zitate

Nachdem die Champagnergläser gefüllt sind, beginnt der wohltuend formlose offizielle Akt. Er hat drei Teile: Zuerst platziert Adrian Lipp feierlich eine neue Flasche Wodka hinter Bakunins Grabstein, auf dass sich auch im kommenden Jahr von weither Angereiste mit einem Schluck auf den grossen Gegenspieler von Karl Marx stärken mögen.

Dann stimmt der Künstler Martin Beutler mit den Anwesenden das Lied «L’herbe tendre» des anarchismus-affinen französischen Liedermachers Serge Gainsbourg an. Und schliesslich verweist Lipp auf den vom Künstler Daniel Garbade geschaffenen, letztes Jahr enthüllten neuen Grabspruch: «Wer nicht das Unmögliche wagt / wird das Mögliche niemals erreichen». Nicht einfach sei es gewesen, erzählt er, in einem anarchistisch-demokratischen Meinungsfindungsprozess unter den Rittern aus einem guten Dutzend Bakunin-Zitaten jenes auszuwählen, das schliesslich auf die Plakette gesetzt worden ist.

Und dann liest er die verworfenen Sätze zur Erinnerung noch einmal vor. Drei von bedrückender Aktualität sind darunter. Wie ein Kommentar zur Geschichte des 20. Jahrhunderts liest sich das erste: «Anarchie ist Sozialismus und Freiheit in einem. Freiheit ohne Sozialismus besteht aus Privilegien und Sozialismus ohne Freiheit bedeutet Gewalt und Unterdrückung.» Das zweite scheint eine Grussbotschaft zu sein an all jene AmerikanerInnen, die letzthin demokratisch ihren neuen Präsidenten gewählt haben: «Jede Gesellschaft kriegt die Revolution, die sie verdient.» Das dritte schliesslich ist zeitlos wie eine Gebrauchsanweisung für die Weltgeschichte: «Man setze den aufrechtesten Revolutionär auf einen Thron, und er wird zum schlimmsten Diktator.»

Im Anschluss an die Feier schritten die Ritter munter plaudernd von dannen. In einem Jahr werden sie pünktlich wieder hier sein.

 

Günter Eichs Asche

2013 hat sich Guy Krneta nach Gesprächen mit Kurt Marti und Peter Bichsel Notizen gemacht, in denen Bakunins Grab eine wichtige Rolle spielt. Journal B darf sie an dieser Stelle kurz zusammenfassen:

Es war während einer Veranstaltung im Zähringer Refugium in der Matte kurz nach dem Tod des österreichischen Schriftstellers Günter Eich am 20. Dezember 1972. Vielleicht war’s an der Lesung von Peter Lehner am 11. Januar oder an jener von Jörg Steiner am 16. Januar 1973. Auch der Bieler Literaturkritiker Heinz Schafroth war anwesend, und weil er den ganzen Abend einen Plastiksack mit sich herumtrug, fragte ihn schliesslich jemand, was er denn da nicht aus der Hand geben wolle. Schafroth antwortete, in der Tasche befinde sich Günter Eich. – Wie das? – Man habe ihm Eichs Urne übergeben, erzählte drauf Schafroth, weil dieser gewünscht habe, seine Asche sei in Bern auf Bakunins Grab zu verstreuen.

In der Folge beging Schafroth einen Fehler: Statt Eichs Willen einfach zu erfüllen, fragte er korrekterweise bei der Verwaltung des Bremgartenfriedhofs um Erlaubnis. Er erhielt sie nicht. (Journal B-Recherchen haben ergeben, dass zwar bis heute das Verstreuen von Asche auf dem Friedhofsareal verboten ist, es jedoch auch 1973 schon möglich gewesen wäre, auf Bakunins Grab Eichs Asche in einer Urne beizusetzen – das Einverständnis Paul Gredingers, der damals für die Grabkosten aufkam, vorausgesetzt).

So kommt es, dass es kein Bakunin-Eich’sches Doppelgrab gibt, das das sowieso schon meistnachgefragte Grab auf dem Bremgartenfriedhof noch nachgefragter gemacht hätte. Günter Eichs Asche ist schliesslich in den Rebbergen von Alfermée über dem Bielersee beigesetzt worden – in Anwesenheit von Eichs Witwe Ilse Aichinger und dessen Sohn Clemens. (krn./fl.)

Aktuell

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