Ficfaction

Von Marie-Josée Kuhn und Fredi Lerch

Aufgabe für JournalismusschülerInnen: Sie arbeiten beim Schweizer Fernsehen, Abteilung aufstrebendes Nachrichtenmagazin «10 vor 10» und müssen folgendes Gerichtsurteil zu einem Beitrag verarbeiten: Ein Pornovideohändler, dessen Ware die «Würde der Frau» in «schwerstem Masse» verletzt, wird zu 18 Monaten bedingt verurteilt. Richtige Lösung: Nach knapper Vermittlung der Facts wird dem Publikum ein Zusammenschnitt von einigen (bezirksanwaltschaftlich abgesegneten) Frauenfolterszenen serviert – mit dem Hinweis, dass der ganze Streifen noch bei weitem Brutaleres biete.

Auf diese Lösung kamen am 16. Januar auch Jürg Wildberger, «10 vor 10»-Chef, und seine Equipe. Möglichst hautnah, möglichst distanzlos und sensationell; das ist zwar simpel, aber effektvoll und berechenbar: Schön brandet die öffentliche Empörung auf wie immer beim Tabuthema «Pornografie». Viel verletztes Gefühl, viel (Doppel-)Moral von Feministinnen bis SittenhüterInnen; irgendein Nationalrat droht mit einer Strafklage, weil er sowieso ein notorischer Fernsehgegner ist, «10 vor 10» kommt so in aller Leute Mund, die Einschaltquoten stiegen. Ungewöhnlich war diesmal folgendes: Die meisten FernsehmacherInnen im Leutschenbach zeigten sich nach der Ausstrahlung empört und forderten vom Chefredaktor Peter Studer ein hartes Vorgehen gegen den branchenbekannten Karrieristen Wildberger. Studer, branchenbekannt ohne Rückgrat, fragte daraufhin – laut «SonntagsBlick» – bestürzt: «Was und wie ist es passiert?» und warf sich bereuend vor die nächste Kamera, um sich von der Arbeit seines bisherigen Spezis zu distanzieren. Wohlverstanden: ohne das Recht, über Pornografie zu berichten, grundsätzlich zu verteidigen. Zu Studers Ehrenrettung: Begeht der Lieblingssohn ein wenig Vatermord, dann verwirrt das und tut mindestens so weh wie der Anblick von gefolterten Frauen. In der Tat hatte Wildberger seinen «Coup» am Ziehvater vorbeigeschmuggelt.

Studers chefredaktioneller Amoklauf bodigte sofort die notwendige inhaltliche Kritik an der Sendung: Die Frage, wie über menschenverachtende Schlächter-Bilder (und nicht nur solche, die Gewalt gegen Frauen zeigen) im Fernsehen berichtet werden kann, war danach auch in den Reaktionen der Printmedien kein Thema mehr. Dafür interessierte wieder einmal die uralte Hofer-Club-Frage: Was darf das Monopolmedium Fernsehen? Das Ringier-Blatt «Schweizer Illustrierte» befand, der Beitrag habe «ganz klar jene Grenzen, die einem Monopolmedium nun einmal gesetzt sind», überschritten. Welche Grenzen? Wer inhaltliche Grenzen fordert, fordert Zensur. Wer Grenzen der Boulevardisierung fordert und selber eine Boulevardzeitung verlegt, heuchelt.

Interessanter zum Diskutieren wären hingegen die verschwimmenden Grenzen zwischen Information und Unterhaltung, zwischen aufklärerischem Journalismus und postmodernem «Infotainment». Das Corpus delicti zu dokumentieren ist gut, reicht aber erst für das «…tainment» von Sadisten. Für das «Info…» wären Recherchen nötig. Wie steht es mit der Produktion solcher Videos? Wie werden Frauen zu solchen Folterszenen (sind sie tatsächlich gestellt?) gezwungen? Wer steckt dahinter? Wer verdient?

Anders gefragt: Warum verwendete die «10 vor 10»-Redaktion das umstrittene Video, welches ihr schon mehrere Wochen vor der Sendung vorlag, bloss als Schock-Mümpfeli? Wohl aus dem gleichen Grund, aus dem dieses Informationsgefäss zur Zeit für 230'000 Franken einen öden Einminutenkrimi in x Folgen ausstrahlt. Faction wird immer mehr von beliebiger Fiction überlagert. Darum wurde diesmal die Sendezeit auch gefüllt mit dem Schreien gequälter Frauen und mit einem Schwenk über Dildos und Gummipuppen in irgendeinem Pornoladen.

Ich danke Marie-Josée Kuhn für die Erlaubnis, den Kommentar an dieser Stelle zweitzuveröffentlichen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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