Sterbehilfe: Wer hilft wem warum über den Jordan?

 

[Editorischer Hinweis: Die hier präsentierten Texte waren Teil eines WoZ-Dossiers zur damaligen Diskussion um passive und aktive Sterbehilfe, um «Freitodhilfe» und Sterbebegleitung. Das Thema wurde – so meine Erinnerung – an die WoZ herangetragen von Christoph Eggli und Ralf Binswanger. Mit ihnen zusammen haben Mitglieder der WoZ-Redaktion das Thema diskutierend erarbeitet. Ich selber fungierte als koordinierender Redaktor und zusammen mit Eggli und Binswanger als Co-Autor.

• Der Kunstmaler und Anarchist Christoph Eggli (1952-2010) steuerte einen Essay bei unter den Titel «Ich wäre ein Nazi-Opfer». Er skizzierte das nationalsozialistische Euthanasieprogramm, in dessen Rahmen schätzungsweise 200'000 Kranke und Behinderte ermordet wurden. Im zweiten Teil stellte sich Eggli als Behinderten, dessen genetisch bedingte progressiv verlaufende Muskelerkrankung ihm im NS-System das Schicksal bereitet hätte, mittel «Gnadentod» «erlöst» zu werden. «Mein Schicksal», schloss er, «liefert das Argument gegen einen ‘gesellschaftlich anerkannten Rechtsanspruch auf den Freitod’, aber in meinem Fall auch gegen ‘aktive und passive Sterbehilfe’.»

• Der Psychiater Ralf Binswanger schrieb unter dem Titel: «1998: Magenkrebs» eine dystopische Erzählung. Der Ich-Erzähler wird am 24. März 1998 mit einer Magenblutung ins Spital eingeliefert, mit der Diagnose Magenkrebs konfrontiert und vom behandelnden Arzt aufgefordert, ein Patienten-Testament  zu unterzeichnen, das dem «würdigen Leben» durch ärztlich verordnete passive oder aktive Sterbehilfe einen schnellen und «würdigen Tod» folgen lassen soll. Die tagebuchartigen Notizen ergänzte Binswanger mit Fussnoten, in denen die damalige gesundheits- und sozialpolitische Situation in ungefedert neoliberaler Logik in die Zukunft projiziert wurde.

Hier präsentiert werden meine beiden Beiträge – eine Übersicht über die damals aktuelle Diskussion und ein Kommentar dazu. Im Zeitungsdruck waren im Übersichtsartikel die Abschnitte ab «Das Malaise des Patienten» bis zum ersten Zwischentitel. «Kontroverse Pestalozzi Hämmerli», aus Platzgründen weggestrichen. Sie werden hier nach dem Typoskript erstmals veröffentlicht. – Dreissig Jahre später habe ich mich zum Thema unter dem Titel «Self-Checkout: Exit will den Altersfreitod» noch einmal geäussert.]

 

[Übersichtsartikel]

Wer redet? Wer verdient? Wer stirbt?

 

Die Diskussion über Sterbehilfe erlebt in den letzten Jahren einen Boom. In der Schweiz wurden 1982 die «Vereinigung für ein humanes Sterben» (EXIT) und die «Association pour le droit de mourir dans la dignité» (ADMD) gegründet. Im November 1983 zählte allein EXIT bereits 2'500 Mitglieder. Als im letzten Sommer die Sterbehilfespezialistin Elisabeth Kübler-Ross zu einem Referat in Zürich gastierte, pilgerten zweitausend zum Teil junge Leute ins Kongresshaus. Für die zunehmende Aktualität der Sterbehilfediskussion gibt es reale Gründe:

• Das Malaise des Patienten: Es gibt diese dumpfe Verzweiflung beim Verlust der Privatsphäre von einem Augenblick zum anderen. Es gibt diese Angst vor den Schmerzen, vor der eigenen Hilflosigkeit, vor dem völligen Ausgeliefertsein. Es gibt die Wut über die Rechtlosigkeit, die Fremdbestimmtheit jenseits von jedem erkennbaren Sinn. Es gibt den Horror vor den anonymen Technokraten, die sich nur für die Art des Defektes bei der vorliegenden, grundsätzlich bekannten Maschine interessieren.

• Atomisierung der Gesellschaft: Die Zahl jener nicht ausschliesslich alten Leute wächst, deren vertraute Welt sich mehr und mehr reduziert auf eine gemietete Wohnung, Haustier, Radio + Fernsehen, einen Abwart und einen Pöstler. Die Zahl jener wächst, deren existentielle Entwurzelung, deren «Kulturschock» mit dem Schritt über die Türschwelle beginnt. Sterbehilfe ist für diese Leute die Hoffnung, im letzten Réduit der Vertrautheit, dem des Alleinseins in den «eigenen» vier Wänden, sterben zu können; die Hoffnung, um das Altersheim, die psychiatrische Klinik, das Spital herumzukommen. Für jene, die später in Ermangelung eines eigenen sozialen Netzes, von vertrauten Leuten, nichts anderes mehr zu erwarten haben als die «Lebenshilfe» von karitativen Funktionären, ist das Interesse für die Sterbehilfe eine Frage des verbliebenen Stolzes.

In «Hand an sich legen», seinem «Diskurs über den Freitod», hat Jean Améry 1976 geschrieben: «Nur schlecht begreift, wer immer da den Gedanken des Freitods, und sei es auch nur stundenweise, sei es sogar kokett-spielerisch, zu fassen sich anschickt, die zudringliche Besorgtheit der Gesellschaft um sein Endgeschick. Sie hat, diese Gesellschaft, sich wenig gekümmert um sein Dasein und Sosein. Krieg wird angezettelt: man wird ihn einziehen und ihm aufgeben, dass er sich wohlbewähre inmitten von Blut und Eisen. Sie hat ihm die Arbeit genommen, nachdem sie ihn zu ihr erzog: Jetzt ist er arbeitslos, man fertigt ihn ab mit Almosen, die er verbraucht und sich mit ihnen. Er fällt in Krankheit: nur leider, es sind zu wenig Spitalbetten verfügbar, die kostbaren Linderungen sind rar, ihrer aller kostbarste, das Einzelzimmer, wird ihm nicht zugänglich gemacht. Erst jetzt, wo er der Todesneigung nachzugeben wünscht, wo er dem Ekel vor dem Sein nichts mehr entgegenzustellen gewillt ist, wo Dignität und Humanität ihm gebieten, die Sache sauber abzutun und zu vollbringen, was er ohnehin eines Tages wird müssen: zu verschwinden – nur jetzt gebärdet die Sozietät sich, als sei er ihr teuerstes Stück, umstellt ihn mit scheusslichen Apparaturen und führt ihm den höchst abstossenden Berufsehrgeiz der Ärzte vor, die dann seine ‘Rettung’ auf ihr professionelles Habenkonto schreiben, gleich Jägern, wenn sie die Strecke des abgeschlachteten Wildes abschreiten. Sie haben ihn, so meinen sie, dem Tode abgejagt und gebärden sich wie Sportler, denen eine ausserordentliche Leistung gelang.» (S. 99 f.)

Während der individuelle Entschluss zum Freitod, den Améry meint, gesellschaftlich weiterhin geächtet bleibt, wird EXIT, die «Vereinigung für ein humanes Sterben», zur Modeerscheinung, die auch fortschrittliche Kreise als fortschrittlich missverstehen. Mit beispielloser politischer Dummheit fordert EXIT aus «humanitären Überlegungen» «passive» und «aktive Sterbehilfe» sowie «Freitodhilfe». Der Zwang der faschistischen Euthanasieprogramme soll ersetzt werden durch einen testamentarisch hinterlegten «letzten Willen in absoluter geistiger Frische und Unabhängigkeit», sich unter gewissen Umständen ohne viel Aufhebens töten zu lassen. So soll der «Gnadentod» wieder salonfähig gemacht werden.

Kontroverse Pestalozzi Haemmerli

Wegen einer unvorsichtigen Äusserung des Zürcher Triemli-Chefarztes Prof. Dr. Urs Haemmerli – in seiner Abteilung entziehe man gelegentlich hoffnungslos Chronischkranken die Nahrung und gebe ihnen nur noch leeres Wasser – leitet die Stadträtin Dr. iur. Regula Pestalozzi am 15. Januar 1975 eine Strafuntersuchung wegen Verdachts der vorsätzlichen Tötung ein. Sie ist der Meinung, das «Aufhören der künstlichen Nahrung» sei «eine bewusste Verkürzung des Lebens». Durch die Wiedereinsetzung Haemmerlis als Chefarzt (1. April 1975) und der Einstellung des Verfahrens gegen ihn (7. Juli 1976) wird die passive Sterbehilfe faktisch legitimiert.

Zürcher Standesinitiative für aktive Euthanasie

Die Standesinitiative «Sterbehilfe auf Wunsch für unheilbar Kranke» verlangt eine Revidierung der Bundesgesetzgebung dahingehend, dass ein Arzt das Leben einer Person beenden kann, wenn diese Person an einer unheilbaren, schmerzhaften und tödlichen Krankheit leidet und die Person die «Todesspritze» verlangt. Obschon der Zürcher Kantonsrat die Initiative mit 139 gegen 0 Stimmen ablehnt, wird sie am 25. September 1977 vom Zürcher Stimmvolk mit Zweidrittelsmehrheit gutgeheissen. In der Frühlingssession 1979 lehnen es National- und Ständerat einstimmig ab, diesen «Fehlentscheid des Volkes» (Nationalrat Konrad Basler) zur nationalen Abstimmung zu bringen.

Volksinitiative «Recht auf Leben»

Am 30. Juli 1980 wird in Bern von kirchlichen Kreisen die Initiative «Recht auf Leben» eingereicht. Sie will die Ergänzung der Bundesverfassung mit dem neuen Artikel 54bis:

«1. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und körperliche und geistige Unversehrtheit.

2. Das Leben des Menschen beginnt mit dessen Zeugung und endet mit seinem natürlichen Tod.

3. Der Schutz des Lebens und der körperlichen und geistigen Unversehrtheit darf nicht mit Rücksicht auf weniger hohe Rechtsgüter beeinträchtigt werden. Eingriffe sind nur auf rechtsstaatlichem Wege möglich.»

Zweifellos will die Initiative vor allem die bereits jahrzehntelangen Bestrebungen für die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs blockieren. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die Formulierung: «Das Leben […] endet mit seinem natürlichen Tod.» Würde diese Formulierung rechtskräftig[1], wäre es wieder an den Experten, die politische Handhabbarkeit des «natürlichen Todes» zu umschreiben.

Empfehlungen an die Ärzte

Bereits im November 1976 hat die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften in vier Empfehlungen Stellung genommen zur Sterbehilfe. Sie hat – mit anderen Worten – den aktuellen Tarif für den «natürlichen Tod» festgelegt:

«1. Zu den Pflichten des Arztes, welche Heilen, Helfen und Lindern von Leiden als hohes Ziel umfassen, gehört auch, dem Sterbenden bis zum Tode zu helfen. Diese Hilfe besteht aus Behandlung, Beistand und Pflege.

2. In Bezug auf die Behandlung ist der Wille des urteilsfähigen Patienten nach dessen gehöriger Aufklärung zu respektieren, auch wenn er sich nicht mit den medizinischen Grundsätzen deckt.

3. Beim bewusstlosen und sonst urteilsunfähigen Patienten dienen die medizinischen Grundsätze als Beurteilungsgrundlage für das ärztliche Vorgehen im Sinne einer Geschäftsführung ohne Auftrag. Dem Patienten nahestehende Angehörige müssen angehört werden. Rechtlich liegt aber die Entscheidung beim Arzt.

4. Beim Sterbenden, auf den Tod kranken oder lebensgefährlich Verletzten, bei dem das Grundleiden einen nicht mehr umkehrbarzumachenden Verlauf genommen hat, lindert der Arzt die Beschwerden. Er ist aber nicht verpflichtet, alle der Lebensverlängerung dienenden Massnahmen einzusetzen.»

«Natürlicher Tod» hiesse demnach zur Zeit: Passive Euthanasie nach Gutdünken des entscheidenden Arztes.

«Sterben ist schön»

Dr. Elisabeth Kübler-Ross am 9. Juni 1983 zu einem Referat ins Zürcher Kongresshaus einzuladen, war die Idee des Gratisanzeigers «Züri Woche». Dieses Blatt hat es verstanden, Person und Ausführungen der tatkräftigen Sterbehilfespezialistin in einen bemerkenswerten ideologischen Zusammenhang zu stellen: Zwei Wochen vor dem Referat titelt die «Züri Woche» auf der Frontseite: «Elisabeth Kübler-Ross kommt!», um dann einzustimmen: «Was die kleine, gütige Frau zu sagen hat, greift an die Existenz jedes Menschen: Der Tod ist nicht das Ende der Dinge, sondern ein friedliches Hinübergehen in eine andere Welt. […] Ausschliesslich bei der Billettzentrale am Werdmühleplatz stehen 300 Gratis-Eintrittskarten für Behinderte bereit.»

Drei Wochen später wird die Berichterstattung über den Grossanlass auf der Frontseite mit dem Titel angerissen: «Die frohe Botschaft vom Tode». Titel der Berichterstattung: «Fürchtet euch nicht, denn Sterben ist schön!» Und der Vorspann gipfelt: «Denn die Botschaft, die die Wissenschafterin in einfacher, herzlicher Sprache vermittelte, war tröstlich und stimmte zuversichtlich: Der Tod ist etwas Schönes, man soll sich vor ihm nicht fürchten.»

Die vier Forderungen von EXIT

Seit nun knapp zwei Jahren stellt EXIT, die «Vereinigung für humanes Sterben», die vom rechtsliberalen Scheidungsanwalt im Ruhestand, Dr. Walter Baechi, präsidiert wird, die vier Forderungen nach passiver Sterbehilfe, aktiver Sterbehilfe, Freitodhilfe und Sterbehilfe zur Diskussion.[2]

1. Passive Sterbehilfe. Nachdem Professor Haemmerli vollumfänglich rehabilitiert wurde, das Zürcher Stimmvolk gar die aktive Sterbehilfe bejahte und die vierte Empfehlung der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften festhält, der Arzt sei nicht verpflichtet, «alle der Lebensverlängerung dienenden Massnahmen einzusetzen», erwächst dieser Forderung kaum noch Widerstand. «Patientenverfügungen» sollen dem Arzt zusätzliche Entscheidungshilfe geben.

2. Aktive Sterbehilfe. Sie ist auch für Baechi ein heisses Eisen. Seine Überlegungen gehen dahin, sie durchzusetzen, indem er sie von vornherein für überflüssig erklärt. Und in der Tat: Würde sich rechtzeitig jeder Patient freiwillig selber umzubringen wünschen, wäre das leidige Thema der «Todesspritze» vom Tisch, denn Beihilfe zum Selbstmord ist in der Schweiz nur strafbar, wenn sie aus eigensüchtigen Motiven (z. B. Beerbungsabsicht usw.) begangen wird. Baechi: «Dabei war man sich offensichtlich nicht bewusst, dass die aktive Sterbehilfe überflüssig wird, wenn der Arzt Freitod-Hilfe leistet und der Patient noch in der Lage ist, das Freitod-Mittel selber anzuwenden, das Medikament selber einzunehmen.» Aktive Euthanasie käme nach Baechi nur noch bei völlig Bewegungslosen (Tetraplegie, multiple Sklerose usw.) in Betracht. «Hier könnte nur eine Gesetzesrevision helfen, die wohl nur durch eine Volksinitiative zustande käme.»

3. Freitod-Hilfe. An Mitglieder gibt EXIT eine Freitod-Anleitung ab, die geeignete und ungeeignete Methoden des Freitods darlegt. Nach Baechi versteht sich die Schrift «nur als Freitod-Hilfe für Schwerstkranke». Für den Fall, dass es der Patient nicht rechtzeitig schafft, sich umzubringen, weist Baechi ausdrücklich darauf hin, dass «der Arzt zur Freitod-Hilfe berechtigt ist». Berechtigt wäre er natürlich auch, dem Patienten in geeigneter Form mitzuteilen, dass er zur Freitod-Hilfe berechtigt sei. Baechi: «Es gibt Schwerkranke, die ihr Leiden abkürzen und aus dem Leben scheiden möchten. Natürlich bleibt es jedem Einzelnen überlassen, ob er einen solchen Entschluss fasst oder ob er aus religiösen oder anderen Gründen das Leiden bis zum Ende durchstehen will.» Bemerkenswert: Nach dieser Argumentation braucht es bereits Gründe, wenn sich einer nicht zu geeigneter Zeit umbringen (lassen) will.

4. Sterbebegleitung. Diese Idee ist eine Reaktion auf das, was ich als «atomisierte Gesellschaft» bezeichnet habe: Immer mehr Leute leben ausserhalb von tragfähigen sozialen Netzen: «Solche Leute brauchen ein Hospiz, und so etwas möchten wir gerne auch in Zürich aufbauen», sagte Kübler-Ross im letzten Sommer. «Ein Spital oder wenigstens eine Abteilung, wo alleinstehende Menschen sterben können, ohne dass man das Leben verlängert, wo die Qualität des Lebens wichtiger ist als die Quantität. In diesem Hospiz sollte eine liebevolle Betreuung gewährleistet sein, auch seelsorgerische Dienste.» In der «atomisierten Gesellschaft» wir die zynische Formulierung «Lebensqualität im Sterbehospiz» zur realpolitischen Forderung.

Die Idee des Hospizes, der Sterbeklinik, des «Exit Houses»[3] wurde bis heute in Zürich noch nicht realisiert. Aber aufgrund der erwähnten Anregungen von Kübler-Ross vermeldete die «Züri Woche» vom 9. Februar 1984 die Gründung der «Zürcher Vereinigung für Kranken- und Sterbenden-Begleitung». Ihr erstes Ziel: «Aufbau einer Organisation von freiwilligen, unbezahlten Helfern, die einsamen Kranken und Sterbenden menschlich beistehen.» Organisationen mit gleicher Zielsetzung bestehen in anderen Schweizer Städten bereits.

[1] [Die eidgenössische Volksinitiative «Recht auf Leben» wurde ein gutes Jahr später, am 9. Juni 1985, mit 69 Prozent der Stimmen angelehnt.]

[2] vgl. hierzu: Walter Baechi/Karl Zimmermann: Sterbehilfe – Standpunkte kontrovers 1, Basel (Helbling & Lichtenhahn AG) 1983.

[3] Jo Roman: Freiwillig aus dem Leben. Ein Dokument. Frankfurt a. M. (Fischer Taschenbuch Verlag) 1983. – Jo Roman hat nach diagnostiziertem Brustkrebs ihr Sterbedatum selber festgelegt und sich am 10. Juli 1979 umgebracht. In ihrem Buch beschreibt sie im Kapitel «‘Exit-House’ – eine Zukunftsvorstellung» (S. 163 ff.) detailliert ihre Vision eines Sterbehauses, in dem neben eigenhändig ausgeführtem Freitod auch aktive Euthanasie praktiziert werden würde.

 

[Kommentar]

Freut Euch des Sterbens?

 

Unser Misstrauen beginnt dort, wo uns plötzlich «Rechte» («Recht auf Leben», «Recht auf den würdigen Tod») geschenkt werden sollen, um die wir weder gebeten noch gekämpft haben. «Es geht darum, falls man Wert darauf legt, alles aus dem Gesetz zu streichen, was dem Recht auf Selbstmord im Wege steht, nicht aber darum, seine verfassungsmässige Verankerung zu fordern. Ein erbetteltes und bewilligtes Recht auf Selbstmord wäre weiterhin von der alleinigen Zuständigkeit der Ärzte abhängig, deren Macht dadurch paradoxerweise gestärkt würde», schreiben Claude Guillon und Yves Le Bonniec in ihrem Buch «Gebrauchsanweisung zum Selbstmord» in bezug auf Freitod und «Freitodhilfe».[1]

In dieser anti-institutionellen Haltung, die erst den autonomen Entscheid ermöglicht, waren wir uns in unseren Gesprächen – Christoph Eggli, Ralf Binswanger, WoZ-Leute – einig. Weder für den Zwang zum Leben noch für das Recht zum Sterben brauchen wir einen kategorischen Imperativ. Nur die Schwangere kann entscheiden, ob sie ihr Kind haben kann/will oder nicht. Nur die betroffene Person kann entscheiden, ob sie – trotz körperlicher Unversehrtheit – sterben oder ob sie – trotz chronischer Krankheit zum Tode – weiterleben will. In der Sterbehilfediskussion geht es für uns auf keinen Fall darum, «Rechte» zu fordern, die man sich zwar nehmen, nie aber schenken lassen kann.

Warum beginnt man jenen Leuten, um deren Leiden sich ein Leben lang niemand gross gekümmert hat, plötzlich den Kopf vollzuschwatzen, für sie sei es das beste, sich das Leiden beim Sterben verkürzen zu lassen? Gesetzt, es stimmt, dass die «Freut-euch-des-Sterbens-Welle», die wir zu beobachten glauben, eine lancierte ist: Wessen Interessen werden mit dieser Propagandakampagne vertreten? Wie verhält sich bei den Propagandisten die ethisch-moralische Schöngeistigkeit zu ihrer politisch-ökonomischen Interessenlage? Wer garantiert uns, dass ein institutionalisiertes «Recht auf einen würdigen Tod» nicht zur freiheitlich-demokratischen Sanierung des überalterten, zu wenig effizienten «Volkskörpers» mittels «Freitodhilfe» missbraucht werden könnte?

Wer redet? Wer verdient? Wer stirbt?

[1] Claude Guillon/Yves le Bonniec: Gebrauchsanweisung zum Selbstmord – Eine Streitschrift für das recht auf einen frei bestimmten Tod, Frankfurt (Robinson Verlag) 1982, 183 f. [Das Buch wurde in Deutschland zeitweise verboten, ab Ende 1985 wieder für den Handel freigegeben; 2008 wieder zum jugendgefährdeten Medien erklärt. In Frankreich wurde es 1987 definitiv verboten.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5