Was bleibt uns nach dem 29. März?

Am 29. März 2014 machte Jonas Jossen, Student am Kollegium Spiritus Sanctus in Brig, in Bern eine unerfreuliche Erfahrung. Er kam in die «Üsserschwyz», um seinem Bruder beim Zügeln zu helfen und geriet dabei in eine Polizeidemonstration, aus der er nicht mehr herausfand. Er wurde mehrmals kontrolliert, schliesslich mit Handschellen abgeführt und für vier Stunden auf einem Polizeiposten festgehalten.

Sein Facebook-Bericht über diese Erfahrung wurde über Journal B weiterverbreitet. Seither hat Jossen gegenüber «1815.ch», der Online-Ausgabe des «Walliser Boten», gesagt, die Verhaftung sei für ihn «mittlerweile gegessen». Und auf die Bitte um ein abschliessendes Gespräch teilte Jossen Journal B mit: «Ich hatte meine Viertelstunde unverdienten Ruhm. Im Text habe ich alles geschrieben, was ich zu sagen hatte und hinter welchem ich stehen kann. Tschuldigung. Jonas.»

Die Zeiten haben sich geändert

Am 17. November 1987 kam es auf dem Gaswerkareal zu einer grossen Polizeiaktion: Die BewohnerInnen des Zaffaraya verteidigten mit allem, was sie hatten, ihr Hüttendorf gegen vorrückende Polizeigrenadiere, die mit Tränengaspetarden und Gummischrot auf sie schossen. Man kennt die Bilder, man kennt die Geschichte und man weiss: Noch am gleichen Abend und in den folgenden Tagen mehrmals wurde in der Stadt für die zwei Dutzend vertriebener ZaffarayanerInnen demonstriert. Und am folgenden Samstag, dem 21. November, erzwang eine Grosskundgebung mit über 10'000 Leuten die Wiedereröffnung der 1982 polizeilich geschlossenen Reitschule als Jugendzentrum. Es ist offen geblieben bis zum heutigen Tag.

Am 29. März 2014 kam es in Berns oberen Altstadt wieder zu einer grossen Polizeiaktion. Verstärkt vom Ost- und Zentralschweizer Polizeikonkordat, vom Nordwestschweizer Polizeikonkordat, vom Westschweizer Polizeikonkordat und von der Kantons- und Stadtpolizei Zürich erstickte die Kantonspolizei Bern gleichzeitig eine rechte Demonstration «gegen Kuscheljustiz» und eine linke Gegendemonstration im Keim. Allerdings waren beide schon Tage zuvor abgesagt worden.

Im Rahmen dieses Schildbürgerstreichs wurde in der oberen Altstadt der öffentliche Verkehr für einen halben Tag eingestellt. Polizeipatrouillen standen sich freundeidgenössisch auf den Füssen herum und kontrollierten, filzten und filmten flächendeckend jugendliche Passanten und Passantinnen, zum Teil mehrmals. 58 von ihnen wurden abgeführt und über Stunden festgehalten.

Wie 27 Jahre zuvor interessierte sich die Öffentlichkeit auch diesmal für die Polizeiaktion. Der Jossen-Bericht auf Journal B zum Beispiel wurde annähernd 100'000 Mal aufgerufen. Allerdings bemühte sich kaum jemand hinter dem Bildschirm hervor: Es gab keinen Jugendprotest «gegen Repression und Bullenstaat», im Stadtparlament keinen Aufruhr wegen der Besetzung der Oberstadt durch ausserkantonale Polizeieinheiten; und auch kein kultureller Beitrag wurde bekannt, der sich der Realsatire des martialischen Trachtenfests angenommen hätte. Die Onlinekommentare, zu denen man sich aufraffte, beschränkten sich nicht selten darauf, den jungen Walliser Jossen hämisch für unglaubwürdig zu erklären oder vorzuwerfen, selber schuld zu sein.

Wahrlich: Die Zeiten haben sich geändert.

Lehrreiches Polizeimanöver

In der Bundesverfassung gibt es im Artikel 10 den Absatz 2, der festhält: «Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.» Um das Grundrecht der Bewegungsfreiheit über einen halben Tag von insgesamt vielen Tausenden einzuschränken braucht es erstens eine gesetzliche Grundlage, die zum Beispiel aus dem konkreten Verdacht auf Störung der öffentlichen Ordnung abgeleitet werden könnte. Aber genügen dazu zwei abgesagte Demonstrationen wirklich?

Zweitens muss die Einschränkung dieses Grundrechts verhältnismässig sein. Laut Kantonspolizei sind 58 Personen in einen «Festhalte- und Warteraum» interniert worden, teils solche, «die mehrfach kontrolliert und dabei keine nachvollziehbare Begründung für ihren weiteren Aufenthalt in der Stadt abgeben konnten». Für den Chef der Regionalpolizei Bern, Manuel Willi, der dies gesagt hat («Bund», 10.4.2014), war demnach das Grundrecht der begründungsfreien Bewegungsfreiheit ausser Kraft gesetzt. Verhältnismässig ist für ihn ein interkantonaler Polizeieinsatz mit Grundrechtseinschränkungen dann, wenn unter 58 «Angehaltenen», die man gleich wieder entlassen muss, zufälligerweise ein polizeilich Gesuchter gefunden wird.

Ohne den Polizeistrategen ins Handwerk pfuschen zu wollen, wird man sich fragen dürfen:

• Nachdem die beiden Demonstrationen abgesagt worden waren, war auch ihr risikoreiches Zusammentreffen nicht mehr zu befürchten. Möglich waren danach realistischerweise höchstens noch Scharmützel Vereinzelter. Warum hat die Kantonpolizei ihre Strategie dieser veränderten «Bedrohungslage» nicht angepasst?

• Obschon an diesem 29. März spätestens Mitte Nachmittag klar war, dass höchstwahrscheinlich gar nichts passieren würde, wurden weder die Polizeigrenadiere und die Dutzenden von weissen Kastenwagen abgezogen, noch liess man den öffentlichen Verkehr wieder zirkulieren. Das Polizeistaat-Happening wurde bis weit in die Nacht hinein verlängert. Warum?

Vermuten kann man: Es ging darum, in einer absehbar harmlosen Situation die interkantonale Polizeiarbeit in einem wirklichkeitsnahen Manöver zu testen. Es ging darum, dem Berner Polizeichef Reto Nause einmal die Gelegenheit zu geben, mit den Muskeln zu spielen. Es ging darum auszuloten, wie die aufmüpfigeren Fraktionen der Jugend nach der «Tanz dich frei»-Nacht vom 25. Mai 2013 auf die demonstrative Zurschaustellung einer polizeilichen Drohkulisse reagieren würden.

Und es ging darum zu schauen, wie die politische Öffentlichkeit auf eine solche Machtdemonstration der Polizei reagiert. Das weiss man unterdessen: Die Stadtrats-Fraktion der SP und jene der GB/JA! haben Interpellationen eingereicht, in denen unter anderem gefragt wird, wieviel diese Demonstration gekostet habe.

Journal B ist gespannt, ob der Gemeinderat mehr in Erfahrung bringt als die eigene Anfrage an die Medienstelle der Kantonspolizei: «Angaben zu den genaueren Kosten werden gegenüber den zuständigen Behörden gemacht.»

Mein Titel hatte gelautet: «Was bleibt nach dem 29. März?»

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