Rhetorisch effektvoll «Exgüsi» sagen

Ich habe mich im grossen Saal des Casinos auf der Galerie in die zweite Reihe gesetzt. Vor mir ein älteres Ehepaar, das sich leise auf Französisch unterhielt. Unten füllte sich der Saal mit Menschen, die sonst nicht hier verkehren: Auf dem Programm stand ja auch nicht Brahms oder Mendelssohn, sondern der «Gedenkanlass für ehemalige Verdingkinder und Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen». Plötzlich sehe ich, dass die Frau vor mir weint. Sie weint, dass es sie schüttelt. Schon vor der Veranstaltung. Ohne etwas zu sagen legt ihr der Mann begütigend eine Hand auf ihre Schulter.

Halb vier. Das Wort haben Betroffene: Ursula Biondi, die mit 17 nach Hindelbank kam, weil sie ledig und schwanger war. Bernadette Gächter, die als ledige Schwangere zur Abtreibung genötigt und bei dieser Gelegenheit en passant sterilisiert worden ist. Jean-Louis Claude, der seine Verdingkind- und Heimkarriere schildert und sagt, er sei «wiederholten sexuellen Übergriffen von mehreren Priestern und Angestellten» ausgesetzt gewesen. Das ehemalige Verdingkind Rosmary Jost, das in einem Emmentaler Krachen als billige Magd vom Bauer «regelmässig» missbraucht worden ist.

Eindrückliche Schlaglichter auf den Archipel Administrativjustiz, der bis 1981 einen Staat im Staat gebildet hat: In der Schweiz waren im 19. und 20. Jahrhundert insgesamt hunderttausende von Kindern fremdplatziert – zum Beispiel die jenischen «Kinder der Landstrasse». Sie wuchsen in Anstalten oder – als Verdingkinder – auf Bauernhöfen auf. Die Landwirtschaft hat mit ihrer Kinderarbeit gerechnet. Regelmässige Prügelstrafen gehörten meist, sexueller Missbrauch nicht selten zur Erziehung. Mit 16 konnten Verding- und Heimkinder gewöhnlich schlecht lesen und schreiben und weder mit Menschen noch mit Geld umgehen. Viele wurden kriminell oder sozial auffällig. So wurden sie eingesperrt oder «versorgt». Im «Beobachter» 11/1938 hat der Schriftsteller C. A. Loosli geschrieben: «Die Opfer der Administrativjustiz rekrutieren sich fast ausnahmslos aus der besitzlosen und rechtlich meistens durchaus ungebildeten Bevölkerung.»

Im Berner Casino sassen gestern Nachmittag mehrere hundert späte Opfer dieses Zwangssystems: Der Sprecher der kantonalen Sozialdirektionen war «zutiefst» berührt und bat «um Entschuldigung». Der Präsident des Bauernverbands bedauerte «zutiefst» und wollte «Anteil nehmen» (obschon, was ja auch gesagt werden müsse, «in vielen Bauernfamilien die Verdingkinder korrekt behandelt wurden»). Der Fachmann, der für Heimverband und Heimpädagogik sprach, bedauerte «zutiefst» und will nun hin- statt wegschauen. Und ein Bischof bat im Namen der drei Landeskirchen «um Vergebung für das begangene Unrecht» und beteuerte «unsere mitfühlende Solidarität».

Dann trat Bundesrätin Sommaruga auf die Bühne und tat das, was ihre Kollegin Widmer-Schlumpf im Herbst 2010 in Hindelbank – vor ehemaligen administrativ Weggesperrten – und ihr Kollege Egli im Sommer 1986 im Nationalratssaal – mit Blick auf die «Kinder der Landstrasse» – gemacht hat: Sie bat, in ihren Worten, «im Namen der Landesregierung und von ganzem Herzen um Entschuldigung».

In diesem Moment ging mir durch den Kopf, dass ich am 5. Mai 1986 an einer Pro Juventute-Pressekonferenz teilnahm, an der man eine Entschuldigung für das von der PJ verantwortete «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» erwartete. Das Wort ergriff dort alt Bundesrat Rudolf Friedrich in seiner Funktion als Stiftungsratspräsident, und er sagte: «Eine Stiftung kann sich nicht entschuldigen. Sie ist eine Fiktion, sie hat kein Bewusstsein» (WoZ 19/1986).

Im Casino sagte niemand, der Staat sei eine Fiktion: Hier taten alle das rhetorisch Mögliche, effektvoll exgüsi zu sagen. Man musste schon genauer hinhören, um mitzubekommen, dass ausser dem Sprecher der kantonalen Sozialdirektionen und der Bundesrätin niemand das Wort «Entschuldigung» in den Mund nahm (ein öffentliches Schuldeingeständnis könnte ja juristische Folgen haben). Auch fiel auf, dass mehrmals nachdrücklich die Kostbarkeit der «Menschenwürde» betont wurde. Auf den Begriff «Menschenrechte» wartete man allerdings vergebens – obschon im Archipel Administrativjustiz Menschenrechtsverletzungen alltäglich gewesen sind und die vier Zeugen und Zeuginnen zuvor von nichts anderem berichtet hatten.

Exgüsi zu sagen, ist zu wenig. Die Opfer müssen finanziell entschädigt werden. Nicht als Wiedergutmachung, sondern als Zeichen der Gerechtigkeit, wie der Historiker Thomas Huonker sagt («Beobachter», 7/2013). Er schätzt, dass eine Entschädigungssumme von einer bis anderthalb Milliarden Franken nötig sein wird. Das sei viel Geld? Anderthalb Milliarden sind 2,2 Prozent der UBS-Finanzspritze von 2008. Die UBS erhielt dieses Geld, obschon dort, wie man unterdessen weiss, in gewissen Abteilungen mit bemerkenswerter krimineller Energie abgezockt worden ist. Und die Schweiz ist eigentlich keine Räuberhöhle, sondern ein staatlich organisiertes Gemeinwesen, das den Menschenrechten verpflichtet ist.

Die Pressekonferenz im Mai 1986 verlief übrigens für die Pro Juventute nicht nach Wunsch: Eine grössere Gruppe Jenischer störte die geplante Weisswasch-Aktion. Den anwesenden Journis wurde ein Schwarzbuch mit einer Auflistung abgegeben, wofür sich die Stiftung im einzelnen zu verantworten habe. Dieses Schwarzbuch trug ein Motto aus Bertolt Brechts «Dreigroschenoper»:

«Und die da reden von vergessen
Und die da reden von verzeihn
All denen schlage man die Fressen
mit schweren Eisenhämmern ein.»

Diese Verse sind heute zweifellos eine nützliche Gedächtnisstütze für alle Exgüsi-SagerInnen im Casino. «Wohltätigkeit ist das Ertränken des Rechts im Mistloch der Gnade», hat Heinrich Pestalozzi gesagt. Folgenloses Exgüsi-Sagen wäre exakt eine solche Wohltätigkeit.

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