Für Romane zu blöd, oder was?

Im Nachrichtenmagazin «Facts» hat Daniel Arnet letzthin festgestellt: «Die Schweizer Literatur krankt», weil «der hiesige Roman auszusterben» droht. Beweis: In diesem Herbst erscheinen – von Christine Rinderknecht, Christoph Simon und Paul Nizon – gerade noch drei Romane (Facts 30/05). Gesetzt, diese Beweisführung sei zumindest für die Deutschschweizer Literatur stichhaltig, so ist die These von der krankenden Literatur trotzdem aus drei Gründen voreilig.

1.    Wenn eine Zeitungsredaktion von keinen neuen Romanen weiss, ist es möglich, dass es sie zwar gibt, sie aber nicht gedruckt werden.

Eine alte Einsicht: In der Deutschschweiz haben mit Belletristik jene am ehesten Erfolg, die im deutschsprachigen Ausland verlegt werden. Das waren und sind, wie man weiss, die wenigsten. Alle anderen versuchen, bei einem Deutschschweizer Verlag Unterschlupf zu finden.

Die Chance, dass dies gelingt, sinkt kontinuierlich: Viele Verlage, die sich eine Zeitlang um die hiesige Literatur bemüht haben, zogen sich ganz oder teilweise aus ihrem Engagement zurück – häufig weil sie von einem deutschen Verlag übernommen wurden: der Walter- und der Benziger-Verlag sind im Patmos-Verlagshaus (Düsseldorf) aufgegangen, Nagel & Kimche gehört zu Hanser (München), Ammann zu Fischer (Frankfurt), Pendo zu Ullstein (Berlin). Eine ganze Reihe kleinerer Verlage engagiert sich zwar punktuell (z. B. Appenzeller, Cosmos, Lenos, Rotpunkt, Zytglogge), aber den Programmschwerpunkt Schweizer Literatur leistet sich ausser dem Zürcher Bilger-Verlag zur Zeit niemand.

Also sind die Verlage schuld an den fehlenden Romanen? So einfach ist es nicht. Der Deutschschweizer Markt war schon immer zu klein, um die hiesige Belletristik im Durchschnitt gewinnbringend zu verlegen. Zudem ist das Angebot an industriell produzierter Unterhaltungsliteratur stark angewachsen und der Kulturbetrieb hat sich in den letzten zwanzig Jahren in Richtung audiovisuelle Kunstformen entwickelt und revolutioniert, die Bedeutung von aktueller Literatur wurde marginalisiert. Zwar lesen immer weniger Leute immer mehr, aber immer mehr Leute lesen überhaupt nicht mehr. Für die Deutschschweizer Verlage heisst das, dass sie von einem Roman noch wenige Dutzend bis höchstens ein- oder zweitausend Exemplare verkaufen. Belletristik ist deshalb nur noch durch massive Quersubventionierung über andere Teile der Verlagsprogramme finanzierbar. Kontinuierlich erzählerische Texte zu veröffentlichen, ist vor allem ein Kostenfaktor, den sich gewisse Verlage aus Imagegründen oder aus Leidenschaft leisten.

Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass heute immer mehr Romane in Schubladen liegen bleiben oder sie über Selbsthilfestrukturen (Selbst- oder AutorInnenverlage, Books on Demand) unter die Leute gebracht werden. Das heisst:

2.    Wenn eine Zeitungsredaktion von keinen neuen Romanen weiss, ist es möglich, dass die Romane zwar gedruckt, aber von ihr ignoriert werden.

Respekt vor den Zeitungsleuten. Sie tun, was sie können. Aber in der Deutschschweiz können sie immer weniger – auch die Kulturredaktionen, die sich unter anderem mit der Literatur-Berichterstattung beschäftigen. Die Printmedien stecken in einer strukturellen Krise, deren Ende nicht absehbar ist. Nach einer letzten kleinen Hausse um die Jahrtausendwende versiegt die bisherige Haupteinnahmequelle, der Inseratemarkt, in dramatischem Tempo. Immer mehr Geld des Werbekuchens geht an die audiovisuellen Medien, bedeutende Teilmärkte sind unwiederbringlich an das Internet verloren (Partnervermittlung, Arbeitsstellen, Liegenschaften, Autos). Die Verlagsmanagements sind ratlos, Sparübung folgt auf Sparübung, die Chefredaktionen geben den Druck nach unten weiter und sparen Stellen, Honorare und Zeitungsseiten.

Auch die Feuilletons sind schmal geworden. Die Berichterstattung muss sich deshalb beschränken: Erwähnung findet vorab, was voraussichtlich möglichst viele LeserInnen interessiert, denn Lesende sind Konsumierende und wo Konsum ist, steigt die Hoffnung auf Werbeeinnahmen. Erwähnung findet in den Feuilletons zudem, was das Agenda-Setting des Einschaltquoten-Feuilletonismus der audiovisuellen Leitmedien vorgibt. Belletristische Literatur ist nur noch dann von Interesse, wenn renommierte Preise verliehen werden (so genanntes Nobelpreis-Muss), wenn die Neuerscheinung eines international bekannten Grossautors resp. einer fast ebenso bekannten Grossautorin ansteht (so genannter Harry Potter-Effekt) oder wenn die PR-Abteilungen von belletristischen Grossverlagen gut aussehende ErstlingsverfasserInnen lancieren wollen (so genanntes Zoë Jenny-Syndrom).

Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass im belletristischen Bereich die Vermittlung zwischen Buchproduktion und öffentlicher Rezeption heute teils prekär geworden, teils ganz zusammengebrochen ist. Als Zwischenergebnis fliessen die Aspekte 1 und 2 zur These von der Abwärtsspirale zusammen: a) Weniger Verlage machen weniger Belletristik; b) weniger und schmalere Feuilletons berichten über diese Belletristik immer weniger oder gar nicht mehr; c) das daraus resultierende sinkende öffentliche Interesse führt zu einer kleineren Nachfrage und dadurch zu wachsendem ökonomischem Druck auf die Verlage, die entweder aufgeben oder noch weniger Belletristik drucken.

3.    Wenn eine Zeitungsredaktion von keinen neuen Romanen weiss, ist es möglich, dass es sie tatsächlich nicht gibt, dies aber nicht bedeutet, dass «die Literatur krankt».

Junge Autoren und Autorinnen sind im Durchschnitt nicht blöd. Sie wissen, dass für die Verlage der Weg zwischen Konzernanschluss und Konkurs schmal geworden ist. Sie schätzen die Zeitungen als aussterbendes Kunsthandwerk. Und sie sagen: Wir wollen trotzdem schreiben.

Diese jungen Leute haben die veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur in einem Mass verstanden und sich ihnen angepasst, dass sich im Berufsverständnis der Schreibenden ein deutlicher Bruch zwischen den Generationen feststellen lässt: Es gibt AutorInnen, die ihr Berufsverständnis vor – sagen wir – 1990 entwickelt und solche, die dies nach 1990 getan haben (dass die Literatur, die in der Deutschschweiz entstanden ist und entsteht, quantitativ schon immer von der Arbeit von HobbyautorInnen dominiert worden ist, die sich ein professionelles Verständnis ihrer Schreibarbeit gar nicht leisten konnten respektive können, ist wahr, aber eine andere Diskussion).

Die auffälligsten Charakteristika dieses Generationenbruchs zwischen «altem» und «neuem» Berufsverständnis sind folgende:

• Bis 1990 verstanden sich AutorInnen als KleingewerblerInnen mit lebenslanger Berufsperspektive: Die Berufung war ihnen das unhinterfragbare Recht auf einen Beruf, der daraus bestand, kontinuierlich zu schreiben, zu veröffentlichen und zu verkaufen bis zur selbstgewählten Pensionierung – wo der Markt nicht trug, sollte die öffentliche Unterstützung tragen. Wer nach 1990 zu schreiben begann, hat dagegen ein tendenziell neoliberal flexibilisiertes Berufsverständnis: Man plant und arbeitet zunehmend projektbezogen und ist bereit, immer neu zu überprüfen, ob ein Berufswechsel nötig wird. «AutorIn» ist zum Lebensabschnittsberuf geworden.

• Das alte Berufsbild ist eines von EinzelkämpferInnen. Ihr Selbstverständnis speist sich teils aus dem untergegangenen «Genie»-Kult, teils aus der strukturellen Missgunst, die das kleingewerbliche Milieu prägt. Das neue Berufsbild dagegen begünstigt Netzwerke von Schreibenden, subkulturelle Diskussionszusammenhänge, Seilschaften, Teams, die sich projektbezogen zusammenfinden. Dieses Berufsbild ist nicht mehr kompatibel mit Schrulligkeiten und Ticks hinterm Lesepültchen – es fordert den überzeugenden Auftritt von ExpertInnen und den Habitus von coolen Selbstständigerwerbenden.

• Entsprechend verändert sich das Verhältnis zum eigenen Werk. Die lastende Ernsthaftigkeit noch der sprachlich dilettantischsten Elaborate der «Alten» ist durchschaut als Reflex des verbohrten protestantischen Arbeitsethos, mit dem sie hergestellt worden sind. Die «Jungen» dagegen bejahen das Unterhaltungsbedürfnis ihres Publikums und machen das Leiden an der Herstellung des Texts zu dem, was es ist: zur Privatsache. Die Tendenz ist klar: Es soll auch in der Deutschschweiz keine Trennung mehr geben zwischen «E- und U-Literatur». Jene zwischen gut gemachter und schlecht gemachter Literatur soll genügen.

• Klar unterscheidet sich beim Vergleich der Berufsbilder das Verhältnis zum Markt. Im alten Verständnis war es eine Frage der Berufsehre, sich defensiv zu verhalten: Alles andere, als im stillen Kämmerchen zu warten bis zum Tag der Entdeckung durch Markt und Literaturbetrieb, galt als unter der Würde des Werks, das man schuf. Das neue Berufsverständnis impliziert ein offensiveres Verhältnis zum Markt. Man sucht mit der eigenen Schreibarbeit das Publikum, allerdings nicht im Sinn von quasisakralen Lesungen, sondern als flexible EntwerferInnen dramatischer Texte für Radio, Fernsehen und Bühne oder als Attraktionen von Events: als Rezitierende mit Musikunterstützung, als sprachgewaltige Entertainer, als improvisierende WettkämpferInnen an Poetryslams. Im Gegensatz zum vermurksten Narzissmus der HungerkünstlerInnen von ehedem steht man zunehmend dazu, dass es hier und heute nicht nur um das unsterbliche Werk, sondern ganz profan auch um ein existenzsicherndes Einkommen geht.

• Schliesslich haben die «jungen» AutorInnen die Idee von der literarischen Diskurshegemonie als Illusion verabschiedet. «Alte» AutorInnen gehen bis heute davon aus, dass ihr Wort aufgrund seiner unabhängig-universalistischen Perspektive in einem ethisch-politischen Sinn allen anderen Diskursen überlegen sei. Dass die Öffentlichkeit, der sie weiterhin Partner sein wollen, immer weniger nach der Darlegung ihrer Sicht der Dinge verlangt, deuten sie als «Entpolitisierung». Für «junge» AutorInnen ist diese Haltung eine Donquichotterie. Offensichtlich wird die Welt heute nicht mehr mit schöngeistigem Moralisieren, sondern mit den Expertensprachen von Ökonomie, Politologie, Soziologie et cetera erklärt. Literatur als Disziplin kann sich nur dann behaupten, wenn sie sich als weitere Expertensprache positioniert und durch akademische Elaboriertheit unangreifbar macht. In dieser Perspektive wird die Weltanschauung der AutorInnen paradoxerweise zur Privatsache.

Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass das Berufsverständnis der professionell Schreibenden in diesen Jahren stark im Umbruch und das Verfassen von Romanen offenbar von geringerem Interesse ist als zu anderen Zeiten. Anzunehmen ist zudem, dass sich die Veränderung des Berufsbilds noch beschleunigen wird, wenn das Schweizerische Literaturinstitut in Biel (siehe WOZ 25/2005) wie geplant in einem Jahr seinen regulären Betrieb aufnimmt. Innert weniger Jahre wird dann in der Deutschschweiz zur professionellen Autorenschaft mit Vorteil zusätzlich ein Bachelor-Abschluss gehören. Welche literarischen Formen diese neue Generation von Profis dereinst bevorzugen wird, ist offen – sicher ist aber bereits jetzt, dass sie es schon aus Gründen ihrer Marktchancen hassen werden, in irgendeiner Weise mit «Schweizer Literatur» in Zusammenhang gebracht zu werden. Wer interessiert sich schon für «liechtensteinische» oder «andorranische» Literatur?

Wenn jemand wie der Thesenjournalist Daniel Arnet heute das Fehlen von Romanen als Symptom einer «kranken» Literatur diagnostiziert, könnte das alles in allem damit zusammenhängen, dass er die Literatur dort sucht, wo sie zur Zeit nicht ist.

In der WOZ ist der Text unter dem Titel: «Wo ist der Roman? erschienen. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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