Die Fenstersteher

[Anriss S. 1]

Schriftsteller sind überflüssig

Dazu dasein, für nichts dazusein. – Eigentlich sind die Menschen überflüssig. Bestenfalls nach der Funktion, die einer ausübt, besteht ein Bedürfnis. Von der grossen «Maschine der heutigen Welt» (Günther Anders). Der Mensch arbeitet für die grosse Maschine, also ist er. Im besonderen überflüssig ist der Schriftsteller. Der Schriftsteller ist ein Mensch, dessen Funktion es ist, alle denkbaren Funktionen, die sich die grosse Maschine für ihn ausdenkt, zu verweigern. An seiner speziellen Überflüssigkeit erkennt man den Schriftsteller. Er dient niemandem und zu nichts. Der Schriftsteller tut nichts für die Maschine, also ist er nichts.

Am Anfang der Karriere eines Schriftstellers steht deshalb die Einsicht in seine grundsätzliche Überflüssigkeit. Auf ihn hat niemand gewartet. Was er zu sagen hat, interessiert niemanden. Er würde besser etwas arbeiten, sagt man ihm. In Büchern von jungen Schriftstellern ist deshalb immer wieder auch die Rede davon, wie sie mit ihrer Überflüssigkeit umgehen: «Grundlos Gänge unternehmen, schlicht und einfach um des Gehens willen» (Daniel Walter), oder: «Ohne etwas oder jemanden zu erwarten, stehe ich an meinem Fenster und schaue hinaus, absichtslos.» (Bendicht Arni)

In der Schweizer Literatur sind die Fenstersteher aufgetreten.

 

[Aufsatz]

Die Fenstersteher

Junge Schweizer Autoren: Die Ausgeschlossenen schliessen sich ein

In letzter Zeit ist eine ganze Reihe von literarischen Arbeiten publiziert worden, die – abgesehen davon, was die Schreiber aussagen und darstellen wollten – mehrere bemerkenswerte Gemeinsamkeiten aufweisen: Die Autoren sind Männer zwischen 28 und 32, haben (fast alle) zum ersten Mal ein Buch publiziert, und in ihren Texten kommen immer wieder Fenster vor: Fenster und Leute, die an diesen Fenstern stehen, hinausschauen oder es bleiben lassen. Warum aber wählen gleichzeitig verschiedene Autoren, um Verschiedenes auszudrücken, übereinstimmende Bilder?

«Das zu Beachtende ist in den Texten die Gestik, ich nenne es die Sprach-Figur.» (Kurt Aebli)

I   Carlo Bernasconi: «Der Mann», 1983

Die Welt in den kleinen lyrischen Texten des Fensterstehers Bernasconi ist eine versteinerte, eine, die stillsteht, weil sie abgestorben ist: «Hinter ihm schwieg der Kirchturm» (S. 10), «Er hörte nur Geräusche aus einer still- / stehenden Uhr.» (S. 11) Obschon in seinen Innenräumen keine Luft zum Atmen ist, schliesst der namenlose Mann, sich abwendend, das Fenster: «Der Mann kam in die Wohnung seiner / Eltern. / […] // Er schloss die Fenster zur Veranda und / ging in sein Zimmer. / Auf seinem Bett lagen unzählige Plüsch- / tiere. // Als er zum Fenster hinausschaute, sah er / Schwarze Frauen auf ihn zukommen. / Sie beachteten ihn nicht. // Der Mann schloss die Fenster und begab sich / ins Schlafzimmer der Eltern. / Sein Vater lag reglos im Bett. / […] // Nichts und niemand hatte sich bewegt.» (S. 66) Und so blickt Bernasconis Mann zum Fenster hinaus: «Vor dem Fenster der Wohnung des / Mannes spazierten Menschen vorbei. / Er kannte ihre Ziele. // Die Menschen sahen in seine Wohnung / hinein. / Was sie sahen, wusste er nicht. // […]» (S. 49) In dem Masse, in dem der Mann nicht mehr hinter seinem Fenster hervorkommt, weil er die Ziele der andern bereits kennt, versteinert er selber, stirbt er selber ab.

II   Daniel Walter: «Die Phiole ohne Blume», 1984

Walters liebeskranker Protagonist sucht den «vergitterten Ausblick» aus seiner «Klause», seiner «Zelle», mit abnehmendem Interesse: «Die erste Zeit nach seiner Ankunft verbrachte er, leicht über den Sims gebeugt, ganze Nachmittage am Fenster und sammelte umherschweifende, dem Blick preisgegebene Eindrücke auf, die wie zusammengekehrter Staub zu Haufen anschwollen.» (S. 22) Im Text durch Absetzen hervorgehoben: «Er habe am Fenster gestanden» (S. 13) und: «Ich stehe am Fenster.» (S. 94) Später schliesst er Fenster und Jalousien: «Vor dem Fenster bleiben die Läden geschlossen; die notdürftigen Lücken dazwischen gaben der Umgebung das Aussehen halbfertiger, unvollendeter Mosaike.» (S. 26) «Durch die dichtgemachte Jalousie sah er fingerbreit ans gegenüberliegende Haus; in der beinahe windstillen Luft baumelte Wäsche vor den Fenstern an Ständern.» (S. 30) «Die Jalousie schloss annähernd lückenlos.» (S. 55) «Vor dem Fenster liess die Kastanie die Äste fallen. Zumindest mutete es so an. Er konnte sie nicht sehen. Die Jalousie dunkelte ab, bis auf einige knopflochgrosse Schadstellen.» (S. 65) Die unerfüllbare Liebe führt den Protagonisten (der Walters platonische Liebe zur in Genf lebenden Pianistin Martha Argerich stellvertretend erleidet) in den «Trakt B», wo die Fenster, als Öffnung zur Aussenwelt, vollends überflüssig werden: «Aus den Fassaden fliehen die Fenster, abendliches Licht zehrt sie auf. […] Stünden nur Mauerwerke und fehlten die Fenster, verströmte Neonlicht, und wäre die Aussicht versperrt: ihre Blicke fragten nicht weiter.» (S. 88)

III   Bendicht Arni: «Gezeitenwechsel», 1983

«Denkbar ist Regen.» So beginnt die zwölfseitige Titelgeschichte in Arnis Erzählband (S. 79-91): Ein Mann, ein eingeschlossener Ästhet, blickt aus einem Fenster über Sanddünen aufs Meer hinaus. Der Rahmen eines Bildes, das man anschauen kann, «aber hinausgehen, um mir Gewissheit zu verschaffen, lohnt sich nicht […] – ich ziehe die Fensterflügel zu. […] Versuche ich schärfer hinzuschauen, verschwimmen die möglich gewordenen Bilder weiter, vielfach gebrochen in den Schlieren auf dem Glas, und ausser stumpfen Farben ist vorerst nichts Deutbares darin auszumachen.» Sozusagen chemisch rein beschreibt Arni den Zustand des Fensterstehers: «Ohne etwas oder jemanden zu erwarten, stehe ich an meinem Fenster und schaue hinaus, absichtslos. […] Was dort drüben, hinter den Dünen, vielleicht aufzugreifen wäre, spart mir der Fensterrahmen aus, und ihn zu weiten, gelingt mir noch nicht.» Die Welt als unveränderbares Bild: «Nein, ich werde nicht hinausgehen, was auch da vorn, unmittelbar am mässig bewegten Wasser, verborgen sein mag, ich werde weder suchen noch graben nach Halbverdecktem, das vielleicht, bei anderem Licht, plötzlich aufblitzt, Hoffnungen weckt und dann nur Enttäuschungen bestätigt.» Später bricht Sturm los: «Ich taste mich wieder ans Fenster, betäubt vom entfesselten Grollen der See, […] und ich zwinge mich, die Augen offenzuhalten.» Was er sieht: einen einzelnen Mann, der, von einer Woge erreicht, die Arme hochreisst und von der nächsten umgerissen wird, «dann wischt der Regen die Sicht aus». Und, wie gesagt, Regen ist denkbar.

IV   Christoph Bauer: Beitrag zur «Realismusdebatte 1983/84»

«wers nicht versteht, dass ich die realität nicht mag, soll zum fenster rausschauen. ich bin überzeugt, dass ihm innert kürze speiübel wird», schreibt Christoph Bauer in seinem Beitrag zur «Realismusdebatte 1983/84». (S. 35) Der Satz unterschiebt, dass sich (auch) der Leser in geschlossenen Räumen aufhält und also (auch) ein potentieller Fenstersteher ist. Empfohlen wird ihm, das zu tun, was der Autor tut: die Augen zu öffnen, d.h. zum Fenster hinauszuschauen, um, wie er, das einzige zu empfinden, was man beim Anblick dieser Um-Welt empfinden kann: Abscheu und Ekel. Der Satz unterschiebt weiter, dass es völlig egal sei, aus welchem Fenster einer hinausschaue, oder aber, dass es überhaupt nur ein Fenster gebe, um hinauszuschauen. Bauers Fenstersteher-Gestus kommt jenem sehr nahe, den Roman Polanski im Film «Der Mieter» zeigt: Durch den Terror seiner kleinbürgerlichen Um-Welt wird der Mieter systematisch in den Selbstmord getrieben. Gegen Ende des Films sitzt er bewegungslos in seinem Zimmer, direkt vor dem geschlossenen Fenster, blickt hinaus in die Um-Welt, in die er sich – aus Abscheu und Ekel – zu Tode stürzen will: das Fenster als letzte Schranke vor dem Horror.

V   Kurt Aebli: «Der perfekte Passagier», 1983

In Aeblis Gedichtband «Der perfekte Passagier» steht das «Balkongedicht / 29. Mai 1981»: «Ich sitze nur in mir selbst bewegt auf einem Balkon / an einem unerklärlichen Abend, / der dadurch, dass ich ihn nicht verstehn will, / nichts von seiner Unerklärlichkeit verliert. / […].» (S. 8) Wozu hinausgehen? «Draussen gibt es nur was du kaufen kannst» (S. 15), darum: «Ich lehne an der Brüstung des Fensters / und schaue in ein Buch.» (S. 44) Wenn der Fenstersteher aber hinausschaut, so steht er an seinem (und nicht wie Bauer an dem) Fenster, um zu beobachten, was draussen geschieht: «Am Fenster stehn, einsilbig, einsinkend bis zum Hals / in die finstere Erde Bewegungslosigkeit, / und im Kopf das brombeerfarbene / Geschrei. / während draussen dieser Regen fällt / unaufhörlich fällt, wie eine langsame / dickköpfige Vernunft gegen den wahnsinnigen Verkehr.» (S. 53) Und: «Vom Fenster aus einen alten Mann gesehn, heute kurz nach dem Aufstehn, / der Klaräpfel ablas in seinem / sauberen, wie verschont aussehenden / Garten.» (S. 79)

VI   Kurt Aebli: «Die Flucht aus den Wörtern», 1983

Bereits im Text mit der Zeile, die dem Gedichtband «Der perfekte Passagier» den Titel gab, formulierte Aebli den Gestus des fahrbaren Fensters: «Nach einer Weile in dem Bus / sah ich auf der spiegelnden / Scheibe: ich war / ein perfekter Passagier, / ganz undurchschaubar auf der Fahrt / stadtauswärts, / wie sie jeden Tag stattfinden konnte, / auch ohne mich.» (S. 81) Im Prosatext «Die Flucht aus den Wörtern» kommt der perfekte Passagier, der sich hinter einem fahrbaren Fenster beobachtend auf eine Flucht ohne Anfang und Ende begeben hat, wieder zu Wort: «Der Zug ist ein Fenster, an dem sich eine Landschaft vorüberschiebt.» (S. 76) «Bild: Der Zug fährt mit apokalyptischer Geschwindigkeit. Zerfetztes Licht. In der anbrechenden Dämmerung über die weite Ebene glänzende Autoscheinwerfer. Radfahrer, warten mit in den Windjackentaschen versenkten Händen vor geschlossenen Barrieren.» (S. 76) Dieser Prosatext ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens hält er den Gestus des Fensterstehers auch formal konsequent durch: Der Text zerfällt in unzählige «Fensterblicke», Notizen, Reflexionen, tagebuchartige Aufzeichnungen: «Schreiben nur noch als die Weigerung des Schriftstellers, die Welt noch einmal für andere zusammenzuflicken. Nur noch die rohen Details.» (S. 129) Zweitens reflektiert der Text den Gestus des Fensterstehers als eine Reaktion auf die völlige Funktionslosigkeit (und das heisst auch: Ortlosigkeit) des jungen, ohne jede Öffentlichkeit und ohne jedes Sozialprestige arbeitenden Autors. «Und solange man allein lebt, gibt es nur die Angst, sich endgültig irgendwo einzurichten, welche die Angst davor ist, die eigene im Grunde unerträgliche Situation festzumauern, darin Gefangener zu werden, die Tür hinter sich zu schliessen.» (S. 113) Einerseits wird Aebli hinausgetrieben – und das heisst in diesem Land mehr als anderswo: im Kreis herumgetrieben –, andererseits schafft er es nicht mehr, durch das Fenster ins Freie hinauszukommen. Die Flucht hinaus führt hinter neue Fenster: «Äussere Bewegung (sich in einen fahrenden Zug setzen), weil im Stillstand das Zerreissende überall angreifen kann. Mit grossen Pfoten das Zerreissende in mir.» (S. 89) Die Überflüssigkeit und Ignorierung der eigenen Arbeit ist total: «Arbeit ist, was bezahlt wird. In dieser Hinsicht ist die Stellung des Schriftstellers in ‘der Gesellschaft’ am ehesten vergleichbar mit derjenigen der ‘Hausfrauen’.» (S. 130) Daraus formuliert Aebli eine Definition der Funktion funktionslosen Schreibens: «Da man einmal eingesehen hat, dass man keine Chance hat (sein Leben oder die Welt zu verändern), was bleibt anderes übrig, als hier zu blieben mit der grösstmöglichen Wachsamkeit sich selber und der sich brutalisierenden Umgebung gegenüber.» (S. 130)

VII   Exkurs: Der Filmer als Fenstersteher. – Clemens Steiger: «Lebensräume», 1983

An den Solothurner Filmtagen 1984 zeigte Clemens Steiger den Film «Lebensräume». Im Programmheft stand folgende Inhaltsangabe: «Ein Zimmer in einem Haus an einer Strasse in einer Stadt. Bilder dieses Zimmers, das Abtasten des Raumes, der Blick zum Fenster hinaus. Von draussen dringen unablässig Geräusche in den Innenraum, aufdringlicher Lärm, meist kaum wahrgenommen, manchmal beruhigend. Der Blick durchs Fenster auf die Strasse, das Gehen der Strasse entlang, das Sich-Vortasten in den Stadtraum bis hinab in unterirdische Welten, in reale Träume, Illusionsräume.» Die Kamera wird von einem Fenstersteher geführt: «Ich arbeite mich mit meiner Kamera durch diese Welten, bewege mich vorwärts, angetrieben durch das Rattern meines Kameramotors.» Weder Sinn noch Funktion treibt vorwärts, sondern die mechanischen Geräusche des selbstgewählten Herzschrittmachers. Das Verlassen des Zimmers an der Zürcher Langstrasse wird zur äussersten Anstrengung: «Nachts um zwei Uhr in der leeren Escher Wyss-Unterführung, leerer noch als ein Schwimmbad, bei dem man das Wasser abgelassen hat, bewaffnet mit einer Kamera, mit weichen Knien, Angst vor allfälligen starken Typen, zusammenfahrend ob der Glocke, die plötzlich schrillt, ich weiss nicht für wen.» Steiger weist hier auf einen weiteren Aspekt des Fenstersteher-Gestus hin: auf das Gefühl einer doppelten, äusseren Bedrohung: einerseits physisch durch eine brutalisierte Umgebung («starke Typen»), von der auch Aebli spricht, andererseits psychisch durch die semiotische Katastrophe, durch den Bedeutungszerfall aller äusseren Zeichen («die Glocke, die plötzlich schrillt, ich weiss nicht für wen»).

VIII   Vermutungen

Schreiben, losgelöst von den Sinnkrücken der alltäglichen Nützlichkeit, vom Broterwerb, von wissenschaftlicher oder ideologischer Auseinandersetzung zumindest, ist funktionslos, ist Sprache ausserhalb der sinn-monopolisierenden «Maschine der heutigen Welt» (Günther Anders). Gelesen wird Funktionsloses spärlich; meist von solchen, die ihren Funktionszwang mit Melancholie kompensieren wollen. Gesellschaftlich zur Kenntnis genommen wird Funktionsloses nicht. Zunehmend scheint der Gestus des funktionslos Schreibenden DAS ABSICHTSLOSE FENSTERSTEHEN DES FREIWILLIG EINGESCHLOSSENEN zu werden und damit den Gestus DES ZIELLOSEN GEHENS DES UNFREIWILLIG AUSGESCHLOSSENEN abzulösen (vgl. Kasten).

Fensterstehen ist eine Geste des Rückzugs, der inneren Emigration, der Verbarrikadierung («Wer spricht von siegen? Überstehn ist alles»). Noch vor vier Jahren schlugen Leute aus der Generation der Dreissigjährigen Fensterscheiben ein, um von draussen das eingeschlossene Bedrohliche anzugreifen. Heute sagt der Fenstersteher-Gestus der Gleichaltrigen: ich schaffe es nicht mehr, die Fensterscheiben zu durchschlagen, um nach draussen zu kommen. Die Ausgeschlossenen haben sich einschliessen lassen. Dies ist auch eine Umschreibung dessen, was andere mit dem Begriff «Nachbewegungsdepression» anzudrücken versucht haben.

 

[Kasten]

Die Fussgänger

Im radiophonen Portrait «Spazieren mit Robert Walser» (1975/76) von Urs-Peter Scheider hört man die Schritte minutenlang, von einer Boxe zur anderen hinüber, durch die Landschaft gehend, Schritte im Wald. Robert Walser war Fussgänger aus Berufung: Er dichtete im Gehen, beschrieb in seiner Prosa immer wieder Spaziergänge, «Der Spaziergang» hiess eine seiner Buchpublikationen. Er ging ohne Auftrag, auf niemandes Befehl, funktionslos, ausser Dienst, ausser Konkurrenz und Kontrolle, unbrauchbar, absichtslos, etwa von Bern auf den Niesen und zurück, von zwei Uhr nachts bis zur folgenden Mitternacht oder in zwei Tagen von Bern nach Genf. Walser war Nomade, wechselte in den ersten sechs Berner Jahren (ab 1921) fünfzehnmal das Zimmer: «Ich begnüge mich, innerhalb der Grenzen unserer Stadt zu nomadisieren, eine Wanderart, die mir überaus bekömmlich zu sein scheint, denn ich sehe, wie ich sagen kann, verhältnismässig gesund aus, d.h. es scheint mir, dass ich blühe.» – Walser setzte sich selber aus und ertrug sein Ausgeschlossensein endlos streunend, so lange er konnte. Dann liess er sich einschliessen und versorgen. Wie kein zweiter unter den Zeitgenossen hat Franz Böni («Wanderer im Alpenregen») sein Ausgeschlossensein mit dem funktionslosen Gehen gekoppelt: «Kein Zweifel, ich hatte Robert Walsers Platz eingenommen und musste sein Werk weiterführen», schrieb er 1978 in seinem kurzen Prosatext zum hundertsten Geburtstag von Walser. Auch Daniel Walter beschreibt in seiner Phiolen-Erzählung dieses funktionslose Gehen: «Grundlos Gänge unternehmen, schlicht und einfach um des Gehens willen» (S. 52). Und: «Keiner Richtung, keinem Ziel verpflichtet, denke ich, durchschreite ich die Stadt von einem Ende zum andern, ohne Unterbrechung, ohne Umkehr, Gasse für Gasse, […].» (S. 46) Übrigens steht Kurt Aeblis fahrbares Fenster in der Mitte zwischen dem Fussgänger- und dem Fenstersteher-Gestus. Das fahrbare Fenster ist eine Art Synthese der beiden Gesten. Im fahrenden Zug, zum Fenster hinausblickend, ist Aebli gleichzeitig eingeschlossener Fenstersteher und ausgeschlossener Fussgänger.

Kurt Aebli: Der perfekte Passagier. Basel (Nachtmaschine) 1983.

Kurt Aebli: Die Flucht aus den Wörtern. Prosa. Zürich (Rauhreif Verlag) 1983.

Bendicht Arni: Gezeitenwechsel. Bern (edition alphabet, 3000 Bern 1), 1983.

Carlo Bernasconi: Der Mann. Basel (Nachtmaschine) 1983).

Daniel Walter: Die Phiole ohne Blume. München (Piper) 1984.

Die Zitate von Christoph Bauer und Clemens Steiger stammen aus: WoZ [Hrsg.]: Vorschlag zur Unversöhnlichkeit. Die Realismusdebatte 1983/84. Zürich (WoZ). 1984. – Dieser Beitrag ist der Zusammenzug eines umfangreicheren Textes unter gleichem Titel, den ich in der Sommerpause 1984 – die Zeitung WoZ erschien damals im Juli jeweils zwei Wochen lang nicht – in mein Tagebuch notiert hatte (siehe hier).

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5