Wie starb Dante Dallari?

 

I

CASTAGNETO CARDUCCI, 6.5.1985. An der linken Stützmauer der Piazza di popolo findet sich eine Gedenktafel. «IL 27.6.1944/ QUI E CADUTO/ PER LA LIBERAZIONE/ DI CASTAGNETO C./ A L’ETA DI 22 ANNI/ IL PATRIOTA/ DALLARI DANTE.» An jenem 27. Juni seien die Alliierten in Castagneto einmarschiert. Das sagt eine andere Gedenktafel weiter oben im Dorf. Wie aber starb Dante Dallari und warum?

II

Im öffentlichen Raum brechen neue Bedeutungen an den Brennpunkten der Auseinandersetzungen auf. Wer eine Auseinandersetzung in seinem Sinn steuern will, muss die Macht haben, die Bedeutungen dieser Auseinandersetzungen zu steuern (z.B. Atomenergie bedeutet umweltfreundliche Energie). Wer dysfunktionale Bedeutungen (z.B. Atomenergie bedeutet Plutonium) verhindern kann, hat die Macht, die Welt in seinem Sinn zu verändern.

(FACTION I) In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen hat sich der Schriftsteller Peter Härtling(1) im Winter 1983/84 die Aufgabe gestellt, eine Erzählung zu schreiben über eine vorgefundene Fotografie, um daran seine Methode der schriftstellerischen Arbeit aufzuzeigen. Das Bild stammt vom Kriegsfotografen Robert Capa und zeigt einen anonymen Soldaten im spanischen Bürgerkrieg in dem Augenblick, da ihn von vorn die tödliche Kugel trifft: Der Soldat wird, schon halb in die Knie gesunken, von der Wucht der Kugel nach links hinten gerissen, der weit zurückgeschleuderten rechten Hand entgleitet der Karabiner. An diesem Bild wollte Härtling «die Spannung zwischen Finden und Erfinden», «die Dialektik von Material und Phantasie» erläutern, wollte aufzeigen, wie er «das Vorgefundene durch Erfindung» belebt.

Was die beschauliche Fragestellung eines literarischen Bildungsbürgers sein mag, gewinnt plötzlich dort an Brisanz, wo «Erfinden» bis anhin ein Schimpfwort war: im Journalismus. Der lebt zwar nicht von bei Gelegenheit Vorgefundenem, aber umso mehr vom aktuell Vorfindbaren. Wenn heute JournalistInnen über das Erfinden, exakter über das Ergänzen von Geschichten diskutieren, so bedeutet das auch, dass zur gleichen Zeit der Raum des aktuell Vorfindbaren immer weiter zusammenschrumpft.

Der Informationsfluss aus Konzernen, Betrieben, öffentlichen und privaten Institutionen ist heute (fast) vollständig versiegt: durch interne Informationsverhinderung gegen unten, durch Redeverbot für die Kader gegen aussen und durch die Einführung von offiziellen Informationsverhinderern, die sich euphemistisch «Pressesprecher» nennen. Was heute aus den Machtzentren an die Öffentlichkeit kommt, ist vollständig gesiebt und gesteuert (ausser wenn einer zum moralischen Kamikazeflug ansetzt: Stanley Adams in der Hoffroche, Rudolf Hafner in der kantonalbernischen Finanzdirektion etc.) Durch die enorme News-Konkurrenz auf dem Medienmarkt ist andererseits sichergestellt, dass auch dann noch grosser Lärm veranstaltet wird, wenn die Medien nichts Genaues oder das Falsche wissen. Die «Informationsgesellschaft» funktioniert deshalb, weil sie Information verhindert, nicht weil sie sie vermittelt. Seit den frühen 70er Jahren ist deshalb die Gattung der Informationsverhinderer zu einem ehrenwerten Berufszweig herangewachsen (bei der Stadtpolizei Bern arbeiten in dieser Funktion zwei Journalisten – wohl in der Erkenntnis, dass einer zuerst gelernt haben muss, was Information ist, bevor er sie wirkungsvoll verhindern kann). Der Raum des journalistisch Vorfindbaren versäuft in den Fluten von PR und mit Information gefärbter Imagepflege. In dieser Situation taucht ein neuer Begriff auf: FACTION.

III

CASTAGNETO MARINA, 7.5.1985. Im Pinienwald, der die kilometerlangen Felder vom Strand trennt, beginnt die touristische Zone. Zwischen den Stämmen ein riesiger Kinderspielplatz, jetzt fast leer (nur einige einheimische Mütter mit ihren Kindern, die sie mit dem Auto hier herausgefahren haben). Danach locker zwischen die Bäume gestellt zu dutzenden kleine malerische Villen, jetzt verriegelt. Links der Zeltplatz, Herden verrammelter Wohnwagen. Weiter vorne, vor dem Wald einige Häuserzeilen an rechtwinklig gezogenen Strassen. Ab und zu vereinzelte Leute, die lustlos irgendwelchen Reparaturarbeiten nachgehen, ansonsten zerfällt die Geisterstadt still vor sich hin. Wind wirbelt Laub, Sand und Papier entlang der Strassen. Sehr weisses blendendes Licht. Vorn am Strand brechen müde die grauschwarzen Wellen und verlaufen im Sand (über allem die harte, glasklare Glocke der Sinnlosigkeit, ausgehend von diesen ausser Betrieb stehenden Produktionsanlagen des privaten Dienstleistungssektors). Ein öffentlicher Bus, auf einer windverwehten handschriftlichen Anzeige am Eingang einer Bar für 15.15 Uhr angekündigt, erscheint kurz nach drei.

IV

(FACTION II) Nachtrag zur «Realismusdebatte 1983/84»(2): Während Otto F. Walter Partikel seiner Realität aus ihren Zusammenhängen destilliert, sie mit eigenen Ideen anfüllt und sie dann im Sinne seines fiktionalen Konzepts neu zusammensetzt, scheint sich während der Realismusdebatte auch Niklaus Meienberg mit den Möglichkeiten von Fiktion auseinandergesetzt zu haben. Bereits im Gespräch mit Walter (vgl. WoZ 22/1984) gebrauchte er mehrmals den Begriff der «logischen Fantasie»: An der Grenze der hart recherchierbaren Faktizität muss die dahinter liegende Realität auf Grund von Indizien und logischer Fantasie rekonstruiert werden. Was zum Beispiel tut der Papst über der Lombardei, wenn er am 12. Juni 1984 in die Schweiz jetet? Ganz einfach: Beim Durchblättern der Reden, die er in der Schweiz überall spontan halten wird, hat er einen Lachanfall: «Eine Ansprache, die er vor kurzem den Papuas in Neu-Guinea gehalten hat, war durch ein Versehen seines Sekretärs in das schweizerische Reden-Konvolut geraten, und zwar an jene Stelle, wo der Bundesrat im Landgut Lohn begrüsst werden sollte – ‘Und so entbiete ich denn Eurer alten Stammeskultur, Euren Speeren und Schildern, Euren prächtigen Bemalungen und Eurer unangekränkelten Urwüchsigkeit meinen brüderlichen Gruss.’ (Applaus).» Der entscheidende Unterschied zur belletristischen Fiktion: Das fiktive Moment macht sich nicht selbständig, Meienbergs logische Fantasie bleibt Bestandteil von Reportagen, die mit Fakten arbeiten und in die Aktualität geschrieben und veröffentlicht werden. Fiktion als List des aktuellen journalistischen Textes am Ende der recherchierbaren Gewissheit: Das wäre eine Definition von FACTION.

V

An den Rändern des öffentlichen Raums sterben die Bedeutungen ab, zerfallen, werden unverständlich. Alles, was gegen die Ränder driftet, hat den fatalen Hang, immer wieder nichts mehr bedeuten zu wollen ausser sich selber – dies aber ist unerträglich sinnlos.

Bahnfahrt von CASTAGNETO C. nach LIVORNO, 8.5.1985. Bedeutungen sind nie schon im Kopf. Bedeutungen müssen gelernt werden. Am deutlichsten wenn ich reise, fällt mir die platte Gegenwärtigkeit dessen auf, was vorbeizieht: Alles, was ich erkennen kann, bedeutet nichts ausser sich selber. (BOLGHERI: Hinter schwarzen Zypressen das bunte Porzellan einer neuen Stromanlage.) Da ich diese Beobachtung in meiner gewohnten Umgebung weniger mache, vermute ich, dass das, was in jener an mir vorbeizieht, mit weiteren Bedeutungen aufgeladen ist, vermutlich durch die «Geschichtlichkeit» jedes Gegenstandes, durch seine fortgesetzte Beobachtung. Das würde heissen, dass die Bedeutungsdefizite, die bei der unverstellten Auseinandersetzung mit der äusseren Realität entstehen würden, aufgefangen werden durch angelernte und internalisierte, abrufbare Bedeutungen. (Der Graben entlang des Bahngeleises schwarz abgebrannt.) Die Welt im Kopf dient dazu, nicht in jedem Augenblick schutzlos der Welt ausserhalb ausgesetzt zu sein. (Unter einer alten Steinbrücke gelbes, träges Wasser: CECINA.) Wer die Welt nicht mehr erträgt, beginnt sie sich vorzustellen. Was sich einer im einzelnen vorstellt, sagt mehr über ihn als über die Welt. (Dante Dallari, mit zerfetztem Oberkörper auf der Strasse, aber er hat seinen Auftrag erfüllt, un patriota.) Und jetzt, von hier aus, die Fragen stellen an jene, die Fiktionen produzieren: Wenn einer Fiktion schreibt, woher hat er dann seine Geschichte? Schreibt er dann, was er weiss, ohne es belegen zu können oder schreibt er, was er nicht weiss und deshalb der Einfachheit halber sich einbildet zu wissen? (VADA: Am Bahnhof eine Reihe toter Bäume im Wind, vor ihnen aufgeschichtet ein Stoss kurzer rostiger Schienen.) Ist der «literarische Einfall» mehr als eine faule Ausrede für belletristische Unpräzision? ist die «dichterische Vision» mehr als ein Verkaufsargument? Sind die grossen «inneren Wahrheiten» mehr als unverbindliche Hinweise zur Psychopathologie des Autors oder der Autorin? (ROSIGNANO: Holzschwellen im rostbestäubten Schotter, die endlosen Schraubenreihen, die die Schienen halten.) Und jetzt, von hier aus, weiterfragen: Ist es nicht so, dass immer mehr Menschen nicht mehr einen auf Fakten beruhenden Zugang zur äusseren Realität haben, sondern einen fiktiven? Könnte nicht dies der Grund sein, weshalb die Handlungskompetenz des/der Einzelnen ausser in ganz bestimmten funktionalen und vollständig kontrollierten Situationen (z. B. im Beruf) mehr und mehr auf Null schrumpft? Wie aber verschafft man sich einen auf Fakten beruhenden Zugang zur äusseren Realität, der allein die Handlungskompetenz erweitern kann? Und wie vermittelt man diesen Zugang? UND: GIBT ES ERNSTHAFTERWEISE ÜBERHAUPT EIN ANDERES LITERARISCHES ODER JOURNALISTISCHES PROJEKT? (Bahnhof QUERCIANELLA: windbewegtes Gesträuch, bleigrauer Himmel, einzelne Regentropfen.) Und jetzt, von hier aus: FACTION. Ist das ein Rückzug? Was kostet der Verzicht auf den strikt auf Fakten beruhenden Zugang zur äusseren Realität? Den aufklärerischen Anspruch? (Leere Flächen mit mohnblumenüberwachsenem Bauschutt, in einer regenwassergefüllten Erdmulde schwimmt eine Matratze. Weisses Sonnenlicht über den Geleisen: LIVORNO.)

VI

«Bedenke doch einmal alle die toten Bedeutungen, in denen sich heute Leben abspielt!»
(Rolf Dieter Brinkmann)

LIVORNO, 8.5.1985. Im Hafengebiet zerfallende Häuser, Ruinen, klaffende Anschlüsse mit verwitterten Backsteinkrausen, leere Flächen mit überwachsenem Bauschutt, zerfallende Fassaden mit dunkelnass vermoosten Wasserspuren. Die Trottoirs teilweise abgesperrt wegen Steinschlaggefahr. Trotzdem sind die Häuser bewohnt (Wäsche vor den Fenstern). Vermutlich hat es auch, aber nicht nur ökonomische Gründe, dass Zerfall in Italien öffentlich, sichtbar gemacht wird. Dagegen der Fassadenfetischismus in der Schweiz: Wenn Fassaden im Wetter nachdunkeln, werden sie neu gestrichen; bröckelt der Verputz, wird es Zeit abzureissen (das hat vermutlich auch, aber eben nicht nur ökonomische Gründe). Unter dem Verputz Backsteinmauern mit ungleich grossen Steinen (Abbruchmaterial von Häusern aus früheren Jahrhunderten?), verwittert, mit verwaschenen Kanten (in Innenräumen die abblätternden Farbschichten): Diese offenliegenden absterbenden und toten Bedeutungen bedeuten Respekt vor dem Leben der Alten, also Respekt vor dem Tod. Der schweizerische Fassadenfetischismus bedeutet Nichts-Wissen-Wollen vom Leben der Alten, also Angst vor dem Tod.

VII

(Faction III) Der Begriff «Faction»(3) kommt aus dem amerikanischen New Journalism und bezeichnet die Kombination von «Facts and Fiction». Die wichtigsten Vertreter des New Journalism sind James Agee (1909-1955, «Let Us Now Praise Famous Men – Three Tenant Families», 1941), Norman Mailer (1923[-2007]), Truman Capote (1924-1982, «In Coldblood – Non Fiction Novel» 1966). Der Begriff «Faction» wurde 1973 von Tom Wolfe (* 1931) in seinem Buch «The New Journalism» eingeführt.

Neu ist, dass der Begriff auch für hiesige Arbeiten explizit Verwendung findet. Im Frühling kündigte der Limmat Verlag Res Strehles Elisabeth Kopp-Buch «Damengambit»(4) so an: «Strehle geht der Frage nach, wer diese Frau ist, von wem sie gestützt wurde und benützt dabei die Stilmittel der Reportage, Dokumentation und der Faction.» Und Lukas Hartmann wortspielte in seinem neuen Roman: «Wir stossen, liebe Frau Doktor, auf die Grundlage der tapfern Medienkonsumenten und der Psychotherapeuten: Was ist Fiction? Was ist Faction? Mit welchen Mitteln zum Beispiel lässt sich, wenn das Opfer unauffindbar ist, ein echter Mord von einem phantasierten unterscheiden?»(5)

VIII

LIVORNO, 8.5.1985. Wenn du aus den Nischen des Zerfalls trittst, wo Bedeutungen, absterbend, überdauern, wird alles auswechselbar. In fremden Städten bist du immer unterwegs von Zürich-Oerlikon nach Zürich-Wollishofen. Auswechselbare Kulissen mit wenig Lokalkolorit. Der Rest: Autos, Busse, Geschäfte mit Leuchtschriften und Auslagen, Abgas, Baustellen, Lärm, Signalisationen. Endlose gesichtslose Nachkriegsblockreihen, Richtung Stadtkern die ausgekernte Altstadt, ab und zu verwinkelte Gassen, Denkmäler, Banken (hier in Livorno mehr als ein Dutzend nahe beieinander. Die einzige, die lächeln macht: die Banca di Roma; in ihren massiven Fenstergittern sind die Buchstaben «BR»[stand damals auch für «Brigate Rosse», fl.] eingeschmiedet). Fremde Städte sind Kulissen aus planierten Bedeutungen: der Ort, an dem das Leben ohne Restmenge gemanagt, kanalisiert wird (noch gibt es zerfallende Hafengebiete). Öffentlicher Raum in den Städten Mitteleuropas ist auf das Wahrnehmungsniveau von 10jährigen Kindern gestylt, wer rot von grün und einige Buchstaben unterscheiden kann, hat hier vollkommen den Durchblick. Die Nivellierung des öffentlichen Raums nivelliert auch seine Bedeutungen. Wozu noch reisen? Reisen findet jetzt unter Ausschluss  von Bedeutungen statt. Wer Bedeutungen sucht, stellt schon die Machtfrage. Die Bedeutungen sind eingeschlossen in den Häusern, an denen du vorbeigehst, von Bahnhof zu Bahnhof. Bedeutungen liegen nicht mehr auf der Strasse, das bildest du dir bloss ein: Hier beginnt die Fiktion als Selbstbetrug.

IX

Strand von SAN VINCENZO, Protokoll eines Spaziergangs, 13.5.1985. (Verrostete Blechbüchse, verschlossen bis auf ein oben eingestanztes Loch/ COCA-COLA-Büchse, zusammengedrückt/ grüne, nicht durchsichtige Plastikflasche, eingestanzt: ALCOOL TILICO DENATURATO; FACILMENTE INFIAMMABILE/ blaugrüne Blechbüchse, hoch, teilweise verrostet, Aufschrift: SUPERFAUST INSETTICIDA PER USO DOMESTICO/ leeres Paket DUNHILL KING SIZE, Deckel abgerissen) Dort, wo noch für die Öffentlichkeit geschrieben wird, zerfallen die Bedeutungen. Dort, wo die neuen Bedeutungen aufbrechen, gibt es keine Öffentlichkeit mehr. Faction wäre eine List (eine hilflose Notwehr) des aktuellen journalistischen Textes am Ende der recherchierbaren Gewissheit, als Reaktion des journalistischen Schreibens auf den schrumpfenden Raum der vorfindbaren Bedeutungen. Die Methode: Alle erreichbaren Fakten werden verknüpft und weitergesponnen mittels «logischer Fantasie». Die Folge: Journalistische Texte, die nicht mehr Fakten im Sinn nachprüfbarer eindeutiger «Wahrheiten» festhalten, sondern lediglich noch Wahrscheinlichkeiten postulieren aufgrund von Indizien. (Sparren eines Holzharrasses mit einer Eckleiste, eingelassene Hagraffen rosten braun fleckend im Holz/ stabiles, rundes Plastikgefäss mit teilweise zerschlagener Seitenwand, gelb mit rotem Aufdruck/ blauer Haarwickler) All die Requisiten aus Geschichten, an die sich keiner mehr erinnert. Zufällig verstreute Fakten, ihre Bedeutungen zerfallen, keine Zusammenhänge mehr erkennbar: Die Methode der Verknüpfung von Fakten wird immer mehr zu einer Methode des Fantasierens. Ist der Unterschied zwischen einem Literaten und einem Journalisten demnach der, dass der Literat weiss, dass er Fiktionen schreibt? Und wenn es so wäre: Was erwartest Du von Zeitungen? (weisses kleines Plastikpferd/ zerbrochener Rettungsring, in der Mitte liegt ein stark rostender Draht teilweise offen, zum Teil von einer leichten weissen Kunststoffmasse (Styropor?) umfasst, daran einige rostbraune und orange Farbreste, abblätternd, Bruchstellen des Kunststoffs wie grosse blinde Kristalle/ Plastikbeutel: MISCELA DI CAFFE LAVAZZA QUALITA ORO) Wie starb Dante Dallari und warum? – Der Antifaschist Dante Dallari hatte trotz striktem Ausgehverbot wie geplant nach Mitternacht des 27. Juni 1944 das Dorf verlassen, um mit den herannahenden Alliierten, die Grosseto erreicht hatten, Kontakt aufzunehmen und sie über die militärische Situation um Castagneto zu informieren. Bei seiner Rückkehr ins Dorf wurde er, kurz vor Sonnenaufgang, in der Nähe der Piazza di popolo von einer deutschen Patrouille gestellt und sofort erschossen. Am Abend des gleichen Tages marschierten die Alliierten im Ort ein. Die Deutschen hatten sich kampflos Richtung Livorno zurückgezogen. Reine Erfindung. Wahrscheinlich. (zwei farblose Korkzapfen/ ein vorn zerfetzter roter Turnschuh mit dem Aufdruck VICUNA auf der schwarzen Verstärkung über der Ferse/ Fragment aus gelbem Hartplastik, verbogen und angekohlt/ eine angeschwemmte tote Qualle, glänzender, leicht ovaler Körper, weisslich gallertartig, mit sechs langen Saugnäpfen, die von den Wellen des Strandes hin- und hergelegt werden/ eine Plastikspritze, 5 ml, gefüllt mit Sand/ blauer Filzstift ohne Deckel)

(1) Peter Härtling: der spanische Soldat oder Finden und Erfinden, Darmstadt und Neuwied 1984.

(2) Fredi Lerch/Lotta Suter (Hrsg.): Realismusdebatte 1983/84, Zürich 1984.

(3) Für diese Angaben danke ich Margret Joss, Anglistik-Studentin an der Universität Bern.

(4) Res Strehle: Damengambit, Zürich 1984.

(5) Lukas Hartmann: Aus dem Innern des Mediums, Roman, Zürich 1984, S. 285f.

Die vorliegende Version habe ich am 17.4.1991 im Hinblick auf eine Lesung redaktionell bearbeitet. – Ein auf A4 umgelayouteter Ausriss des WoZ-Abdrucks (im Zangger-Konvolut) ist ergänzt um folgende Kritik am Text:

«Der theoretische Teil des Textes krankt an einem nicht reflektierten Widerspruch, der in der unterschiedlichen Verwendung des Wortes ‘Bedeutung’ steckt. Ich führe den Begriff ein (Abschnitt V) als individuelles Bedürfnis, die Bedeutungsdefizite der ‘objektiven Wirklichkeit’, die ‘nichts ausser sich’ und ‘auf eine schmerzhafte Weise wenig’ bedeute, zu überwinden. (In meiner aktuellen Terminologie driftet poetische Wirklichkeitssicht immer wieder in politische oder illusionäre ab.) Mit dem Motto von Brinkmann (Abschnitt VI) taucht dann ein Begriff von ‘Bedeutung’ mit anderer Konnotation auf, den ich unreflektiert aufnehme: Nun hat ‘objektive’ Realität plötzlich Bedeutung, haufenweise tote, absterbende Bedeutungen, die sich verlieren. Die Perspektive von Brinkmann ist aus meiner heutigen Sicht falsch: Es gibt nur aktuelle Bedeutungen, und das sind die, die sich das Bewusstsein gegen das Bedeutungsdefizit der Welt aufbaut. Die Beobachtung (die Brinkmann in Rom gemacht hat), die Welt sei voller toter Bedeutungen, heisst ja nur, dass sein Bewusstsein sich darüber beklagt, dass es von der Welt nicht mehr versteht, als es sieht und ihm das zu wenig ist. Vermutlich wäre das Cockpit eines Jumbo Jets nicht weniger ‘tote Bedeutung’ als es Brinkmann die Ruinen des alten Roms gewesen sind. (7.8.1986)»

Aktuell

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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