Kunst der Verweigerung oder Brunst der Prostitution?

Dreihundert Meter neben der Roten Fabrik, im Gemeinschaftszentrum Wollishofen, fand die Pressekonferenz des Verlags Pro Juventute statt, an der Dr. Michael Haller aus Anlass des vorgestellten Buches «Die Kunst der Verweigerung. Wandmalereien in den Autonomen Jugendzentren der Schweiz», zu dem er den Textteil beigetragen hatte, ausführte: «Nicht nur in Zürich ähnelt die Stimmung in Sachen AJZ derjenigen nach einem Bürgerkrieg. Es gibt drei grosse Lager: die Sieger, die Verlierer – und die Zuschauer. Die offizielle Geschichte ist vornehmlich eine Geschichte der Siege aus der Sicht der Sieger.»

Zweifelsohne ist das Buch von Vera Isler und Michael Haller, das in diesen Tagen erscheint, ein gewichtiger Beitrag zur offiziellen AJZ-Geschichtsschreibung.

Damals, im Sommer 1981, arbeitete ich im Provisorischen AJZ an der Taubenstrasse in Bern: Einmal stieg ich auf eine Leiter, mit dem Filzstift in der Hand, und skizzierte meine Idee: ein berstender Kühlturm, umklammert von einem Baum; aus dem Kühlturm hervor ragt ein Totenschädel mit einer Offiziersmütze, der eine grosse Schweizerfahne kotzt. Im Hintergrund klein eine Betonstadt vor Jurahügeln. Dann holte ich Pinsel und Farben, begann auszumalen. Ab und zu schaute einer herein, fragte, was das gebe, ging weiter. Miggu, der Beizer, öffnete extra für mich die Beiz, holte mir ein Bier. Nach zwei oder drei Tagen war mein Bild fertig: Den einen gefiel es, die andern fanden es doof. Ich war zufrieden: Ich hatte mein Bild gemalt.

Im Herbst gingen wir in die Reithalle, an der Taubenstrasse zog die Heilsarmee ein und mit ihr die Flachmaler, die das Haus wieder in Ordnung brachten: Mein Bild wurde überflachmalt. Es wurde mir weggenommen. Es hat knapp drei Monate gelebt.

Ein Schneemann ist nicht der Tod

«Bund» und BZ nahmen mir das Bild in jenen Tagen gleich noch ein zweites und drittes Mal weg: Sie druckten es als Foto ab, um zu dokumentieren, dass an der Taubenstrasse nicht nur in die Ecken geschissen, sondern auch auf die Wände geschmiert wurden.

Letzthin, auf der WoZ-Redaktion, reichte mir Res [Strehle, fl.] einen Prospekt herüber, ob mich das interessiere. Wie ein Schlag in den Magen: Mein Bild, ganzseitig, in Farbe: Das war das vierte Mal. An der Pressekonferenz, als ich das Buch von Haller/Isler öffne: das fünfte Mal. (Später lese ich im Buch Hallers Interpretation meines Bildes [S. 192]: Die Darstellung sei «auf dem Wege zur Komik: Der Herr Schweizer als Schneemann, dem die Schweizerfahne zum Munde heraushängt.» Ich habe das zwar anders gemeint: Ich hatte nicht Herrn Schweizer gemalt, sondern einen Offizier, und nicht als Schneemann, sondern als Tod.) Am Samstag darauf finde ich das Bild im «Tagi-Magi», viertelseitig: das sechste Mal.

Ich habe meine Zeichnung nicht für den «Bund» gemacht und nicht für die «BZ», nicht für das «Tagi-Magi» und nicht für die Pro Juventute, nicht für Michael Haller und nicht für Vera Isler. Auf Seite 2 der «Kunst der Verweigerung» steht: «An dieser Stelle möchten die Autoren die vielen unbekannten Wandmaler um Einverständnis zu dieser Form der Aufbewahrung ihrer Malereien bitten.» An dieser Stelle teile ich den Autoren mit, dass sie das Einverständnis zur Abbildung des Bildes auf Seite 109 nicht haben. Ich sehe nur eine Form der Aufbewahrung meiner «Malerei»: Qualifizierte Restauratoren holen das Bild unter der geweisselten Wand an der Taubenstrasse hervor, dann wird das Bild zusammen mit dem Haus jenen Leuten zurückgegeben, für die ich das Bild gemalt habe.

Fotosafari im feindseligen Nichts

Natürlich kann ich mich erinnern, wie Vera Isler damals mit ihrer Fotoausrüstung an die Taubenstrasse kam, unsicher, auf eine süssliche Art höflich und darauf bedacht, keine Fehler zu machen; man spürte, welche Überwindung es sie kostete, die Sujets zur ihren Kunstfotos hier im «feindseligen Nichts» (J. Hersch) suchen zu müssen. Sie schleppte ihre Stative hin und her, manipulierte geschäftig am Fotometer und knipste sich tapfer von Raum zu Raum. Als wir kochten, kam sie in die Küche, machte zum Spass auch von uns Bilder, erzählte (schon damals) vom Fotoband, den sie machen wolle. Sie gab sich Mühe, nett zu uns zu sein, plauderte, holte sich auch ein Abendessen, bezahlte mehr als andere dafür; später schickte sie uns sogar einige Bilder. Trotzdem: Vera hat sich damals für uns nur insofern interessiert, als wir ihr als beunruhigende Höllenwärter dessen erschienen, was sie akribisch suchte: bunte Helgen. Später traf ich Vera noch einmal auf der Gasse in Bern. Sie hatte es eilig, weil sie ein Rendez-vous mit einem Verleger hatte, erzählte von Haller, der den Text zu ihrem Fotobuch schreiben werde. Sie kaufte sich sogar einen «Drahtzieher», von denen ich zufälligerweise einen Bund unter dem Arm trug. Zugegeben, ich hab das damals noch nicht so klar gesehen, hab meine Bedenken kaum angemeldet. Vera, du hättest dieses Buch nicht machen sollen.

Wandgemälde, Dispersion auf Gips

Mein Bild hat im Buch eine schöne Bildlegende: «Wandgemälde etwa 2,40 auf 1,60 Meter, in einer Zimmerecke im Berner PAJZ an der Taubenstrasse, Anfang September 1981».

Ich vermute zwar, dass das «Wandgemälde» etwa 2,41 auf 1,59 Meter mass – übrigens Dispersion auf Gips –, aber das ist ein Detail: sonst ist alles wie in einem richtigen Kunstkatalog. Und auf Seite 176, der schöne Kasperli mit dem schiefen, schiefen Mund: «Bemalung im nicht benutzten Aufenthaltsraum im Erdgeschoss des PAJZ, etwa vier Wochen vor der Räumung.» Ich vermute viereinhalb, liebe Vera. Und der nicht benutzte Aufenthaltsraum war abends die Beiz und jede Woche einmal fand darin die VV statt, aber wirklich, das sind Details. Was ist das Dich angegangen? Und wie du neben dem Kasperli noch den Spruch: ZUR HÖLLE MIT DIESER NUR AUF IHREN FINANZIELLEN PROFIT AUSGERICHTETEN GESELLSCHAFT mitgenommen hast, das ist ja von der Bildaufteilung her schlicht perfekt. Und was geht Dich der Inhalt einer solchen Aussage an?

Oder nehmen wir nur einmal die Seite 30 im Textteil: Am 8. Februar 1982 habe sich die Berner Bewegung entschlossen, die Reithalle für drei Wochen zu schliessen und sie dann «mit einer Grosskundgebung und einem gewaltigen Fest» wiederzueröffnen. Ich mag mich noch genau erinnern, am 8. Februar nach der VV, jemand musste noch das leidige Pressecommuniquè verfassen, wir sassen unten im Sitzungsraum, etwa ein Dutzend Leute. Ich sass an der Schreibmaschine, tippte, andere diktierten. Die Schlussformulierung suchten wir lange, wir waren müde, Galgenhumor: «Mit einer Grosskundgebung und einem gewaltigen Fest», gut, wir lachten, schön wär’s. Ich hab die Formulierung getippt und sie hat sich, von Papier zu Papier, auf den Weg gemacht. Und nun ist sie in Hallers Text gelandet, auf Hochglanzpapier: Aber Galgenhumor ist sie nicht mehr und über sie lachen die Falschen.

«Hier geht es nicht um Kunstwerke, sondern um Lebenssituationen, Hauptzweck des Buches ist, jene unwiederbringlich vergangenen Situationen wenigstens zu dokumentieren», sagt Haller. Nicht alle würden sich das zutrauen: anhand einiger verpinselter Mauern und einer allseits abgesegneten Presseschau Situationen zu dokumentieren, die man selber nicht miterlebt hat.

Aus der «unparteilichen Distanz» gelingt es dem Geschichtsschreiber Haller, ethologisch herauszudestillieren, dass die Jugendbewegten in vier Gruppierungen von «14- bis 24-jährigen» aufgeteilt werden können. Bewegler kommen a) aus dem Aufsteiger-Milieu, b) aus dem kleinbürgerlichen Milieu, c) aus dem erdrückenden Wohlstandsmilieu und dann gibt’s d) noch die «Chaoten und die Grandiosen». In St. Gallen, Biel und phasenweise in Lausanne dominierten die b)’s und die c)’s. In Basel und Bern (phasenweise auch in Lausanne) dominierten die c)’s und die d)’s. Logischerweise fanden demnach die a)’s hier die Bewegung daneben und wurden Fascho-Rockers. In Zürich wiederum waren zuerst alle vier Milieus gleich stark vertreten. Als dann die c)’s und die d)’s als erste schlapp machten, implizierte das einen Kreativitätsabfall, gefolgt von massiver Kriminalisierung der b)’s und c)’s. Wer bis hierhin mit heissem Bemühn gefolgt ist, dem wird leicht einsichtig sein, dass kurz darauf das Ganze von der «Sozialasyl-Szenerie» der a)’s und b)’s überflutet werden musste. Insgesamt kann Haller sagen, dass die Jugendbewegung «kein übergreifendes politisches Engagement zum Ausdruck brachte», sondern, dass sie – unbelastet von den «drei Globalproblemen Frieden, Ökonomie und Dritte Welt» – dem AJZ als «Fetisch der Verweigerung» huldigte und ihre Verweigerung auf den «engen Erfahrungshorizont des Stadtlebens» beschränkt blieb.

Irgendwie vergisst Haller dabei immer zu sagen, warum denn die a)’s oder b)’s oder c)’s oder d)’s oder alle zusammen auf die Strasse gegangen sind. Aber das ist ein Detail.

«Nicht für modebewusste Kunstfreunde» sei das Buch gedacht, sondern für «alle interessierten Zeitgenossen, in erster Linie aber die vom AJZ-Geschehen direkt Betroffenen und Beteiligten». Wohl möglich, dass man sich das Buch gegenseitig zu Weihnachten schenkt in Gemeinderäten und Stadträten, in Jugendämtern und Schuldirektionen, unter Pfarrern und in Polizeikasernen: zur Erbauung und zur Prävention zukünftiger Bewegungen. Haller kann sich denken, dass seine «Sicht bei Manchem der Beteiligten auf Ablehnung stösst, weil sie deren rechthaberischen wie trotzigen Rechtfertigungen nicht applaudiert, sondern Distanz zu gewinnen versucht.»

Distanzgewinnen von etwas: sich distanzieren davon. Sich nicht distanzieren: betroffen, parteilich bleiben. «Unparteiliche» Texte nützen immer den Siegern. «Objektivität» in Bezug auf die Ereignisse der Jahre 1980/1981: Verkaufsargument für bürgerliche Buchhandlungen.

«Trauerarbeit» ist nur ein Wort

Unsere Bilder, Fragmente unserer Sprache: keimfrei mumifiziert, wie echt, aber tot, Hochglanzpapier, Vierfarbendruck, zwischen zwei netten Buchdeckeln (Klappentext: das Buch sei «kein Album für Krawallbrüder»), unschädlich, verfügbar, erhältlich in allen Buchhandlungen, generationenüberbrückende Geschenkidee: «Haben Sie den Kunstband noch über die Jugendbewegung?» Sie haben noch, sicher. Unser Aufbruch, unser Scheitern; zweite Auflage, dritte Auflage; Veras rotgeschminkte Lippen lächeln, Haller redet von der Relevanz objektivierender Darstellungen der Ereignisse. Eine verdienstvolle Leistung des Verlags Pro Juventute. Einmal wird jede Leichenfledderei zur Archäologie. Bewegungskultur zu Dumpingpreisen: Soviel Kunsthandwerk, soviel rationalisierende Einschläferungsversuche für jene, die hinter ihren prächtigen Schaufenstern die Schrotflinte durchgeladen haben: Alles für lumpige 28 Franken. Nachdem man es mir sechsmal weggenommen hat, kann ich mein Bild jetzt für 28 Franken wieder kaufen: Postkartenformat, ein Souvenir made in Switzerland. Wir können jetzt alle von allen gekauft werden, aber günstig: So haben wir uns das doch immer vorgestellt, wenn wir sagten: KOSUMTERROR.

Jetzt wird wieder alles gut: Die paar, die sich umgebracht haben, letzthin: Die haben’s zu früh getan. Und alle, die in Gift und Verzweiflung untergehen; man liegt, wie man ich bettet. Dafür werden wir posthum generalamnestiert werden: Sobald die Parlamentarier genügend «Distanz gewonnen» haben, um die guten wandmalenden von den bösen steinewerfenden Beweglern zu trennen. Und in Bern hat die Stiftung Bewegung Schweiz in Corpore den «Drahtzieher» abonniert und die «Eltern gegen Gewalt» in Basel doktorieren im Augenblick über «Die Antithesen zu den Antithesen der Jeanne Hersch zu den Thesen zu den Jugendunruhen 1980 der Eidgenössischen Jugendkommission». Wir sind gerettet!

«Über die Verlierer und ihr Schicksal wird nicht getrauert, man geht über sie hinweg und versucht, sie dem Vergessen zu überlassen», sagte Haller an der Pressekonferenz. Kunst der Verweigerung, wie ich sie heute verstehe: Ich werde nie mehr mit einem Filzstift auf eine Leiter steigen. «Trauerarbeit» müsse jetzt geleistet werden, sagte Haller und meinte wohl, dass man die Augen nicht verschliessen könne vor dem wertfreien Kunstkatalog fürs Büchergestell.

«Die Bewegung ist tot» heisst ja: Jeder der sich je mit der Bewegung identifiziert hat, ist tot, insofern er sich heute noch als Bewegter fühlt, wobei der Tod nicht darin besteht, «dass man sich nicht mehr miteilen, sondern, dass man nicht mehr verstanden werden kann». (Pasolini)

 

Michael Haller und Vera Isler haben auf diesen Artikel ausführlich repliziert, und zwar auf der Leserbriefseite der WoZ Nr. 44 vom 12. November 1982. An jener Stelle konnte ich es nicht unterlassen, das letzte Wort haben zu wollen:

«Gespielte Empörung eines ‘Bewegungs’-Spielers

Lieber Fredi Lerch, das klang überzeugend, wie Du über unser Buch ‘Die Kunst der Verweigerung’ hergezogen bist und die Ausbeutung der ‘Bewegung’ in Form eines Kunstbuches beklagst: ‘Leichenfledderei’ werde nun mit den Wandmalereien der AJZ’s betrieben, schreibst Du, und würden als Konsumartikel ‘zu Dumpingpreisen’ jedermann feilgeboten.

Deine Empörung wirkt umso überzeugender, als Du Dich Deiner Leserschaft als Urheber eines imposanten Wandbildes im Berner ‘provisorischen AJZ’ vorstellst, nicht ohne heimlichen Stolz, dass Dein Gemälde verschiedentlich fotografiert und nun auch im Buch ‘Die Kunst der Verweigerung’ abgebildet wurde: das Bild ‘wurde mir weggenommen’, schreibst Du jetzt. Und viele werden Dir Deine Empörung abnehmen, den Grund Deiner Verärgerung nachvollziehen.

Verärgerung mag sein. Aber Deine Empörung nehme ich Dir nicht ab: Du simulierst sie nur. Über sechs Spalten spielst Du Dir und uns Betroffenheit, Wut und Ohnmacht vor – ein wirkungsvolles Spektakel, kein Zweifel, weil es gut gespielt ist.

Wahrscheinlich bist Du ein guter Spieler. Und vielleicht hast Du auch schon früher, im Sommer und Herbst vorigen Jahres in Bern nur gespielt, als Vera Isler zu Euch ins ‘PAJZ’ kam, um die Wandbemalungen – sozusagen in letzter Minute vor dem Ende des PAJZ – mit dem Fotoapparat festzuhalten.

Vera Isler erzählte Euch von unserem Buchprojekt: Du hättest damals Deine ‘Bedenken kaum angemeldet’, schreibst Du jetzt mit selbstkritischem Unterton. Du lügst: Du hast überhaupt nichts angemeldet, sondern uns zum Buchprojekt aufs herzlichste gratuliert. Du bist mit Vera Isler vom Dachstock bis hinab zum Keller gestiegen, hast ihr Zugang zu verschlossenen Räumen verschafft, hast für eine entspannte Atmosphäre Sorge getragen, alles, damit die Bilder besser zur Wirkung kommen. Und Du hast Dich ja auch im Kreis von AJZ-Mitgenossen zum Ablichten ganz schön in Szene gesetzt: Ihr hattet Lust auf die Bilder und auf das Bilderbuch. Ihr habt Vera Isler auch ein Nachtquartier im PAJZ hergerichtet, damit sie bis tief in die Nacht mit dem Fotoapparat arbeiten könne. Und auch fünf, sechs Wochen später, nach der Eröffnung des Reithalle-AJZs, trafst Du Vera, gingst mit ihr Kaffee trinken, warst neugierig, wann wohl das Buch komme.

Von Deiner Berner Rolle, lieber Fredi, willst Du heute nichts mehr wissen. Heute bist Du WoZ-Redaktor und willst darum eine ganz andere Rolle spielen: Du willst Gralshüter der Schweizer Bewegung sein, Wächter und Rächer in einem. Doch so, wie Du damals in Bern, so haben AJZ-Bewegler in Basel, Zürich, St. Gallen, Winterthur und Biel reagiert. ‘Zum Glück haben wir dann wenigstens eine Buch-Dokumentation’, wurde mir überall gesagt, ‘schick mir doch eine Reproduktion, ein Photo oder Poster, wenn’s so weit ist.’ Auch Du hast zuhause einige Erinnerungsphotos, die Du von Vera Isler bekommen hast.

Niemand kam auf die kleinkarierte Idee zu sagen: ‘He, das hier an der Wand ist mein Bild, es gehört mir und sonst niemand’, so, wie Du es jetzt schreibst. Wir alle waren uns damals, vor einem Jahr, durchaus einig, dass die Wandmalereien Ausdruck des AJZ-Lebens seien. Wir waren uns auch alle einig, dass die Erinnerung an dieses AJZ-Leben wach, also gegenwärtig bleiben solle. Und wir waren uns einig, dass dies am besten anhand einer Bild-Dokumentation, also mit einem Buch zu machen sei.

Es kann nun aber nicht darum gehen, den Heimweh-Kindern mit dem Buch eine Fahrkarte für ihren Yesterday-Trip anzudrehen: Die AJZ-Bewegung hat den Kampf um ihre Autonomie verloren, sie ist kaputt gemacht worden und hat sich selber kaputt gemacht; da hilft kein Gejammere, und auch keine nostalgisch aufgebauschte Legende über die eigene, exklusive Grossartigkeit. Dein sentimentales Wortgedröhne, lieber Fred («Ich werde nie mehr mit einem Filzstift auf eine Leiter steigen»…!!) entspricht der jämmerlich-selbstgerechten Pose eines Veteranen.

Für Veteranen wollten wir kein Buch machen, keines, das Du in zehn Jahren vielleicht Deinen Kindern nicht ohne Stolz wirst vorführen wollen: ‘Das da hat Euer Papi gemalt, als er noch jung war.’

Nein, dieses Buch wendet sich an alle, die betrachten und die verarbeiten wollen, was sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren hier, in den Städten der Schweiz, ereignet hat: Die Strassenkrawalle und die AJZ’s fanden nicht hinterm Mond, sondern inmitten unserer Städte statt. Sie gehen uns alle etwas an; sie haben mich nicht weniger berührt als Dich, lieber Fredi, auch wenn ich kein Bewegler war oder je hätte sein wollen.

Der Textband des Buches liefert darum keine Vorlage für solche Heldenrollen, wie Du, lieber Fredi, sie in Deinem Artikel den WoZ-Lesern vorspielst. Er bietet aber eine umfassende Rekonstruktion der AJZ-Ereignisse, so, wie sie von allen beteiligten Parteien als zutreffend akzeptiert werden kann. Das Buch wendet sich also nicht nur gegen die Yesterday-Träumer, sondern vor allem auch gegen die Kriegslegendenerzähler im bürgerlichen Lager, die in der AJZ-Idee das von Jeanne Hersch so genannte ‘feindselige Nichts’ und in den Beweglern nur Flippies und Hänger sehen möchten: Dieses Buch vermittelt denen ein ganz anderes Bild, das gerade deshalb plausibel ist, weil es ‘distanziert’ bleibt, was im übrigen nichts mit ‘objektiv’ oder ‘wertfrei’ zu tun hat, wie Du falsch zitierend unterschiebst (entsprechen bitter sind im übrigen die Buchbesprechungen in den erzbürgerlichen Blättern ausgefallen; und die sich liberal nennende ‘Basler Zeitung’ schrieb, sie hätten es lieber gesehen, wenn statt der Rekonstruktion der Ereignisse eine schöne Kunstbetrachtung geschrieben worden wäre… Fällt der Groschen?).

Du lamentierst in Deinem Verriss, lieber Fredi, dieses Buch sei ein «Kunstkatalog» und entsprechend hochglanzpapierig. Du suggerierst: ‘Wenn schon, dann hätte man ein einfacheres auch machen können.’ Auch hier schreibst Du wider besseres Wissen: Ich hatte Dir geschildert, dass wir auf gar keinen Fall ein teures Kunstbuch produzieren, sondern ein möglichst billiges Gebrauchsbuch machen wollten, das auch junge Leute mit wenig Geld berappen können. Als Limite für den Ladenpreis setzte ich 30 Franken fest, trotz Farbdruck und 170 teuren Clichés.

Mit dem Buch war also kein Geschäft zu machen. Und darum fand sich auch kein Verlag, der es zu den genannten Konditionen hätte herstellen wollen. Den Behörden war das Thema zu heiss, sie trauten sich nicht, mit Zuschüssen weiterzuhelfen. Einzig die Pro Juventute (deren Jugend- und AJZ-Politik ich im übrigen keineswegs für lobenswert halte) fand sich schliesslich bereit, das Buch zu den Preis-Bedingungen – also auf die billigstmögliche Art – zu produzieren. Jeder, der nur einen Hauch von Ahnung über Satz- und Drucktechnik hat (und Du als Journalist solltest doch wenigstens von solch einem Hauch umweht worden sein), sieht, dass dieses Buch auf billigem Papier gedruckt (Farbdruck bedingt nun mal beschichtetes Papier, lieber Fredi), knapp und kostensparend umbrochen und billig gebunden ist. Einzig bei den Clichés wurde nicht gespart, damit wenigstens die Bildreproduktion trotz der Druckmängel zufriedenstellend ausfällt (sonst hättest Du wohl auch noch gejammert: ‘Mein Bild war aber viel schöner als es im Buch zu sehen ist’). Nebenbei: Vera Isler und ich haben die vielmonatige Arbeit unentgeltlich geleistet: unser Honorar deckt kaum mehr als die Spesen. Deine Anspielungen auf ‘Profit’ und ‘Konsumterror’ gehen voll daneben.

Du willst Deine Rolle als empörter Gralshüter spielen, okay,. Aber auch dann solltest Du wenigstens korrekt zitieren, auch wenns Dir nicht in die Rolle passt. Um das Buch zu einem ‘wertfreien Kunstkatalog’ zu machen, zitierst Du aus dem Klappentext, ‘das Buch sei ‘kein Album für Krawallbrüder’». Punkt. Richtig heisst der Satz: «Die Bild/Text-Dokumentation über AJZ-Wandmalereien in der Schweiz ist weder ein Album für Krawallbrüder noch ein Bildband für Kunstfreunde – sondern eine Materialsammlung für eine Zeit, die bald einmal als Phase des gesellschaftlichen Umbruchs gedeutet werden wird.’

Du wirst Deinen Lesern zugeben müssen, dass damit etwas ganz anderes gemeint ist.

‘Tod’ bedeute, schreibst Du, Pasolini zitierend, am Schluss Deines Artikels, ‘dass man nicht mehr verstanden werden kann’. Glaubt Du, dass man einen falsch spielenden Spieler überhaupt richtig verstehen kann?

Ich habe die Befürchtung, dass sich mit Dir so mancher ehemalige Bewegler rückblickend zur falschen, weil posenhaften Heldenrolle aufschwingt, vielleicht, weil solch Imponiergehabe den narzisstischen Seelchen allemal besser tut als lästige politische Denkanstrengung – und besser auch als schmerzhafte Trauerarbeit, zu der dieses Buch ermutigen soll.

Michael Haller, Vera Isler»

Unter diesen Leserbrief gesetzt verfasste ich folgende Duplik:

Es steht M. Haller frei, mittels eigenwilliger Interpretationen zu versuchen, meine Kritik an seinem Buch unglaubwürdig zu machen. Was jedoch seine Tatsachenbehauptungen betrifft, lege ich Wert auf folgende Feststellungen:

1. Es ist völlig aus der Luft gegriffen zu behaupten, ich hätte Vera Isler bei ihrem Besuch im PAJZ an der Taubenstrasse «zum Buchprojekt aufs herzlichste gratuliert».

2. Ebenso frei erfunden ist die Behauptung, ich hätte mich damals «zum Ablichten ganz schön in Szene gesetzt».

Vera Isler, in diesen beiden Punkten wohl Hallers «Informantin», hat zwar den [obigen Leser-]Brief nachträglich mitunterzeichnet, telefonisch jedoch ausdrücklich die Unrichtigkeit dieser Darstellung bestätigt.

fl.

Diesen Beitrag ordne ich systematisch bei den Zangger-Schriften ein, weil er nicht von einem Journalisten, sondern mit dem Pathos eines Dahingegangenen verfasst worden ist. Gezeichnet habe ich ihn in der WoZ aber mit «Fredi Lerch».

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5