die schönste stadt der welt

wo git’s no sümpf,
wo d’irrliechtli chöi
umenangschtürme –

rösi s., † aug. 82

es war einmal die schönste stadt der welt, die auch die ruhigste stadt war und die ordentlichste stadt und die sauberste und die übersichtlichste und die herausgeputzteste stadt, und die roten geranien waren die rötesten weit und breit und blühten wie wild. in allen gassen pfiffen die spatzen von den grünlich vermoosten biberschwanzziegeldächern und über den plaudernden plätzen flatterten die kurvenden taubenschwärme. in den strassen warfen steinmenschenverzierte brunnen frischkühles wasser plätschernd in steinerne becken und die sauberen, putzigen kopfsteine buckelten sich vor den klobigen, bogigen lauben wie köpfe aus stein. die menschen aber, die in der schönsten stadt der welt lebten, waren von ganz und gar eigener art: ihr unvergleichlicher fleiss und ihre emsigkeit liessen die schönste stadt der welt noch täglich schöner werden, doch sie selber waren hässliche menschen. sie gingen schwerfällig und tollpatschig immer hüfte und schulter einer körperseite gleichzeitig vorschiebend und nannten sich deshalb selber anpassgänger. daneben waren sie allesfresser, und darauf waren sie so stolz, dass sie dem schönsten steinmenschen auf ihrem schönsten steinbrunnen, der auf dem schönsten platz der stadt stand, «kindlifresser» sagten, und obschon sie alles frassen, waren sie doch die friedlichsten menschen der welt. darum war die schönste stadt der welt auch die friedlichste stadt der welt und über ihr lächelte die strahlende sonne und sonnte sich in ihrem glanz.

eines tage aber, als die taubenschwärme besonders fleissig über den plätzen kurvten und die geranien über alle massen rot blühten, als die anpassgänger besonders emsig und tollpatschig über die buckelnden kopfsteine schritten und die sonnte sich sonnte im lichte der stadt, da geschah es, dass eine plötzliche unruhe emporwuchs.

rufe und schreie und chöre von stimmen wurden laut, ungehobelte musik erscholl, gegröl und gekreisch und jauchzender jubel flog durch die gassen. verwirrt schauten die menschen in ihren werkstätten und büros von ihrer arbeit auf, beunruhigt blickten sie auf die wogenden strassen und sahen erschrocken die eigenen kinder in bunten gewändern mit erhitzten gesichtern und fliegenden haaren und hörten ihren respektlosen ruf: WIR WOLLEN KEINE ALLESFRESSER WERDEN. sie sahen sie tanzen und hüpfen, sahen sie fremdländisch-elegant hüfte und schultern über kreuz vorwärts bewegen und lasen auf den vielbewunderten sandsteinmauern der stadt die hingesudelte, empörende aufschrift: NICHT MEHR LÄNGER ANPASSGÄNGER! von einem ende der stadt zum anderen erschallte an diesem tag ein neues lied aus den kehlen der jungen, und die kinder der gutmütigsten anpassgänger und zuverlässigsten allesfresser hörte man singen:

wir trotzen jedem anpassgänger,
der angepasst die stadt verstellt,
denn watschelnd gehen wir nicht mehr länger,
wir gehen, wie es uns gefällt.

unsern vätern wolln wir trotzen,
den hässlichsten der ganzen welt.
allesfresser sind zum kotzen,
wir fressen das, was uns gefällt.

ratlos und wütend standen die bewohner der schönsten stadt der welt an den strassenrändern und schauten hilflos zu, wie ihre ausser rand und band geratenen kinder von simsen und erkern die unvergleichlich roten geranien pflückten, sie als schmuck an ihre kleider steckten oder sie spöttisch den dichtgedrängten zuschauern zuwarfen. zutiefst erschrocken hoben die bürger der stadt die geschändeten blumen auf, bliesen mit spitzen lippen den staub von den blütenblättern und steckten sie, gedankenvoll kauend, in den mund.

als die jungen in brodelndem zuge das alte schloss am stadtrand der schönsten stadt der welt erreicht hatten, tanzten sie mit leuchtenden augen durch den verwilderten park zwischen den mächtigen eichenstämmen, und die verwegensten traten vor den eingang des schlosses und riefen: «das schloss gehört uns! hier wollen wir leben! hier wollen wir uns bewegen, wie es uns gefällt; hier wollen wir essen, was uns schmeckt.» alsbald brannte im schlosshof ein grosses feuer. darum herum setzten sich in dichten reihen die erhitzten kinder der stadt und sangen die lieder vom aufrechten gang und die balladen von brot und wein, die sie nicht in der schule gelernt hatten und doch kannten. übermütig tollten sie sich bis spät in der nach im hof und in den hallenden hallen, auf zinnen und dächern und im verzauberten park. erst als der mond untergegangen war, legten sie sich, glücklich und müde, auf dem nackten kalten boden, körper an körper, zum schlafe nieder.

am nächsten morgen wurden die schlafenden kinder von der sonne geweckt, die sich wohlgefällig über der schönsten stadt der welt erhob. die meisten blinzelten noch verschlafen ins wachsende licht, als ein kind trällerte: «wir gehen, wie es uns gefällt, wir fressen das, was uns gefällt» und übermütig in den schlosspark hinaushüpfte. aber da sagte ein anderes kind und alle horchten auf: «wir haben kein brot und keinen wein, noch haben wir etwas anderes zu essen.» und ein anderes kind pflichtete bei: «hier gibt es nur steine und holz. doch ich will keine bäume fressen, denn die bäume wollen nicht gefressen werden und ich kann keine steine fressen, dazu sind meine zähne zu schwach.» da merkten die kinder der schönsten stadt der welt, dass sie nichts zu essen hatten und bald begannen sie zu rufen:

brot und wein
statt holz und stein

sie bildeten einen langen zug und zogen in die stadt zurück, und als sich der zug auf dem rathausplatz staute, standen schon viele anpassgänger auf dem buckelnden kopfstein, machten besorgte gesichter, zeigten mit ihren schwerfälligen armen auf den ankommenden zug und schüttelten erschrocken den kopf ob der neuen lauthals verkündeten forderung nach brot und wein. da trat eine gruppe von kindern vor und begehrte mit den höchsten der stadt zu sprechen und als die sechs stadtväter und die stadtväterin hoheitsvoll im prächtigen portal des rathauses erschienen, rief ihnen ein kind mit kräftiger stimme entgegen: «wir teilen euch mit, dass das alte schloss jetzt uns gehört, und wir fordern von euch brot und wein.» ein murren ging durch die reihen der anpassgänger, von denen viele ein halbes leben lang gearbeitet hatten, um keinen mangel an brot und wein zu leiden. der oberste stadtvater entgegnete: «wir haben die schönste stadt der welt, weil wir uns nie zu gut vorkamen, alles zu fressen und uns so zu bewegen, wie wir es von unseren vätern gelernt haben.» tollpatschiges nicken ging beifällig durch die dichten reihen der selbstvergessen widerkäuenden allesfresser. «wir wollen den stumpfen trott der anpassgänger nicht lernen», rief nun ein anderes kind, «was nützt uns die schönste stadt der welt? wir wollen die lebendigste stadt der welt!» und ein anderes kind rief: «wir wollen keine allesfresser werden. wir hassen die allesfresser. wir fürchten die allesfresser. wer alles frisst, frisst auch seinesgleichen. aber wir haben hunger.»

der oberste stadtvater griff tief nachdenkend in die tasche, schob einen kieselstein in den mund, zerbiss ihn, dass es knirschte und krachte, schluckte und sagte dann streng: «werdet wie wir! lebt mit uns in dieser stadt, und ihr sollt es gut haben. wollt ihr aber anders werden, so werdet ihr hier keinen platz finden, wo ihr leben könnt, weder im schlosse unserer altherren noch anderswo.» zustimmend klatschten die anpassgänger in ihre klebrigen hände.

niedergeschlagen zogen die kinder aus der stadt und gehässig tönte es ihnen aus den offenen fenstern nach: «wir werden euch kaputt machen, bevor ihr unsere stadt kaputt macht.» so kehrten die kinder zum schloss zurück.

in den nächsten tagen lebten die kinder frohgemut im schloss, frassen die zweige der mächtigen eichen, sammelten beeren und pilze in den umliegenden wäldern oder kauten bitteres gras. sie lachten und scherzten über die sturen watschelnden väter, die sie von ferne mit schrecklichem fleiss ihren götzendienst an der schönsten stadt der welt verrichten sahen. sie führten lange gespräche, stritten und versöhnten sich, bauten einfache, aber bequeme schlafstellen und legten zwischen den mächtigen eichen kleine gärtchen an, in denen sie, so wie sie es verstanden, korn säten und reben pflanzten. sie bewegten sich, wie es ihnen gut schien und vergassen die drohung des obersten stadtvaters, der sie aus dem schloss vertreiben lassen wollte. sie vergassen aber nie, dass sie keine allesfresser werden wollten und sie vergassen nie ihren traum von brot und wein.

doch das korn wuchs langsam und die reben kletterten gemächlich und der hunger der kinder wuchs. träumend sassen sie unter den mächtigen eichen und schauten hinüber auf die hektisch gepflegte schönheit der stadt. und wie sich ihr gehör vor hunger an den geräuschen der stadt schärfte, wuchs ihre verachtung gegen alle anpassgänger und allesfresser. tag und nacht vernahmen sie leises schmatzen und knacken und mahlen und würgen und schlucken und sabbern und blubbern und brodeln, als wäre die ganze stadt angehäuft von riesigen mündern und schlünden und kreuz und quer durchzogen von gigantischen gedärmen, die alles und jedes langsam erfassten, beschmatzten, ansaugten, überlappten und zersetzten. der hunger der kinder aber wuchs.

da rief eines tages ein kind, während es die beine in den tiefen ziehbrunnen baumeln liess: «wollen wir hier zugrunde gehen? wir träumen von brot und wein, doch vom träumen allein können wir nicht leben. wenn unsere väter uns das wenige nicht geben wollen, das wir brauchen, so wollen wir es uns holen.»

in der folgenden nacht überschlichen die verwegensten zäune und mauern, kletterten an fassaden empor, schlüpften durch geöffnete fenster und bevor der morgen graute, kamen sie schwerbeladen mit brot und wein durch den schlosspark zurück. die erwachenden kinder im schloss kamen herbei und ein grosser jubel erhob sich. gierig begannen sie zu essen und zu trinken und alsbald stimmten sie übermütig die balladen von brot und wein an und die lieder vom aufrechten gang. im feuer des weins aber wuchs die freude über alle massen und der spott über die bewohner der stadt. bis zum nächsten abend dauerte das fest, bis alles brot gegessen und aller wein getrunken war. da fragte ein kind: «und jetzt?» und andere entgegneten: «schaut unsere reben an: noch blühen sie kaum. schaut unser korn an: noch ist es grün und unansehnlich. solange wir kein eigenes brot und keinen eigenen wein haben, holen wir uns der stadt, was wir brauchen.» und als die dämmerung hereinbrach, erhob sich wieder eine gruppe von kindern, um in die stadt zu gehen.

doch als sie vor das schloss heraustraten, war der park voll von anpassgängern und allesfressern. ein unüberschaubares heer von stadtbewohnern stand unter den mächtigen eichen und trampelte zürnend die gärtchen mit den blühenden reben und dem wachsenen korn nieder. umgeben von den andern stadtvätern und der stadtväterin stand in ihrer mitte der kieselsteinkauende oberste stadtvater und als er nun die kinder aus dem schloss herbeiströmen sah, erhob er seine mächtige stimme und rief: «es ist genug! wir haben viel geduld mit euch gehabt. tag für tag haben die mütter und väter der stadt auf eure rückkehr gewartet. ihr aber habt euch in neumodischen, nutzlosen, fremdländischen bewegungen geübt. ihr habt gefaulenzt und in die sonne geschaut, die sich doch im glanze unserer stadt sonnt. ihr habt unsere werktagsnahrung verschmäht, und nun habt ihr uns auch noch brot und wein gestohlen. es ist genug!»

und als er geendigt hatte, traten die gendarmen der stadt vor, bildeten eine lange kette und schritten, in den händen lange holzstöcke tragend, auf das schlosstor zu. ihnen folgten die bewohner der stadt. gemeinsam trieben sie ihre kinder aus dem schloss, prügelten sie die widerspenstigen durch den eichenhain, jagten sie die weinenden und verängstigten in die wälder, hetzten sie die blutenden in die fremde und zerstreuten sie in alle winde.

als die stadtbewohner ihre kinder mit schimpf und schande vertrieben hatten, versammelten sie sich tags darauf noch einmal beim schloss, um den schaden zu bemessen, den die vertriebenen angerichtet hatten. da sahen sie die vielen abgerissenen äste an den arg zerzausten eichen, sie sahen viel unrat auf den treppen, in den hallen und im schlosshof, sie sahen die erbärmlich gezimmerten liegestätten, sie sahen die kindlichen zeichnungen und kritzeleien auf den mauern, und sie fanden die leeren weinflaschen des nächtlichen diebstahls.

da waren die anpassgänger über alle massen empört und ein stadtvater rief: «wer hat unsere kinder bloss so verhetzt?» und ein anderer rief: «wir müssen unsere kinder fürderhin strenger erziehen.» und ein dritter schrie ganz ausser sich: «wir müssen sie wieder arbeiten lehren, wir müssen ihnen wieder respekt lehren vor der schönsten stadt der welt.» am schluss reif der oberste stadtvater, indem er mit seiner klebrigen hand auf das schloss zeigte: «diesen schandfleck aber, dieses entehrte und zerstörte schloss, das die vertriebenen immer wieder von neuem anziehen würde, wollen wir dem erdboden gleichmachen.»

damit riss er mit gewalt einen mächtigen stein aus der schlossmauer und begann ihn mit krosendem gebiss aufzufressen. da brachen sich auch die anderen stadtväter und die stadtväterin einen stein aus der mauer, und nun drängten sich die allerfresser herzu, brachen heraus und frassen, dass es weitherum knirschte und krachte, bis am späten abend das ganze schloss vom erdboden verschwunden war. da rief der oberste stadtvater, während er sich mit beiden händen den prallgefüllten bauch hielt: «meine lieben mitbewohner der schönsten stadt der welt: wir haben unsere pflicht getan. nun ist unsere welt wieder in ordnung.» und die allesfresser atmeten schwer und nickten zufrieden. dann schritten sie in einträchtigem passgang der stadt zu, gingen zu bett und schliefen den schlaf der gerechten.

seit diesem tage aber hatte sich in der schönsten stadt der welt etwas verändert. zwar blühten die geranien wie sonst. die spatzen pfiffen, die taubenschwärme kurvten und der steinmensch auf dem brunnen, den sie «kindlifresser» nannten, erstrahlte in seiner ganzen schönheit. der gang der menschen aber, wenn sie unter den klobigen, bogigen lauben ihren geschäften nachgingen, war noch schwerfälliger und tollpatschiger geworden. sie bewegten sich jeden tag ein wenig langsamer und ihr gesichter wurden jeden tag ein wenig grauer.

seit die allesfresser in einem tag das ganze schloss aufgefressen hatten, um so die schönste stadt der welt wieder zur friedlichsten stadt der welt zu machen und um ihre abtrünnigen kinder möglichst schnell zu vergessen, hatte sich ihrer ein geheimnisvolles leiden bemächtigt, über das sie nie und mit niemandem sprachen und das doch jeder im geheimen mit wachsender aanst an sich und an den anderen beobachtete. wenn der oberste stadtvater zu seinen anpassgängern sprechen wollte, so genügte ihm jetzt das kauen eines kieselsteins nicht mehr, um seine stimme zu ölen. nun musste er, während sich seine grauen zuhörer diskret abwandten, einen ganzen pflasterstein zermahlen, bevor ihm das erste wort langsam über die lippen tropfte. aber auch die anderen allesfresser waren süchtig geworden nach den steinen, von denen sie damals so unmässig viele in sich hineingestopft hatten.

jeden tag mussten sie nun steine fressen, sonst fühlten sie sich derart schwach, dass sie sich nicht mehr aus ihren betten zu erheben vermochten. doch bald wurde es schwer, in der stadt steine zu finden, die man fressen durfte, denn an den buckelnden kopfsteinen und den bogigen lauben, an den vielen steinbrunnen und den unvergleichlichen fassaden wollte sich niemand vergreifen. zu stolz waren die siechenden städter auf ihre stadt. da begannen die allesfresser, jeder hinter dem rücken des anderen, einsam und süchtig, die wände in ihren wohnungen herauszufressen. in dieser zeit bewegten sie sich nur noch sehr langsam und sie wurden grauer und grauer. dann frassen sie die zwischenböden ihrer häuser und nahmen dabei exakt die farbe an, die die steine in der stadt hatten. nun verliessen sie die häuser nicht mehr. sie konnten sich nicht mehr bewegen.

und eines tages, als sich die sonne erhoben hatte, um sich im glanze der schönsten stadt der welt zu sonnen, blickte sie herunter und sah, dass in der stadt alles menschenleben versteinert war, dass nichts sich mehr bewegte ausser, und das sah sie erst, als sie sich schon wieder abwenden wollte, ausser dem unterkiefer des steinmenschen, der «kindlifresser» hiess. dieser hatte ganz, ganz langsam zu mahlen begonnen. die sonne hob verwundert ihre augenbrauen und zog dann schulterzuckend weiter.

nun war die schönste stadt der welt für lange zeit tot. auch die spatzen und die tauben hatten sie verlassen, weil sie in der toten stadt nichts mehr zu fressen finden konnten. die geranien waren verdorrt.

eines tages aber, nach vielen jahren, kehrte eine gruppe menschen, von heimweh getrieben, zurück in die stadt. aus den ehemaligen kindern waren nun männer und frauen geworden, die selber kinder hatten, die sie in bunten wickeltüchern an ihren leib gebunden hatten. verwundert blieben sie auf dem platz des steinmenschen, dessen unterkiefer langsam mahlte, stehen. kein anpassgänger war ihnen begegnet, die allesfresser lagen versteinert in ihren häusern, die nur noch aus dächern und fassaden bestanden. da lachten die heimgekehrten und scherzten: «unsere alten haben sich zu tode gefressen.» und der sohn jenes mannes, der früher der oberste stadtvater gewesen war, rief: «freunde, nun wollen wir in unsere stadt heimkehren und wahrlich, wir wollen sie schöner wiederaufbauen, als sie je war. aus diesem leeren, halbzerfallenen kulissenwerk wollen wir eine stadt machen, die den beinamen ‘schönste stadt der welt’ verdient.» und indem er schon das kind, das in einem bunten tuch lustig an seinem leib strampelte, seiner schönen, scheuen frau hinrichte und seine hemdärmel hochkrempelte, fügte er bei: «schnell, wir wollen nach unseren freunden in der ganzen welt schicken, damit sie zurückkehren in unsere stadt und uns helfen.» und so geschah es.

bald kehrten die ehemaligen abtrünnigen der schönsten stadt der welt in scharen zurück, und eines abends versammelten sich alle heimgekehrten um den brunnen des «kindlifressers», und mit schallender stimme ergriff der sohn des höchsten stadtvaters das wort und rief: «wir sind zurückgekehrt: nun gehört die stadt uns. es liegt an uns, aus ihr wieder eine stadt zu machen, in deren glanz sich die sonne –» hier wurde er unterbrochen, weil sein kindlein an seinem hosenbein hochzukrabbeln versuchte. ungeduldig hob er es hoch und reichte es mit bösem blick seiner erröteten, erschrockenen frau. in das vereinzelte lachen der menschenmenge donnerte er seinen satz zuende: «– in deren glanz sich die sonne sonnen kann. aber: wir werden arbeiten müssen, mehr als unsere alten, besser als unser alten und wir werden in der ersten zeit fressen müssen, was wir finden können. freunde, wir wollen unseren gemeinsamen traum von brot und wein nicht vergessen, aber: wir wollen ihn – zum wohle von uns allen – fürs erste zurückstellen.» applaus brauste auf, weitherum hörte man jubelrufe. nur das kind des redners wimmerte leise auf dem steinboden. es war vom schoss der scheuen, schönen mutter gerutscht, als diese zu klatschen begonnen hatte. als der applaus verebbte, der jubel abklang, rief plötzlich eine frauenstimme von ganz hinten über den platz, und verblüfftes schweigen breitete sich aus: «habt ihr denn nichts gelernt? habt ihr denn gar nichts gelernt? wozu braucht ihr denn die schönste stadt der welt? haben wir uns damals nicht vertreiben lassen, weil wir etwas anders wollten, weil wir keine anpassgänger werden wollten und keine allesfresser?» da ging ein ungeduldiges murren durch die reihen der heimkehrer und eine stimme aus der menge antwortete: «bist du in der fremde nicht erwachsen geworden? brot und wein – hier und heute ist das doch nichts als ein kindertraum. ich habe in der fremde gelernt: es ist besser, sich wie ein anpassgänger zu bewegen und zu fressen, was ich finden kann, als brot und wein zu fordern und tanzend zu grunde zu gehen. freunde, wir wollen gleich morgen an die arbeit!» da rief wieder die warnende frauenstimme: «wozu aber habt ihr gelebt, wenn ihr nichts mehr wollt, als zu werden wie die alten dieser stadt geworden sind? –» weiter kam sie nicht. wütend wurde ihr erwidert: «niemand zwingt dich! niemand hält dich! warum bist du zurückgekehrt? geh, die welt ist gross!»

nun liess, nachdem er unbemerkt ein ganz kleines kieselsteinchen geschluckt hatte, noch einmal der sohn des obersten stadtvaters seine mächtige stimme erschallen: «freunde, geht für heute schlafen. wir wollen doch nicht streiten: unserer harrt eine harte zeit. wir sitzen alle im gleichen boot!» da rief es aus der menge: «unser oberster stadtvater hat recht. und morgen soll er uns zur arbeit einteilen. er ist der klügste von uns.» danach gingen die heimgekehrten auseinander, um in den häusern ihrer väter zu schlafen. schwerfällig und tollpatschig schoben sie hüfte und schulter einer körperseite gleichzeitig voran und am nächsten morgen wollten sie fressen, was ihnen gesagt würde.

nur eine handvoll menschen blieb auf dem platz des «kindlifressers» zurück. lange schauten sie zum steinmenschen empor, dessen unterkiefer langsam mahlte. dann sagte die frau, die vorhin warnend geredet hatte, und ihre augen blickten klar, und ihr herz war gewohnt zu entsagen: «auch hier ist kein bleiben für uns.» da erhob sich ein mann neben ihr und entgegnete traurig: «so wollen wir gehen.»

sie nahmen ihre schlafenden kinder in die arme, rafften das armselige gepäck zusammen und schritten langsam stadtaus in die nacht hinein. sie wurden nie wieder gesehen.

Datierung des Typoskripts: «20.8.82». Im Zangger-Konvolut liegt eine zweite, gekürzte Version dieses Textes mit dem Vermerk «Radiofassung / für Diagonal vom 4.9.1982». Tatsächlich hatte ich damals Gelegenheit, im Auftrag des Radioredaktors Heinz Reber (1952-2007) für sein Gefäss «Diagonal» (DRS 1) zu arbeiten. Ob die gekürzte Version in der erwähnten Sendung verlesen worden ist, weiss ich nicht mehr.

In den gleichen ersten Augusttagen 1982, in denen ichdas Pseudonym «Anatol Jeremia Zangger» habe sterben lassen, hat sich eine für mich wichtige Aktivistin der Berner Jugendbewegung,die Autorin Annerös Soussy-Stalder, das Leben genommen, indem sie bei Basel in den Rhein ging.

Die zeitliche Koinzidenz des fiktiven und des realen Suizids ist ein Zufall: Für die Monate nach der Schliessung des Berner AJZ kam damals der Begriff der «Nachbewegungsdepression» in Gebrauch: Es gab verschiedene Suizide, und es gab eine ganze Reihe von Jugendlichen, die in schwere Krisen gerieten. Dass ich mit Rösi im Sommer 1982 über die Liquidation meines Pseudonyms gesprochen haben könnte und sie sich davon hätte inspirieren lassen, sich selber umzubringen, ist schon deshalb nicht wahrscheinlich, weil wir uns in jener Zeit kaum mehr gesehen haben: Wir waren nicht befreundet und wegen einer schweren psychischen Krise nahm sie an den Redaktions- und Layout-Sitzungen des «Drahtziehers» kaum mehr teil.

Dass ich – der ich zwischen 1975 und 1979 in Basel gelebt und deshalb aus alter Gewohnheit immer noch die «Basler Zeitung» abonniert hatte – in deren Ausgabe vom 12.8.1982 auf das Signalement einer unbekannten Wasserleiche stiess, in dem eine für Rösi charakteristische Zahnlücke beschrieben war, und dass ich daraufhin der Stadtpolizei Basel telefonisch den, wie sich zeigen sollte, entscheidenden Hinweis zur Identifizierung von Rösis Leiche gegeben habe, war ein Zufall – wie es ein Zufall ist, dass Zangger und Rösi fast gleichzeitig in den Tod gegangen sind. Bloss, dass sie nicht mehr weiterleben wollten, hatte zum Teil die gleichen Gründe. 

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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