Zum Tod einer Unterschätzten

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Am Morgen des 2. Januar 2018 hat die Künstlerin Lilly Keller in ihrem Haus in Thusis die Vorhänge nicht geöffnet. Die Nachbarin, die nachschaute, fand sie zwischen Küche und Atelier tot am Boden liegend. Sie wurde knapp 89 Jahre alt. Drei Tage zuvor hat sie einem Zürcher Bekannten am Telefon erzählt, endlich sei das Dorf richtig eingeschneit. Darum habe sie heute auf einem Waldweg ihr Auto auf seine Wintertauglichkeit getestet. Weil sie schliesslich stecken geblieben sei und nicht wenden konnte, habe sie knapp einen halben Kilometer rückwärts aus dem Wald hinausfahren müssen. Aber sie sei zufrieden: Das Auto sei wirklich wintertauglich.

Aus einem Zeitungsartikel wird ein Buch

Kennengelernt habe ich die Künstlerin Lilly Keller Anfang Mai 2011 im Kunsthaus Grenchen. Dort half sie mit, ihre Ausstellung «entre ciel et terre» vorzubereiten. Ich hatte als Journalist den Auftrag von der WOZ, aus diesem Anlass über sie zu schreiben. Arbeitsmaterial war mir das Buch von Ursula Riederer und Andreas Bellasi, das im Jahr zuvor erschienen war.

In Grenchen führten wir in einem Nebenraum des Kunsthauses ein Gespräch. Ich war, wie mein damaliger Artikel belegt, beeindruckt von der Gesprächspartnerin: «Lilly Keller ist schlank, yojageschmeidig, flink auch im Kopf, voller präziser Argumente, polemischer Durchblicke, starker Episoden. Eine Fünfzigjährige mit Jahrgang 1929.» Erzählt hat sie mir an jenem Tag über ihren Weg als Künstlerin in einem Kunstbetrieb, in dem die Kunst grundsätzlich Männerkunst war. Erzählt hat sie von der Berner Kunstszene, von Daniel Spoerri, Bernhard Luginbühl, Jean Tinguely, Pips Vögeli, von den Kunsthalledirektoren Rüdlinger, Meyer und Szeemann, vom Künstlerinnenkreis um Meret Oppenheim. Erzählt hat sie mir von ihrem zum verwunschenen Park umgestalteten Anwesen in Montet ob Cudrefin, von ihrem verstorbenen Lebenspartner Toni Grieb und darüber, dass sie Montet in absehbarer Zeit verlassen werde, um in das Heimatdorf ihrer Mutter nach Thusis zu ziehen. Dort habe sie seit den 1980er Jahren ein geerbtes Lagerhaus mit Stallungen zum neuen Wohnsitz ausgebaut.

Nach der Veröffentlichung des Zeitungsberichts und einem Besuch bei ihr habe ich Lilly Keller in einem Brief folgenden Vorschlag gemacht: «Wie ich mich beim Besuch am letzten Samstag überzeugen konnte, lebst Du mitten in unendlich vielen Gegenständen und Pflanzen, die je ein Stück Deines Lebens bedeuten und für Dich Geschichten transportieren: Auch wenn nach Deinem Umzug nach Thusis alle Gegenstände und Pflanzen an ihrem Platz bleiben würden, wären doch die Geschichten weg, die nur Du weisst und erzählen kannst. Also muss es für mich als Journalist darum gehen, diese Geschichten zu sammeln und zu dokumentieren.»

Von nun an besuchte ich Lilly Keller immer wieder, schliesslich mehr als drei Dutzend Mal. Wir führten stundenlange Gespräche, besichtigten im Wohnhaus und im Atelier Kunstwerke und Lebensdokumente, und fast bei jedem Besuch spazierten wir plaudernd ein bisschen durch die von Grieb angelegten Bambus- und Koniferenhaine hinter ihrem Haus. Laufend transkribierte ich die Aufnahmen unserer Gespräche. Mit der Zeit begann ich für ein grosses Porträt Notizen zu machen. Irgendeinmal existierte ein Typoskript mit fünf grossen Kapiteln. Lilly Keller las, was vorlag, korrigierte, kritisierte, ergänzte. Schliesslich waren wir mit dem Text beide zufrieden. Im Mai 2015 erschien das Buch «Lilly Keller. Künstlerin».

Wirklich invasiv ist nur der Mensch

Eine Zeitlang trug das Typoskript den Titel: «Ich, die grosse Neophytin». Ich habe ihn zwar wieder gestrichen, aber er bezieht sich auf eine Episode, die für mich einer dieser vielen grossartigen, unvergesslichen Momente geblieben ist, die ich während unserer Zusammenarbeit erlebt habe.

Im Juli 2012 kommentierte Lilly Keller mit ätzendem Spott eine botanische Broschüre über «invasive Neophyten», die vor uns auf dem Küchentisch lag: «Hier, ‘Knoblauchhederich …, Bekämpfung …, Probleme …, Erdmandel …, Bekämpfung …, Kanadische Goldrute …, Bekämpfung.’ Alles wird bekämpft! ‘Dank ihrer erfolgreichen Vermehrungs- und Ausbreitungsstrategie bildet sie oft dichte Bestände. In diesen wird die Keimung anderer Pflanzenarten durch Lichtentzug und Wurzelkonkurrenz verhindert.’ Denk auch! Wurzelkonkurrenz ohne flankierende Massnahmen! Dabei ist keine Goldrute so schlimm wie der Mensch. Wirklich invasiv ist nur der Mensch! Und da: ‘Das Pflanzenmaterial sollte in der Kehrichtverbrennung entsorgt werden!’ Aber selbstverständlich! Liquidieren und dann aus hygienischen Gründen noch kremieren!» Keller schüttelt sich vor Lachen: «Abschneiden, im Keim ersticken, ausreissen, verbrennen, sonst treibt noch was aus, im Untergrund, nein, denk auch! Eigentlich müsste ich ein Buch schreiben mit dem Titel: ‘Ich, die grosse Neophytin!’»

Bis zum nächsten Mal

Am 25. Dezember letzthin, erzählt mir der Bekannte, habe Lilly Keller auf dem Boden ihres Thusner Ateliers sämtliche rund neunzig Bücher ausgelegt. Ihre «Bücher»: Unikate in allen denkbaren Grossformaten, Kunstwerke allesamt, Sammlungen von Zeichnungen, Malereien, Collagen, Lebensdokumenten, Texten von Dritten, Briefen von und an Lilly Keller – kurzum ein grossartiger und zentraler Teil ihres Werks. Eigentlich sei es am Weihnachtsabend um die Frage gegangen, wie man die Inhalte dieses Werkteils irgendwie katalogisieren könnte, damit man die Übersicht behalte. Aber Keller habe doch auch ihr Handy hervorgeholt und den Atelierboden mit den «Büchern» fotografiert. Vielleicht war sie für einen Moment selber beeindruckt von ihrem Werk, an dem sie Tag für Tag weitergearbeitet hat.

Am 26. Dezember hat sie ihre Arbeit kurz unterbrochen, um mir, der sein Wort nicht gehalten und sie 2017 in Thusis nicht besucht hat, einen Neujahrsgruss zu schreiben. Er endet mit den Worten: «Ich melde mich das nächste X, wenn ich nach Bern komme. Bleib gesund. Herzlich Lilly».

Dieser Beitrag wurde in der WOZ Nr. 2/2018 am 11. Januar unter dem Titel «Wirklich invasiv ist nur der Mensch» nachgedruckt.

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