«Manchmal triffst du den Ton»

Ein bisschen Angst habe er, sagt Christoph Bauer, dass ihn die WOZ als Gescheiterten porträtieren wolle: «Das wäre falsch. Ich verstehe mich als einen, der zwar froh ist, wenn er ab und zu ein Buch veröffentlichen kann, aber keinen Wert darauf legt, an der Zahl der gedruckten Bücher gemessen zu werden.»

Sprachrohr eines Aufbruchs

Der Schriftsteller Bauer (* 1956) trat Anfang der achtziger Jahre als sehr zorniger junger Mann an: Seine Bücher hiessen «Ekstase» (1981), «Missgeburten» (1982), «Harakiri» (1983), «Europäisches Totenbuch» (1984), «Paranormal» (1985), «Nahkampf» (1987) – und 1990 erschien, von «Aas» bis «Zynismus» ­alphabetisch geordnet, seine 479-seitige «Volkstümliche Enzyklopädie alltäglicher Widerwärtigkeiten». «Prosa, die saftet und schmatzt», kommentierte der «Tages-Anzeiger» 1983; ein «Kunstwerk der Grausamkeit» sei das, meinte die «Basler Zeitung» 1984; und die vorliegende Zeitung setzte 1990 den Titel «Grinsen und Grausen».

In jenen Jahren, sagt Bauer, habe er sich von der Zeit getragen gefühlt. Geschrieben habe er, was in der Luft gelegen habe; Texte, die aus heutiger Sicht sehr tief in der damaligen Zeit verwurzelt seien: «Ich war gar nicht mehr ich selbst, sondern das Sprachrohr eines Aufbruchs.»

Aufgewachsen ist Bauer zwar in Luzern, aber ab 1980 gehört er – «als Sympathisant», wie er sagt – an den Rand der damaligen Zürcher Jugendbewegung. Gleichzeitig lernt er in Zürich den Verleger Rolf Thut kennen, der sein Geld als Korrektor bei der NZZ verdient, um daneben in seinem Eco-Verlag Bücher machen zu können. Nicht selten diskutiert Bauer mit Thut ganze Wochenenden über Literatur, seine Bücher lektorieren sie gemeinsam, Grafik und Gestaltung legen sie zusammen fest, und im Gespräch klären sie die Frage, ob der nächste Band billig oder bibliophil produziert werden solle.

Die beiden verbindet ihre Vorliebe für Kerouac, Ginsberg, Burroughs – für die Literatur der US-amerikanischen Beatgeneration: «Im deutschsprachigen Raum gingen etwa Jörg Fauser oder Rolf Dieter Brinkmann in die Richtung dieser Prosa, die in der Wirklichkeit verhaftet ist – nicht überhöht und sehr dreckig.» In der Schweiz sei solche Literatur nicht angekommen. Deshalb bediene er «als Aussenseiter» bis heute «eine Literaturgattung, die es hier gar nie richtig gegeben hat».

Untergang einer Subkultur

Die Rolle des typischen Schriftstellers habe ihn nie interessiert, sagt Bauer: «Als Ästhet und freier Künstler von seiner Arbeit leben, das können in der Schweiz vielleicht fünf bis zehn Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Ich habe deshalb mein Geld immer als Buchhändler verdient.» Überzeugt von der Idee der Selbstverwaltung engagierte er sich an der «Genossenschaft Lindwurm», die in der Altstadt von Fribourg seit 1977 eine deutschsprachige Buchhandlung betrieb.

Das Netzwerk der selbstverwalteten Betriebe hat Bauer damals auch als Schriftsteller getragen. «Es gab Beizen, die Lesungen machten; Buchhandlungen, die die Bücher auflegten; Zeitungen, die Rezensionen publizierten. Von ‘Ekstase’ zum Beispiel sind 3500 Exemplare verkauft worden.» Um 1990 begann das Netz dieser Subkultur zu reissen. Mitte der neunziger Jahre starb Thut, kurz darauf war der Eco-Verlag am Ende (seine Backlist ging 1998 an den neugegründeten Verlag Edition 8 über).

Nach der Jahrtausendwende wird die Situation auch für die Buchhandlung «Lindwurm» immer schwieriger. Das studentische Publikum weiss nichts mehr von einem Solidaritätsbonus; wer den Weg von der Uni hinunter in die Altstadt überhaupt noch findet, will ein Top-Angebot und einen Top-Service, dazu allenfalls noch ein bisschen Selbstverwaltungsgroove als Folklore. «Der Umsatz sank, die Sorgen wuchsen, und gegen Ende war ich so was wie der Kapitän auf einem sinkenden Schiff.»

Am 14. Januar 2009 gibt das «Lindwurm»-Team die Schliessung der Buchhandlung auf Ende Monat bekannt. «Bauer, welcher am längsten beim Lindwurm dabei war», meldeten tags darauf die «Freiburger Nachrichten», «wollte das Ende der Buchhandlung nicht kommentieren». In der damaligen «Lindwurm»-Medienmitteilung steht: «Reich wollten wir eigentlich nie werden. Nun reicht es aber nicht mal mehr zum Überleben.»

Bauer wird in jenem Jahr für rund zehn Monate arbeitslos. Um diese Arbeitslosigkeit zu bewältigen, beginnt er zu schreiben. Kurze abschnittlose Prosastücke, deren erster am Nullpunkt der innegewordenen eigenen Überflüssigkeit beginnt: «Lange Zeit vermutete ich, ich sei jemand Besonderer. […] Heute weiss ich, dass das Leben eine Aneinanderreihung von Enttäuschungen und Demütigungen ist.» Dem «Maschinenmenschendasein» entronnen hangelt er sich von Textstück zu Textstück durch die Tage (siehe Kasten).

Schreiben ohne Berufsgarantie

«Nach dem Ende von Eco war ich lange ohne Verlag, aber ich habe immer weitergeschrieben», erzählt Bauer. Als Buchhändler hat er immer Teilzeit gearbeitet und daneben diszipliniert seine Schreibzeiten eingehalten. «Ein bisschen wie ein Privatgelehrter», sagt er. Um vom PC nicht zum Sprachdurchfall verlockt zu werden, entwirft er bis heute jeden Satz von Hand. «Unterdessen habe ich einen Stapel unveröffentlichter Skripte; Romane und Erzählungen, die von den Verlagen allesamt zurückgekommen sind.» Nach Mitte der neunziger Jahre sind von ihm nur noch die Prosaminiaturen «Die natürliche Bescheidenheit der Gurken» erschienen (2004).

Unterdessen arbeitet Bauer als Buchhändler teilzeitlich in Bern und schreibt zu Hause, auf einem Hügel in den Nähe von Fribourg, an einem Buch über den Tod. «Manchmal triffst du den Ton und dann findest du Resonanz, wie wenn dieser Ton verstärkt würde», sagt er. «Und manchmal schreibst du, und niemand beachtet es.» Literarische Texte zu machen, ist für ihn deshalb keine Berufsperspektive: «Aber eine Schreibperspektive, das reicht.» Nein, verbittert sei er nicht, dass er seinerzeit erfolgreich und später erfolglos geschrieben habe. «Das ist das Leben», sagt er. «Solche Erfahrungen macht jeder Mensch. Warum sollte in diesem Punkt ein schreibender Mensch speziell sein?»

[Kasten]

«Der Bericht»: Eine Stimme mit Witz

Auf den 1. April 2011 sind wegen die Verschärfung des Arbeitslosengesetzes in der Schweiz auf einen Schlag rund 16000 Personen in die Sozialhilfe abgeschoben worden. Wer Christoph Bauers neues Buch liest, erhält eine Vorstellung, was das für jeden einzelnen Menschen bedeuten mag:

Ein Mann wird arbeitslos und damit, dass ungefähr zwanzig Seiten vor Schluss des Buches eine neue Arbeitsstelle in Sicht kommt, ist der dargestellte Plot auch schon skizziert. «Ich gehe nicht von einer Geschichte aus, sondern von einem Thema, um das ich mich assoziativ bewege», sagt Bauer. «Dadurch entsteht eine reflexive Prosa ohne spektakulären Spannungsbogen.» Was vorliegt, sind über 270 Bruchstücke, die durch das flächig gedachte Thema kreuz und quer Gedankenfäden ziehen: Überschneidungen gibt es, aber nicht im Sinn von Redundanzen, sondern als Variationen, Verschiebungen, Transpositionen.

Aus biografischen Anspielungen wird deutlich, dass der Ich-Erzähler sehr wohl ein Alter Ego von Christoph Bauer ist. Tatsächlich, sagt er, habe er versucht, «radikal ehrlich» zu schreiben. Trotzdem ist der Text kein Tagebuch eines Betroffenen. Bauer leiht seine literarische Stimme einem jener «Überflüssigen», von denen die soziologische Exklusionsforschung spricht: Diese Stimme redet trotz Anflügen von Resignation und Depression gegen den Ausschluss an. Manchmal gelingen ihr Sätze von aphoristischer Prägnanz; manchmal spiegelt sich in ihnen das Leben auf dem Zahnfleisch so authentisch, dass man zwischenhinein durchatmen muss, bevor man weiterliest. Und ab und zu drückt Bauers Witz durch: Etwa, wenn der Erzähler die in den Regionalen Arbeitsvermittlungsbüros angewendete ideologische Gehirnwäsche aufs Korn wird: Dort haben Arbeitslose zu lernen, man müsse nur wollen – sie seien nicht «arbeitslos», sondern «stellensuchend». Der Erzähler fragt zurück, ob denn jeder «Sterbende» ein «Jenseitssuchender» sei.

Christoph Bauer: Der Bericht, Wien (Songdog Verlag) 2011.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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