Niemand will Klingler helfen

Manchmal wächst Michel Klingler [1] alles über den Kopf. Am 28. September 2001 sitzt er in A., einem Dorf im Emmental, am Telefon. Es geht um die Kosten des letzten Umzugs. Der Regierungsstatthalter hat seine Beschwerde gegen die Gemeinde nur teilweise gutgeheissen. Er soll einen Teil selber bezahlen. Aber er ist IV-Bezüger und Vater von drei Kindern. Man soll ihm helfen. Endlich wird er mit einer zuständigen Person verbunden: Regula Stähli, Fürsprecherin und Inspektorin im Amt für Betriebswirtschaft und Aufsicht in der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern.

Wenns um Klagen gegen Regierungsstatthaltereien geht, stellt man die Anrufe zu ihr durch. Sie hört zu, sagt, sie werde schauen, was sie machen könne. Das hat Klingler schon zu oft gehört: So wird man abgewimmelt. Überzeugender wäre, insistiert er, wenn sie sagen würde, sie tue, was in ihrer Macht stehe. Sie bleibt höflich, professionell und unverbindlich. Er wird ungehalten und sagt: Es verwundere ihn nicht, dass solche Mordanschläge wie im Zuger Parlament vorkämen. Fünf Tage nach Friedrich Leibachers Amoklauf ist es für eine Amtsperson schwierig, in einer solchen Feststellung keine unterschwellige Drohung herauszuhören.

Überall himmeltraurige Machenschaften

Stähli informiert den zuständigen Regierungsstatthalter. Bei Markus Grossenbacher in Trachselwald wächst die Akte des 38jährigen Klingler in letzter Zeit wieder schneller, die Beschwerden aus dessen Nachbarschaft häufen sich. Die letzte Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) gegen den Mann, der früher als Hilfspfleger auf der Geriatrie des Asyls Gottesgnad in Langnau gearbeitet hat, liegt anderthalb Jahre zurück. Jetzt ist die nächste fällig: «Die Belästigungen der Nachbarn und der Behörden, die zum Teil ausgesprochenen Drohungen gegenüber Drittpersonen, aber auch die Gefährdung seiner Familie machten diese Massnahme erneut notwendig.»

Am 1. Oktober 2001 wird Klingler in das Psychiatriezentrum Münsingen eingeliefert. Vor anderthalb Jahren hat man hier herausgefunden, dass er an einer «kombinierten Persönlichkeitsstörung» leide mit «emotional instabilen, infantil-unreifen, reizbaren, haltlosen, asozialen, passiv-aggressiven und paranoid-querulatorischen Zügen, bei leichter Intelligenzminderung». Diesmal findet man heraus, dass die «problematischen Verhaltensauffälligkeiten […] exakt dieselben» geblieben seien. Wichtiger geworden sei der «positive Nutzen», den er aus seinen Drohungen ziehe. Seine Persönlichkeitsstörung «sei einer Behandlung nicht zugänglich», ihr könne «nur mit gleicher Währung begegnet werden, d. h. mit Sanktionen rechtlicher Art».

Das kennt Klingler: Man will ihn einschüchtern, damit er sein Recht nicht wahrnehmen kann – und mit der «Zukunftsdiagnose» will man seine Familie auseinander bringen: Es sei damit zu rechnen, «dass nach Austritt die Verhaltensprobleme von Herrn Klingler in ähnlicher Weise weiterbestehen. Therapeutisch können sie nicht angegangen werden. Insgesamt erscheint die Prognose ungünstig, auch im Hinblick auf die nächste Generation.»

Am 1. November 2001 kommt der Regierungsstatthalter in die Klinik. Es geht um Erziehungsbeistandschaft für Klinglers Kinder; um sein Einverständnis, dass die Kinder von einem jugendpsychiatrischen Dienst begutachtet werden können; um seine Verpflichtung, Nachbarn und Behörden nicht mehr zu beschimpfen. Klingler unterschreibt das Protokoll, damit er entlassen wird.

Im zweistöckigen Vierparteienhaus, in dem er mit seiner Familie wohnt, versucht er, für Ordnung zu sorgen: gegen die Abwartin und ihren Mann, der Drogen pflanze und rauche; gegen das neu eingezogene lesbische Paar, das nachts bei seinen Liebespielen schreie. Muss er vor solchen Machenschaften nicht seine Kinder beschützen? Er tut, was er kann, aber wieder hilft niemand. Er versucht, gegen zwei Polizeibeamte ein Disziplinarverfahren zu erwirken. Gegen den Regierungsstatthalter strengt er ein Amtsenthebungsverfahren an. Gegen die Behörden von A. reicht er eine aufsichtsrechtliche Beschwerde ein. Am 2. Dezember widerruft er zudem seine Unterschrift unter dem Protokoll von Münsingen.

Aber die Probleme nehmen zu. Klingler beginnt, die Kinder im Quartier über ihre himmeltraurigen Eltern aufzuklären, und wenn er diese trifft, sagt er ihnen die Meinung. Er beginnt, anonyme Briefe zu verschicken. Nun drohen die Nachbarn, sie würden sich Klingler selber vom Leib schaffen, wenn die Behörden ihn nicht entfernten. Am 16. Februar 2002 verfügt der Statthalter den nächsten FFE: «Werden keine Massnahmen getroffen, ist ein Unglück am Wohnort wahrscheinlich.»

Versorgung auf unbestimmte Zeit

Klingler landet wieder in Münsingen. Er reicht Rekurs ein. Der wird abgelehnt: «Selbst- und Drittgefährdung [ist] nicht auszuschliessen. Besonders in der heutigen Zeit, da beinahe wöchentlich über Familiendramen und Affekthandlungen berichtet wird, kann die Rekurskommission diese Verantwortung nicht übernehmen.»

Am 10. April teilt man ihm mit, er werde in das «Therapiezentrum im Schache» im solothurnischen Deitingen versetzt (siehe Kasten). Aber er will nach Hause, er müsse bei den Nachbarn aufräumen, die seien am ganzen Schlamassel schuld. Trotzdem wird er in den «Schache» eingewiesen – diesmal als FFE «auf unbestimmte Zeit». «Aus ärztlicher Sicht», schreibt der Statthalter, sei «die Einweisung in den ‘Schache’ sinnvoll und angezeigt». Allerdings sei davon auszugehen, «dass eine 1-jährige Therapie bei Herrn Klingler nicht ausreichen werde» – umso mehr als an «Heilung und Therapie nicht zu denken» sei, wie es im gleichen Entscheid heisst.

Klingler ist klar: Man will ihn versenken. Er geht auf Kurve. Ein Pfarrer hilft, er findet Unterschlupf im Zürichbiet, trifft freundliche Leute, arbeitet in einer geschützten Werkstatt. Unterdessen hat der Verein «Psychex» gegen Zwangspsychiatrie, für Klingler einen Anwalt beigezogen. Dieser verlangt die Aufhebung des FFE-Entscheids, damit der Untergetauchte wieder zu seiner Familie zurückkehren könne. In der Gewissheit, dass der positive Entscheid eine Formalität sei – immerhin hat Klingler seit seinem Untertauchen bewiesen, dass er sozial unauffällig lebt –, wird ihm geraten, am 7. Mai an der Obergerichtsverhandlung teilzunehmen. Er reist nach Bern. Aus dem Gerichtssaal wird er direkt nach Deitingen abgeführt und interniert. Seither lebt er dort.

Am 11. September 2002 stirbt Klinglers krebskranke Mutter. Für die Beerdigung erhält er Urlaub. Mit Datum vom 14. September bestätigt ein Arzt, dass Klinglers Vater, der in Thun lebt, «mit seiner schweren Lungenkrankheit nach dem Tod seiner Ehefrau nicht in der Lage ist, den Haushalt alleine zu führen. Deshalb bitten wir, dass sein Sohn für eine angemessene Zeit vom Arbeitsplatz fernbleiben darf, um seinem Vater beizustehen.» Der Regierungsstatthalter gewährt eine Verlängerung des Urlaubs um 24 Stunden: «Es kann und darf nicht sein, dass nach dem aufwändigen FFE-Verfahren und der doch bis heute recht erfolgreich verlaufenen Therapie der Aufenthalt im Therapiezentrum einfach abgebrochen wird.»

Jetzt stellt Klinglers Anwalt ein Entlassungsgesuch. Er weist nach, dass «die gesetzlichen Voraussetzungen für eine weitere Internierung aktuell nicht mehr gegeben» seien; Klingler sei zur Unterstützung seines Vaters zu entlassen. Die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen lehnt das Gesuch ab. Der Anwalt rekurriert. Am 3. Oktober weist die Kommission auch den Rekurs ab. Klingler mache im «Schache» «in der Psychotherapie mit», und er arbeite gerne, «auch wenn er dies selber nicht zuzugeben» vermöge. Eine Entlassung wäre «eindeutig verfrüht»: «Damit würden alle bisherigen behördlichen Bemühungen und alle im Interesse, zum Schutz und Wohle der Kinder getroffenen Massnahmen ernsthaft gefährdet und in Frage gestellt.» Der Regierungsstatthalter ergänzt am Telefon, seit man im Frühjahr 2002 eine professionelle Beistandschaft errichtet habe, machten die Kinder grosse Fortschritte, die Zusammenarbeit mit Frau Klingler sei gut. Diese sagt am Telefon, man halte ihren Mann zu Unrecht eingesperrt, sie habe nichts mehr von ihm, der Statthalter mache ihre Ehe kaputt.

Die Situation soll geändert werden

Anfang November sucht Klingler wegen seiner gesundheitlichen Beschwerden während eines Urlaubs seinen ehemaligen Arzt in Thun auf. Dieser verweist ihn für therapeutische Massnahmen an den Anstaltsarzt des «Schache», verfasst aber ein ärztliches Zeugnis. Er schreibt: «Statt enger ambulanter Behandlung versucht man eine schwere psychiatrische Krankheit, welche seit über 15 Jahren von mehreren stationären und ambulanten Psychiatern und Gutachten belegt ist, ‘auszuklopfen’. Aber alle stationären Massnahmen werden gar nichts bringen, eher nur die Selbst- und Fremdgefährdung erhöhen.» Er empfiehlt: «Massnahmen ja, verbindliche ja, aber ambulante.» Für den Regierungsstatthalter ist dieses «Zeugnis» allerdings lediglich die «Meinungsäusserung» einer Person, die nicht in die aktuellen Ereignisse involviert sei.

Unterdessen hat Klingler seinem bisherigen Anwalt, von dem er enttäuscht ist, das Mandat entzogen. Psychex vermittelt ihm eine Anwältin, die den «Schache» kennt und sagt: «Der ‘Schache’ ist offensichtlich ein Gefängnis und nicht ein Therapiezentrum. Das ist Schönfärberei. FFE-Leute haben nicht delinquiert, sondern sind allenfalls krank. Solche Leute brauchen therapeutische Hilfe, keine Einsperrung oder Verwahrung.»

Klingler geht es im «Schache» immer schlechter. Er möchte nach Thun, für seinen Vater sorgen und für seine Familie eine neue Wohnung suchen. Er leidet unter dem Achteinhalbstunden-Arbeitstag. Man werde «trückt, terrorisiert u plaaget», sagt er. Unterdessen ist er sieben Monate von der Familie getrennt und interniert. Er isst und schläft kaum mehr; er raucht zuviel, ist verzweifelt.

Am letzten Freitag hat der Regierungsstatthalter nun überraschend die probeweise Entlassung für einen Monat angekündigt. Zuerst müsse aber in einer geschützten Werkstatt ein Arbeitsplatz für täglich vier Stunden gefunden werden. Wann Klingler den «Schache» verlassen kann, bleibt deshalb offen.

[1] Name von der Redaktion geändert.

 

[Kasten]

«Im Schache»

Im «Therapiezentrum im Schache» interniert sind Zugewiesaene nach Art. 43 resp. 44 StGB («Massnahmen an geistig Abnormen» resp. «Behandlung von Trunk- und Rauschgiftsüchtigen») sowie «Zurückbehaltene» nach Art. 397 ZGB (FFE). Der Therapiecharakter der Institution ist umstritten: Der «Schache» sei eine «Massnahmen- und Vollzugsanstalt», in der «psychisch angeschlagene FFE-Patienten mit Straffälligen zusammenarbeiten müssen» («Plädoyer», 5/2002). Im «Schache» gibt es Schleusen, Videoüberwachung und einen vier Meter hohen Zaun. Wer auf die Kurve geht, wird mit Arrest bestraft; wer die Arbeit verweigert, ebenfalls.

Seit das Stimmvolk am 13. Juni 1999 den «Bundesbeschluss über die ärztliche Verschreibung von Heroin» gutgeheissen hat und Heroin ambulant verabreicht wird, hat der «Schache» Belegungsprobleme. Die Auslastung sei «weit unter einer betriebswirtschaftlich verantwortbaren Grösse», stellt der Solothurner Regierungsrat im Protokoll vom 25. Februar 2002 fest. Deshalb soll der «Schache» bis zum Jahr 2007 zu einem «Psychiatriegefängnis» für «therapierbare gefährliche und nicht therapierbare betreuungsbedürftige Gefangene» ausgebaut werden. Die Installation massiv erhöhter Sicherheitseinrichtungen gilt als Sofortmassnahme.

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