«Nicht mit unserer Welt»

Ein gemütlicher Raum im Tiefparterre eines Genossenschaftshauses beim Kinderspital in Zürich: Das ist der Treffpunkt der Roten Falken von Zürich, einer Gruppe von sechs- bis fünfzehnjährigen Kindern und Jugendlichen. Dabei sind zum Beispiel die Gymnasiastin Fanny (12) und die Drittklässlerin Lilith (9).

Die Roten Falken sind im Vorbereitungsstress: Am 20. November 1989 hat die Uno ihre Kinderrechtskonvention ratifiziert – am 20. November wollen die Zürcher Falken deshalb, wie schon letztes Jahr, mit einer «Demo für Kinderrechte» auf die Strasse. In den letzten Wochen haben sie Transparente gemalt, Flyer geschrieben und daneben Reden und ein Strassentheater vorbereitet für die Schlusskundgebung. Am Samstag selbst wird man noch den Wagen vorbereiten müssen. Lilith erklärt: «Auf dem Wagen ist die Soundanlage. Drumherum hängen wir unsere Transpis. Und dann hängen wir den Wagen an einen Traktor, der damit durch die Stadt fährt.»

«Losed ois zue!» Das ist der Titel des ersten diesjährigen Demothemas. Fanny: «Uns ist es wichtig, dass wir Kinder mitbestimmen können – vor allem in der Schule oder in Quartierfragen, die uns direkt betreffen. Dass immer die Erwachsenen entscheiden, finden wir blöd.»

Der Wiener Pädagoge und Sozialdemokrat Anton Tesarek gründete die Roten Falken in den 1920er Jahren als Jugendorganisation der SPÖ. Bald gab es auch erste Gruppen in der Schweiz. In ihren besten Zeiten hatten die Schweizer Falken einen nationalen Dachverband mit 41 Ortsgruppen.

Das zweite Demothema ist der Frieden. Lilith erzählt von den Kindersoldaten: «Viele Kinder sterben im Krieg. Und viele Kinder müssen flüchten. Kommen sie in die Schweiz, müssen sie sich verstecken, damit sie nicht in den Krieg zurückgeschickt werden.» Weil das so sei, hätten sich die Roten Falken an der Demo im letzten Jahr speziell gegen die Illegalisierung von Kindern in der Schweiz gewehrt.

Der dritte Demopunkt ist beiden «megawichtig»: der Schutz der Umwelt. Jetzt wird Fanny deutlich: «Die Welt wird immer mehr versaut. Was können wir später noch machen, wenn sie schon fast futsch ist? Darum sagen wir: ‘Nicht mit unserer Welt!’ Genau genommen haben die Erwachsenen die Welt von uns ausgeliehen. Später werden sie sie uns zurückgeben müssen.»

Mit der Kinderrechts-Demo gehe es darum, zu zeigen, warum die drei Demothemen wichtig seien. Und wichtig sei auch, zu den «konkreten Sachen» zu kommen, sonst bringe alles nichts. «Wir hoffen», sagt Lilith, «dass am Samstag viele Leute kommen und mithelfen, etwas zu ändern.» Letztes Jahr haben die rund dreissig Zürcher Falken mit ihren zehn LeiterInnen gut dreihundert Leute mobilisiert, die bis zur Schlusskundgebung auf dem Bürkliplatz mitgezogen sind. Diesmal sollen es mehr sein.

Neben der Kinderrechts-Demo gibt es noch eine zweite, die das Falken-Jahr prägt: jene am 1. Mai. Auch sonst greifen die Falken immer wieder politische Themen auf, diskutieren etwa über alternative Energien oder fragen: «Woher kommt unser Essen?» Doch auch Basteln, Baden und Spielen im Wald kommen nicht zu kurz. Das Jahr ist gegliedert durch das Pfingstlager, das Sommerlager, die Wintersonnenwende und das Lager während des Knabenschiessens, an dem auch die Eltern der Roten Falken teilnehmen. Zum Teil finden diese Lager im «Falken-Haus» im Mösli auf dem Üetliberg statt. Man war aber in den letzten Jahren zusammen auch im Tessin, im Puschlav oder im Waadtländer Jura.

«Spiel, Spass und Solidarität», das sei, so Fanny, das Motto der Roten Falken. Dabei sei es so, dass sie, nicht die Leitenden, bestimmten. «Eigentlich planen jeweils wir Kinder, was an den nächsten Treffen geschehen soll. Die Leiter sind mehr dazu da zu helfen, unsere Ideen umzusetzen.»

Die Kinder und Jugendlichen sind zusätzlich durch ein «Falkenversprechen» in neun Punkten verbunden. Punkt 8 lautet zum Beispiel: «In unserem Leben gibt es Wichtigeres als der Besitz von Geld und teuren Dingen.»

Die Roten Falken sehen sich in der wechselvollen Tradition der sozialistischen Erziehungsarbeit des 20. Jahrhunderts. In den letzten Jahrzehnten schien es nur noch bergab zu gehen: Immer weniger Sektion waren aktiv; der Dachverband wurde 1996 aufgelöst. Heute gibt es noch Rote Falken in Zürich (mit ZuzügerInnen aus Biel) und in Bern. Doch zumindest in Zürich steigen die Mitgliederzahlen wieder: Die Falken kehren zurück! Wer könnte auch bestreiten, dass «Spiel, Spass und Solidarität» ein sehr gutes Motto ist für das 21. Jahrhundert?

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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