«Die Zeit, die nehm ich mir!»

Eine moderne Anlage mit sechsstöckigem Zentralbau hoch über Zürich: Das ist das Pflegezentrum Witikon. In Wohngruppen und auf Pflegestationen, in Einer-, Zweier- oder Dreierzimmern leben hier an diesem Tag exakt 202 «Klienten» und «Patientinnen». Lorena Bühler nennt sie lieber «Bewohner und Bewohnerinnen».

Beim Rundgang geht sie voran: Ein langer Flur mit beidseits abgehenden Türen, das ist der Verwaltungstrakt. Daneben ein veritabler Coiffure- und Fusspflegesalon. Räume für den technischen Dienst, für Lingerie und Hauswirtschaft. Der Raum mit sauber gestapelten Berufskleidern für das Personal und einer für die Effekten der Klienten und Klientinnen. Ein Lager von Spezialmatratzen und Liegehilfen. Das medizinisches Labor, die Apotheke, das Büro des Heimarztes. Durch eine Türe im Untergeschoss ein Aufbau mit badewannenartiger Mulde, kühlbar. «Der Katafalk», sagt sie, der Aufbahrungsraum für frisch Verstorbene.

Durch unterirdische Gänge und hinauf mit einem Lift geht’s zu Lorena Bühlers Arbeitsort: Niveaus 3 und 4 des Hauses B, eine «weglaufgeschützte Demenzstation». Hier leben elf alte Menschen, betreut vom einem insgesamt elfköpfigen Team, das in verschiedenen Schichten arbeitet.

Zwang ist ein Problem

Vor den Fenstern ein heisser Sommernachmittag. Im Aufenthaltsraum mehrere Leute, die ins Leere blicken oder dösen, nur ein Mann geht umher und spricht monoton vor sich hin.

Auf der Terrasse fragt eine hochbetagte Frau unter einem Sonnenschirm, was wir hier wollten. Lorena Bühler kniet sich nieder, fasst sie am Arm und ruft ihr ins Ohr: «Frau Bretscher, ich zeige dem Besuch die Terrasse.» – «Geratte? Was isch das?» – «Terrasse!», ruft Bühler ins Ohr, «Terrasse!» Die Frau schaut ratlos. Später sagt Bühler, ob die Frau nicht gehört oder nicht verstanden habe, sei schwierig zu entscheiden. Jetzt lacht sie, streichelt Frau Bretschers Arm, gibt ihr ein Stichwort, damit sie erzählen kann. Frau Bretscher winkt uns mit beiden Armen strahlend nach, als wir im Haus verschwinden.

Was auffällt: Keine Tür nach aussen ist ohne Schlüssel oder einzutippenden Zahlencode zu öffnen. Demenzkranke sind zwar gerne unterwegs, aber sie finden den Rückweg nicht mehr. Darum werden sie «weglaufgeschützt» – ein Schutz, der von Eingesperrtsein nur unscharf trennen ist.

«Ja, der Zwang ist ein Problem, mit dem wir uns hier täglich auseinandersetzen», sagt Bühler. Bettgitter für Sturzgefährdete werden manchmal als Gefängnisgitter, Rollstuhlfixationen als Fesseln erlebt: Das weckt Agressionen. Rüstige Demenzkranke können dreinschlagen.

«Es kommt nicht selten vor, dass ein Bewohner an der Tür steht und schreit, er wolle nach draussen und ich ihm sagen muss: Sie dürfen nicht hinaus.» Es komme auch vor, das die Person nach einer Stunde immer noch an der Tür stehe und schreie. Wenn nichts anderes helfe, bleibe nur der Griff in den Medikamentenschrank.

«Bhüeti Gott, gäll!»

Trotzdem sagt Lorena Bühler: «Die Pflege von alten Menschen, das ist mein Ding.» Und sie sagt auch, warum: «Es stimmt zwar, dass dir alte Menschen den letzten Nerv rauben können, aber sie können dir auch unheimlich viel zurückgeben.» Wenn sie zum Beispiel der Frau Bretscher gute Nacht wünsche, dann streichle ihr diese Frau jedes Mal über die Wange und sage: «Bhüeti Gott, gäll! Bhüeti Gott!»

«In einem Spital zu arbeiten, wäre für mich undenkbar», sagt Bühler. Hierher aber kämen keine Akutkranken, sondern alte Menschen, sicher mit Einschränkungen, mit chronischen Gebresten oder, im Fall von Demenz, mit einer veränderten Persönlichkeit. Aber diese Menschen seien eben nicht vor allem krank: «Darum ist für sie das wichtigste, dass es uns gelingt, das tägliche Zusammenleben menschlich zu gestalten.»

Dazu brauche es oft wenig, «Riesenfeste» seien gar nicht nötig. Ein bisschen Zeit genüge, um sich zu einem Bewohner, einer Bewohnerin zu setzen, die Hand zu halten und einige Worte zu wechseln.

Der Schreibkram

Ob denn die Arbeitsbedingungen so seien, dass man diese Zeit tatsächlich habe? Bühler lacht: «Die nehme ich mir.» Klar gebe es auch hier in Witikon Leistungsdruck. Aber sie setze Prioritäten: «Grundsätzlich kommen zuerst die Menschen. Alles Administrative, der ganze Schreibkram, der zunimmt, kommt nachher.»

Später im Gespräch ist Lorena Bühler noch einmal auf ihre Berufsmotivation zurückgekommen: «Für mich ist es sehr befriedigend, wenn ich das Leben von Menschen, die ja hier voraussichtlich ihre letzte Lebenszeit verbringen, ein bisschen angenehmer und schöner machen kann.»

 

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Arbeiten und weiter lernen

Lorena Bühler (* 1982) ist in Schlieren (ZH) aufgewachsen. Die Schulen absolvierte sie zuerst hier, danach auf der anderen Seite der Limmat in Engstringen und in Weiningen. Zehntes Schuljahr mit Schwergewicht auf sozialen Berufen in Zürich. Während des Praktikums in einem Altersheim wird ihr Interesse an den Pflegeberufen geweckt. Im Juni 2000 beginnt sie im Pflegezentrum Witikon als Praktikantin. Seither ist sie hier, die neuste Ausgabe der Hauszeitschrift «Panorama» meldet eben ihr 10-Jahre-Dienstjubiläum.

Berufsbegleitend bildet sie sich laufend weiter. Sie wurde zuerst Pflegeassistentin, spezialisierte sich für anderthalb Jahr auf Dauernachtwache, wechselte dann in den Tagdienst, machte die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit (FaGe) und eine Weiterbildung zur Ausbildnerin. Im kommenden Herbst nimmt sie an der Höheren Fachschule in Zürich die Ausbildung zur diplomierten Pflegefachfrau auf, übrigens finanziell unterstützt von der Stadt Zürich.

Lorena Bühler ist «noch» in keiner Gewerkschaft, verdient bei einer 80-Prozent-Anstellung brutto gut 4600 Franken. Sie wohnt in Dietikon. Hobbies: Reisen, Wandern und Lesen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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