«Wir warten auf grünes Licht»

Ein chemisches Labor: Auf dem Tisch liegt ein Streifen unscheinbares Polyester-Vlies. Merkwürdig: Tropft man mit einer Pipette Wasser darauf, werden die Tropfen nicht aufgesogen, sondern bleiben als ovale Perlen auf den Fasern stehen. Und legt man das Vlies in ein Becken mit Salzwasser, auf dem ein dunkelbrauner Ölfleck schwimmt, dann saugt es sich, ohne nass zu werden, in kurzer Zeit mit diesem Öl voll.

Mit einer chemischen Imprägnierung haben die High-Tech-Düftler der Firma HeiQ Materials AG dem Vlies diese Eigenschaften gegeben. Letzthin standen hier interessierte Vertreter der US-amerikanischen National Guard und liessen sich informieren. «Wir hoffen», sagt Paolo Savi, «dass wir mit dem Vlies einen Beitrag leisten können im Kampf gegen die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko». Er ist eiber der Ingenieure bei HeiQ.

Aus lauter Ärger eine Firma gründen

2005 haben Carlo Centonze und Murray Height, zwei Wissenschafter an der ETH Zürich, eine Bergtour gemacht. Sie sind ins Schwitzen geraten, haben sich über den Geruch ihres Schweisses geärgert und sich gesagt, dieses Problem sei zu lösen. Weil sie wussten, dass der Schweissgeruch durch Bakterien entsteht, die sich rasch vermehren, erfanden sie auf der Basis von mikrotechnisch verarbeitetem Silber eine antibakterielle Substan. Mit dieser können Sportbekleidungen imprägniert werden. Seither ist es möglich, beim Sporttreiben geruchlos zu schwitzen.

Die Substanz stiess auf Interesse. Die beiden Wissenschafter gründeten mit Unterstützung der ETH eine Firma – die HeiQ Materials AG – und suchten jemanden, der eine Produktionsanlage bauen würde. So kam der Maschinen-Ingenieur Paolo Savi als dritter Mann zu HeiQ: «Für mich als ETH-Assistent war das die Chance, in die Industrie zu wechseln.»

Eine Pilotanlage baut Savi ab 2005 im Technopark in Zürich. Erste Kunden sind zufrieden, die Nachfrage steigt, grössere Produktionsräume werden nötig. 2007 zieht HeiQ auf das Areal der ehemaligen Sodafabrik Solvay bei Zurzach im steuergünstigen Kanton Aargau.

Hier beginnt man in leeren Hallen. Savi plant neue, grössere Produktionsanlagen, baut mit, optimiert und testet sie: «Wir mussten ja das Produkt, das auf dieser neuen Anlage hergestellt wurde, kontrollieren lernen.» In der ersten Zeit der Produktion hat er seine Maschinen selber bedient.

Heute hätte er keine Zeit mehr dazu: HeiQ beschäftigt unterdessen rund zwanzig Leute aus zehn verschiedenen Ländern. Firmensprache ist englisch. Neben antibakteriellen werden auch wasserabstossende und wärmeregulierende Textilveredler hergestellt. Savi arbeitet als Manager und Allrounder und vermisst manchmal seine Ingenieursarbeit: «Ich mache im Moment von der Produktion bis zur Softwareentwicklung so ziemlich alles – immer offen für neue Projekte. Daneben versuche ich die Leute zu motivieren, Schwierigkeiten zu erkennen, Schnittstellen zwischen den einzelnen Abläufen zu klären.» Dass er immer optimistisch und fröhlich sei, helfe da viel, sagt er.

Eine Erfindung erhält ihren Namen

Am 22. April 2010 explodiert im Golf von Mexiko die Ölbohrinsel «Deepwater Horzion. Die Medien berichten täglich über die wachsende Ölkatastrophe.

In jenen Tagen kehrt ein Mitarbeiter der Firma mit einer elektrisierenden Idee aus Deutschland zurück. Er hat in Emsdetten die Firma TWE besucht, die spezialisiert ist auf die Produktion von Vliesen. Dort ist die Idee aufgetaucht, solche Vliese mit einer Substanz zu kombinieren, die HeiQ im Zusammenhang mit wasserabstossender Sportbekleidung gefunden hat: Sie stösst nicht nur Wasser ab, sondern saugt gleichzeitig Öl auf. Warum nicht Vliese damit imprägnieren und mit den imprägnierten Vliesen die verschmutzten Strände in Süden der USA schützen?

«In den letzten anderthalb Monaten lief hier alles auf der superschnellen Schiene», sagt Savi. Das Nebenprodukt hat einen Namen erhalten: «HeiQ Oilgard OAX». Seine Fähigkeiten wurden für die geplante Anwendung optimiert. Bereits kann man täglich bis zu fünf Tonnen der Substanz herstellen. In Emsdetten ist man bereit, Vliese kilometerweise zu imprägnieren und in die USA zu liefern. «Wir warten im Moment auf grünes Licht des BP-Konzerns für die ersten Tests an den Stränden», sagt Ingenieur Savi.

Aber auch wenn dieses grüne Licht nicht kommen sollte, will man die Idee weiterverfolgen: Vielleicht dient das Vlies schliesslich den Ölwehren von Gemeinden und Firmen gegen Wasserverschmutzungen. «Wir sind überzeugt, dass es für dieses Produkt eine sinnvolle Anwendung gibt.»

Und was geschieht mit den vollgesogenen Vliesen? Im Moment geht man davon aus, dass sie verbrannt werden. Aber könnte man nicht das Rohöl durch Pressen oder mit einer Chemikalie aus dem Vlies lösen, um es danach wieder einsetzen und das Öl weiterverwenden zu können? In Zurzach gehen den Hightech-Tüftlern die Fragen nicht aus.

 

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Der Gotthardpendler

Aufgewachsen ist Paolo Savi (* 1979) in Pregassona (TI). Hier besucht er die Schule. Das Gymnasium macht er in Lugano. Weil er sich immer für Maschinen und Motoren interessiert hat, geht er anschliessend an die ETH in Zürich, um Maschinenbau-Ingenieur zu studieren. 2005 Abschluss des Studiums mit dem Fokus auf erneuerbaren Energien und Robotik. Danach arbeitet er als Assistent der ETH an seinem Diplomprojekt weiter: einem Reaktor für die Umwandlung von Wasser in Wasserstoff mittels Zinkoxydidation.

Kaum drei, vier Monate später sprechen ihn die beiden Gründer von HeiQ Materials AG an. Sie suchen einen Ingenieur. Savi übernimmt den Aufbau der Produktionsanlagen der neuen Firma und arbeitet heute in Zurzach (AG) als Chief Operating Officer.

Savi ist in keiner Gewerkschaft. Er lebt als Wochenaufenthalter in Kaiserstuhl (AG) und pendelt jedes Wochenende zu seiner Frau, einer Primarlehrerin, und dem gemeinsamen Sohn in Taverne (TI). Die Geburt des zweiten Kinds steht bevor. Seine Hobbies sind Basketball und Mountainbike. Daneben hört er gerne Musik.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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