Noch hundert Tage bis zum Durchstich

In der Umkleidekabine liegt alles bereit: ein oranger Overall, grüne Gummistiefel, Schutzhelm und Schutzbrille, dazu ein weisses T-Shirt. «Das wird unten schnell durchgeschwitzt sein», sagt Raymund Decasper. Er ist auf der Baustelle des Neat-«Zwischenangriffs» Sedrun Chef für Operative Sicherheit und begleitet das Reportage-Team von «Work» in den Berg.

Ein Teil des Installationsplatzes hier im Talgrund ist überdacht und heisst «Staziun Alpina». Ein Umsteigebahnhof für die Arbeiter. Vom Dorf herunter kommen sie mit einer Standseilbahn. Hier steht auf Schmalspurschienen die Stollenbahn bereit. Eine elektronische Anzeige zeigt die nächste Abfahrt an: 10.55 Uhr. Decasper mahnt zum Einsteigen. Es gibt nicht viele Personenfahrten. Vor allem dient die Bahn dem Transport von Gesteinsausbruch und Arbeitsmaterial.

Es wird schwarz und laut, als der niedere Zug südwärts in den Tunnel einbiegt. Umsteigen nach wenigen Minuten. Ein grosser, vergitterter Käfig, das ist der Lift. Weniger als eine Minute braucht er für die Fahrt von 1340 Metern über Meer hinunter ins Röhrensystem des entstehenden Gotthard-Basistunnels auf 500 Meter. Von unten herauf warmer Fahrtwind und in den Ohren zunehmender Druck, den man im Dunkeln weggähnt.

An der Stollenbrust

Der Lift führt in die kathedralenhohe «Multifunktionstelle»: Materiallager auf hohen Stelzen, schweres Gerät, irgendwo erhöht ein Standbild der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute. Umsteigen in eine andere Stollenbahn und weiter südwärts. Im spärlichen Licht sind jetzt an den Wänden die Strom- und Wasserleitungen erkennbar und das Förderband, das ausgebrochenes Gestein zum Lift zurückschafft.

Immer nach 320 Metern zweigt ein Seitenstollen ab in die Weströhre. Diese verläuft knapp fünfzig Meter weiter drüben parallel im Fels. «Querschläge» nennt Decasper diese Abzweigungen. Manchmal durchzieht sie ein Gleis, manchmal sind sie voll parkierter Fahrzeuge, einmal ist eine hellerleuchtete Werkstatt zu erkennen mit einem Deckenkran und hohen Regalen an den Wänden.

Nach einer Viertelstunde ist das Geleise zu Ende. Durch einen Querschlag geht Decasper voran in die Weströhre hinüber. Dort wartet ein schlanker 50jähriger mit listigen Augen und herzlichem Lachen.

Das ist Ferdinand Eibel, Österreicher aus der Steiermark, als Polier des Vortriebs in der zweiten Schicht im Moment der Chef hier. «Auf geht’s», sagt er. Diskutierend geht er mit Decasper über seifigen Boden voran. Zunehmend Pfützen. Einmal füllt ein Metall-Ungetüm den halben Stollen. Das ist der Steinbrecher. Kurz darauf gehen wir durch langsam tiefer werdendes Wasser. Hier endet der Stollen als hell erleuchtete Kaverne an der «Stollenbrust».

Gefasst von einer Art Brunnenröhre fliesst das Bergwasser aus der Wand. «Zurzeit ungefähr 43 Grad warm», sagt Eibel. Je tiefer im Berg, desto wärmer das Wasser. Hier ist man knapp zweieinhalb Kilometer unter dem Piz Vatgira. Eibel konsultiert sein Hygro-Thermometer. «27 Grad, 67 Prozent Luftfeuchtigkeit. Das passt.» Er zieht eine Suva-Tabelle aus der Tasche: Lange Zahlenreihen, ein weisser, ein grüner und ein roter Bereich. Die aktuellen Werte liegen im unbedenklichen weissen. Wird’s zu warm und zu feucht, wird die Arbeit unterbrochen und im Stollen die Kühlung mittels Luft und Wasser verstärkt.

Der Sprengvortrieb

Heute ist es hier vorn ruhig. Nachbauarbeiten sind im Gang. An andern Tagen arbeiten sich die acht Mann von Eibels Team im Sprengvortrieb weiter durch den Berg.

Auf dem Rückmarsch zur Poliersbaracke erzählt Eibel von seiner Arbeit. Vom Bohrjumbo, der rund 125 Löcher in die Stollenbrust bohrt; von den Mineuren, die die Löcher mit elektronischen Zündern und Sprengstoff füllen; davon, wie sich die Arbeiter zurückziehen, wie eine Sirene zuerst fünfmal und dann dreimal warnt – und wie der Sprengmeister schliesslich von einem Querschlag aus die Sprengung zündet. «Im Moment kommen wir pro Sprengung drei Meter dreissig vorwärts.»

Nach einem letzten Sirenenton zur Entwarnung folgt die «Bewetterung» und das «Schuttern»: Staub und Sprenggase werden abgesogen und Frischluft zugeführt. Dann müssen die losgesprengten Felsbrocken weg. Fahrlader bringen sie aus dem vordersten Bereich. Ein Caterpillar transportiert sie zurück zur Brecheranlage. Diese zerkleinert sie zu faustgrossen Steinen und kippt sie auf das Fliessband.

Ist der Ausbruch weggeräumt, werden Stollenprofil und Tunnelbrust mit einem Schremmhammer von lockerem Gestein gesäubert: «Gesteinsplatten wiegen schnell einmal ein paar hundert Kilo», sagt Eibel, «damit ist nicht zu spassen». Schliesslich wird der neu gewonnene Raum mit Spritzbeton und Felsankern gesichert.

Das Ende der Schicht

In der Polierbaracke drehen Kollegen von Eibel das Kalenderblatt gegen die Wand, als wir eintreten. «Damit die Gewerkschaft fotografieren kann.» Tatsächlich zeigt das Blatt nicht die heilige Barbara. Mineralwasser war selten so gut. Das T-Shirt klebt am Rücken.

Kurz darauf, eine halbe Stunde vor Schichtende, betritt Peter Brenner den Raum, Polier der nächsten Schicht. Er setzt sich neben Eibel. Sofort beginnen sie, konzentriert miteinander zu reden. Wo steht man mit den einzelnen Arbeiten genau? Was ist als nächstes zu tun?

Gute Kommunikation schaffe Vertrauen, sagt Eibel, als wir danach in die Oströhre hinübergehen: «Wenn weder Hektik noch Nervosität aufkommen und jeder so arbeiten kann, wie er’s wirklich kann, dann nützt das auch der Sicherheit am meisten.» Am wichtigsten sei die Stimmung in der Truppe. «Wir sind eine Familie. Wir müssen zusammenarbeiten, dann ist die Arbeit weniger schwer.»

Es ist punkt 14.00 Uhr, als sich die Stollenbahn in Bewegung setzt. Ab und zu steigen unterwegs, in kleinen Gruppen oder einzeln, Arbeiter zu. Eine kollegiale Begrüssung, ein Scherzwort. Wenn die Fahrt weitergeht, sinken die Köpfe schnell vornüber: Eine Schicht hier unten bedeutet acht Stunden Schwerarbeit in quasi-tropischem Klima.

Wie Gewehrschüsse knallen die Räder in den Weichen, als die Bahn in die Multifunktionsstelle einfährt. Jetzt sind wieder alle hellwach und eilen zum Lift hinüber.

 

[Kasten]

Der längste Tunnel der Welt

57 Kilometer lang wird der Gotthard-Basistunnel. Er führt von Erstfeld (UR) nach Faido (TI). Zwischen Erstfeld und dem «Zwischenangriff» Sedrun (GR) ist der Ausbruch der beiden Tunnelröhren fertig. Zwischen Sedrun und Faido fehlen noch knapp drei Kilometer. Lasergesteuert arbeitet man sich von Norden her im Sprengvortrieb, von Süden her mit einer Tunnelbohrmaschine vorwärts. Der Durchstich des längsten Tunnels der Welt ist für den 15. Oktober vorgesehen. Das Schweizer Fernsehen plant die Liveübertragung der Durchstichsfeier. Für die beiden zusammenstossenden Tunnelprofile rechnen die Fachleute mit maximalen Abweichung von zwei bis drei Zentimetern. Ab 2017 sollen die Züge durch den neuen Gotthardtunnel fahren.

 

Die Druckversion hat drei weitere Kästen gebracht, die ich hier dokumentiere. Weil ich davon keine Word-Dateien im Archiv habe, gehe ich davon aus, dass ich die Kästen nicht selber formuliert habe. Weil in einem Kasten ein weiteres Zitat von Eibel dokumentiert wird, das aus der vorliegenden integralen Transkription des Gesprächs mit Eibel stammt, muss ich daran mitgearbeitet haben.

 

Fitness und Freizeit

Gesundheit

Grossen Wert legen die Arbeitsgemeinschaft Transco, Implenia und Unia auf die Ernährung der Tunnelarbeiter. 2007 starteten sie ein gemeinsames Pilotprojekt und beauftragten das Zentrum AEH für Arbeitsmedizin, Ergonomie und Hygiene mit einem Konzept. Kürzlich zogen die Verantwortlichen eine positive Bilanz: Wohlbefinden und Gesundheit der Tunnelbauer konnten dank ausgewogener Ernährung verbessert werden. Die langjährige Kantinenbetreiberin Lentini SA richtete ihr Angebot auf mediterrane Küche aus. Messungen von Blutdruck und Cholesterin ergaben ein positives Bild, der Body-Mass-index lag im grünen Bereich. In ihrer Freizeit treiben die meisten Tunnelbauer Sport: Skifahren im Winter, Schwimmen, Wandern und Velofahren im Sommer. Sie wohnen in der Containersiedlung bei der Baustelle, in externen Zimmern oder in Ferienwohnungen vor Ort.

Tunnel und Tod

Gefahr

Die Arbeit im Tunnel ist gefährlich: 7 Personen starben seit Baubeginn bei Unfällen [der Bau forderte schliesslich 9 Tote, siehe hier]. Bei früheren Bauwerken waren es viel mehr: 177 Tote gab es beim Bau des Gotthardtunnels (1872-1880), 67 beim Bau des Simplontunnels (1898-1921). Hunderte Arbeiter starben früher an Staublunge und anderen Krankheiten. Die Sicherheit wurde laufend verbessert. Für jeden Bauabschnitt gibt es Sicherheitsingenieure. Sie sind zusammen mit der Suva und den Unternehmen für Massnahmen und Abläufe zuständig. Mineure müssen immer wieder Schulungskurse absolvieren. Die meisten Toten im Untertagbau sind heute auf Verkehrsunfälle zurückzuführen. Enorme Hitze, Staub, Lärm, enge Verhältnisse und grosse Distanzen vom und zum Arbeitsplatz im Stollen erschweren die Arbeit.

Lohn und Leistung

Gehalt

Auf den Baustellen Gotthard und Ceneri arbeiten derzeit rund 2200 Personen. Es sind vorwiegend Schweizer, Deutsche, Österreicher und Italiener. Sie arbeiten im Vierschicht-Dauerbetrieb: Zehn Tage Arbeit, vier Tage frei. Dann reisen sie zu Familie oder Freundin. Ein gelernter Baufacharbeiter ohne Erfahrung verdient gemäss Branchen-GAV mindestens 5300 Franken brutto. Hinzu kommen Zuölagen für Untertags-, Nacht- und Sonntagsarbeit. Die Zulagen können einen Drittel des Grundlohns oder mehr ausmachen. Polier Ferdinand Eibel sagt es so: «Der Lohn passt. Aber man muss viel einstecken. Man muss viel Leistung bringen. Es gibt Jobs, bei denen man das Geld leichter verdient.»

Der Durchstich erfolgte pünktlich am 15. Oktober 2010. Der Regel-Zugbetrieb wurde am 11. Dezember 2016 aufgenommen. – Ich habe über diesen Besuch auf der unterirdischen Baustelle vom 25. Mai 2010 noch einen zweiten Text verfasst, der im Herbst 2010 unter dem Titel«Arbeitsalltag in der Unterwelt» im Buch «TunnelWerk» erschienen ist.

An der Stollenbrust habe ich damals einen kleinen grünen Granitstein aufgehoben. Ich halte ihn seither auf einem Tablar meines Büchergestells in Ehren. [fl., 2.5.2017]

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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